Wenn ich Ihnen vorab das Versprechen gäbe, in diesem Text das größte Geheimnis meines Lebens zu offenbaren, wären Sie dann nicht motiviert, bis wenigstens zu jener Passage weiterzulesen, in der ich es einlöse? Und würde ich hier eine Biografie bewerben mit intimsten Geheimnissen einer jener – vermeintlich oder tatsächlich – bedeutenden Personen der Zeitgeschichte, vielleicht sogar einer mit Dauerabonnement auf die Titelseiten von Boulevardmedien, auf denen in aller Regelmäßigkeit Unglaublichkeiten, Geheimnisse oder pikante Details aus deren Leben angekündigt werden, würden Sie dann zugreifen?
Ehrlicherweise müssten hier viele mit „Ja!“ antworten. Andernfalls hätten derlei zahlreiche Kaufanreize keine Konjunktur – in Boulevardmedien nicht und auch nicht im Snack Content auf Tiktok, Instagram und Co., auf denen Influencer und Stars ein öffentliches Leben in kleinen Häppchen an „großartigen“, „rührenden“, „ungeplanten“ oder „peinlichen“ Momenten durchchoreografieren, das dann einem ergebenen Publikum als „exklusives Wissen“ regelrecht verkauft wird – der Cliffhanger „mehr im nächsten Beitrag“ inklusive.
Die Flucht ins Leben der Anderen
Die Leben der Anderen interessieren uns. Das zeigt sich auf Wikipedia, die mittlerweile knapp eine Million deutschsprachige „Biografien“ zählt – 32,4 Prozent aller Seiten der deutschsprachigen Online-Enzyklopädie. Und auch im Buchhandel schlägt sich das nieder: Rund 1.500 Biografien und Autobiografien werden jährlich veröffentlicht – allein in Deutschland.
Diese hätten in den vergangenen Jahren den Buchmarkt „überschwemmt“, schreibt ein renommierter Literatursoziologe, was „zu einer Art Massenklatsch geführt“ habe. Es gebe ein „soziales Bedürfnis, das in dieser Literaturgattung Befriedigung sucht. Für den kleinen Mann auf der Straße bedeutet es einen Trost, wenn seine Helden ein Haufen netter Kerle sind, die Zigaretten, Tomatensaft, Golf und Partys mögen oder nicht mögen – wie er selber. Er nimmt an den Sorgen und Freuden der Großen teil und wird in seinen eigenen Sorgen bestätigt. Die großen und verwirrenden Probleme der Politik und Wirtschaft treten für ihn hinter diesem Erlebnis zurück.“ Die Kritik stammt aus dem Jahr 1944. Der Autor, der solche Biografien als Vehikel zur Gegenwartsflucht kritisiert, ist der Literatursoziologe Leo Löwenthal (1900–1993), einer der Mitbegründer der Frankfurter Schule.
Die Helden einer Ära
Löwenthal hatte Kurzbiografien untersucht, die in zwei US-Publikationen, Collier’s und The Saturday Evening Post, zwischen 1901 und 1941 veröffentlicht worden waren. Sein Ergebnis: Waren vormals vorwiegend Menschen mit hart erkämpften Lebenserfolgen porträtiert worden, Politiker und Wirtschaftsikonen, hatte sich die Heldenauswahl verlagert auf „Idole des Konsums“: Hollywoodstars oder Sportler. Mit seiner Analyse zeigt er, dass die Helden einer Ära das vorherrschende Wirtschaftsregime widerspiegeln.
Brooke Erin Duffy und Jefferson Pooley haben 2016/17 in einer ähnlichen Studie, in der sie neben Magazinen (Time und People) auch TV-Formate (The Ellen DeGeneres Show und Jimmy Kimmel Live) und Social Media (Instagram und Twitter) untersuchten, festgestellt, dass der Anteil der Helden aus dem Konsumbereich erneut deutlich gestiegen war. Hatte sich bis 1941 die Zahl der „Helden“ aus der im weitesten Sinne Unterhaltungsbranche auf 55 Prozent mehr als verdoppelt, stammten im Jahr 2016/17 rund 92 Prozent aus diesem Bereich. Politiker (16 Prozent – und das im US-Wahljahr, in anderen Jahren wäre die Zahl sicherlich geringer ausgefallen!) und Wirtschaftsführer (5 Prozent) spielten nur noch in den sozialen Medien eine nennenswerte Rolle.
Mit der genannten Kritik reihte sich Leo Löwenthal ein in eine große Zahl kritischer Zeitgenossen, denen es um die Problematisierung verschiedenster Aspekte des biografischen Schreibens ging: um die Frage, wer überhaupt und wie in einer Biografie darzustellen sei, nach welchen Kriterien dies zu geschehen habe, und wann man überhaupt von einer – seriösen oder wissenschaftlichen – Biografie sprechen könne, die einen Anspruch auf Wahrheit habe (und was in diesem Zusammenhang überhaupt „Wahrheit“ heißen dürfe).
Die Debatte über diese Fragen hatte Anfang des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen und war zunehmend von theoretischen Überlegungen geprägt, zu einer Zeit, da die Entstehung der ersten „Biografien“, Lebensbeschreibungen von bedeutenden Persönlichkeiten im antiken Griechenland oder Rom weit über 2.000 Jahre zurückreicht. Werke, die sehr stark auf Ereignisse fixiert waren und in ihrer Zeit vielfach mit einem Ziel verfasst wurden: der Verherrlichung oder Legitimation eines Menschen oder der Präsentation von moralischen und politischen Vorbildern – auch negativen. Derart als Vorbilder biografiert wurden schließlich mit dem Aufkommen des Christentums weniger weltliche Herrscher, sondern eher religiöse Figuren, insbesondere Heilige. Die Form der Biografie als Hagiografie stellte die Heiligkeit und Tugenden der porträtierten Personen in den Mittelpunkt.
Die Prominentenbiografie
Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat gezeigt, dass Hagiografien, „Heiligenviten“ oder „Heiligenlegenden“ des Mittelalters und Biografien von Fußballern – nach Löwenthal die Idole des Konsums – ähnliche „textstrategische Überlegungen“ teilen: Sie stellen ihre Protagonisten als außergewöhnliche Figuren dar und heben so deren Bedeutung für die Gemeinschaft hervor. Beide betonen übermenschliche Fähigkeiten – göttliche oder profane Wunder – und stellen deren Leidens- und Erlösungsgeschichten dar: Heilige wie Fußballer überwinden Hindernisse und werden zu Symbolfiguren. Die Erzählung von „Wundern“ – bei Heiligen göttlich, bei Fußballern außergewöhnliche Leistungen – trägt zur Mythenbildung bei, lädt zur Nachahmung eines tugendhaften Lebens ein und bedient kollektive Sehnsüchte nach Vorbildern und Sinn oder sinnstiftenden Erzählungen. Nach Löwenthal eine nach wie vor weit verbreitete Form der Prominentenbiografie.
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auseinandersetzung darüber, was eine gute Biografie ausmacht, die den Kriterien von Wissenschaftlichkeit, Authentizität und vermeintlicher Wahrheit verpflichtet ist, in Gang kommt, bemüht sich der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) um eine Gattungsbestimmung. Gegen Ende seines Lebens, als er schon auf eine Vielzahl von im 19. Jahrhundert erschienenen kritikwürdigen Biografien zurückblickt, fragt er in seinem Hauptwerk „Der Aufbau der geschichtlichen Welt“, wie eine „Biografie als allgemeingültige Lösung einer wissenschaftlichen Aufgabe möglich“ sei, die er als Methode versteht, die geschichtliche Welt und das menschliche Leben zu verstehen. Für Dilthey konnte die Biografie eine Brücke zwischen der subjektiven Erfahrung eines Einzelnen und den objektiven Strukturen der Geschichte schlagen, indem sie die Auswirkungen individueller Lebensumstände auf größere historische Zusammenhänge beleuchtet.
Mit seiner Theorie der Biografie fächert Dilthey gleich einen ganzen Strauß von Problemen auf, die die Auseinandersetzung über das Genre Biografie nachhaltig geprägt haben und die im 20. Jahrhundert diskutiert wurden: dass nämlich der Biograf immer seine subjektive Perspektive mit einbringt und daher nie ganz objektiv sein kann, zumal wenn die Quellenlage fragmentarisch ist. Wo er eine Figur in den Mittelpunkt stellt und damit ihre subjektive Welt übernimmt, muss er gleichzeitig auch die objektiven historischen und sozialen Umstände einbeziehen. Doch nicht nur die Vermittlung zwischen subjektiver Perspektive des Helden und objektiver Analyse bleibt bis heute eine Herausforderung für den Biografen. „Der historische Mensch“, davon war Dilthey überzeugt, „an dessen Dasein dauernde Wirkungen geknüpft sind, ist in einem höheren Sinne würdig, in der Biografie als Kunstwerk fortzuleben.“
Die Wahrheit und die Persönlichkeit
Probleme, zu denen sich später auch Virginia Woolf geäußert hat, die nicht nur die Konventionen traditioneller Biografien kritisierte, die ein lineares, kohärentes oder idealisiertes Bild der Biografierten zu konstruieren suchten. Zum Verhältnis von Subjektivität der biografierten Person und den historischen Fakten schreibt sie 1926: „Auf der einen Seite gibt es die Wahrheit, auf der anderen die Persönlichkeit. Und wenn wir uns die Wahrheit als etwas von granitener Festigkeit und die Persönlichkeit als etwas von regenbogenartiger Ungreifbarkeit vorstellen und darüber nachdenken, dass es das Ziel der Biografie ist, diese beiden zu einem nahtlosen Ganzen zu verschmelzen, dann müssen wir zugeben, dass das ein schwieriges Problem ist und dass wir uns nicht zu wundern brauchen, wenn die Biografen an der Lösung größtenteils gescheitert sind.“
Zwei von Woolf verfasste Biografien könnte man gar als Repliken auf Dilthey lesen, der in der Biografie einen Lebenszusammenhang dargestellt wissen will und dessen Biografiewürdigkeit vor allem „großer“ Menschen Woolf für eine Provokation hielt. „Ich denke, ich sollte dies als eine biografische Farce schreiben“, formuliert sie in einem Brief über das Werk „Orlando“, in dem sie – in Form einer Biografie – das 350-jährige Leben eines schönen Jünglings schildert, der den Kontakt zu einfachen Menschen bevorzugt und sich zu einer Frau entwickelt – wo doch Frauen ihrer Zeit in aller Regel nicht zu den historisch bedeutenden Persönlichkeiten gehörten. 1933 erscheint ihre biografische Parodie „Flush“, in dem sie das Leben des gleichnamigen Hundes der Schriftstellerin Elisabeth Barrett Brownings beschreibt, dem in Pisa gewahr wird, dass er „der einzige Aristokrat inmitten der canaille“ bzw. der einzige reinrassige Cocker Spaniel der Stadt ist.
Doch bei aller Ironisierung von Virginia Woolf: Die Herausforderungen für die Biografieforschung und die Kunst des Schreibens von Biografien werden bleiben. Die subjektive Perspektive beim Schreiben ist letztlich niemals völlig zu überwinden, der Zugriff auf das Innenleben der Person, die porträtiert wird, kann bestenfalls – oder aber im besten Sinne – geschlossen werden, die Faktenlage wird umso dünner, je länger das beschriebene Leben zurückliegt. Was ist dann eine „gute Biografie“, die es schafft, auf Dichtung, Stereotype und Vorurteile zu verzichten und wie ist die Frage von Wilhelm Dilthey „Ist Biografie möglich?“ zu beantworten?
„Der Mensch in seiner Zeit“
„Sie ist möglich!“, sagt Reiner Stach (*1951), Autor einer der umfassendsten und profundesten Darstellungen des Lebens und Werkes von Franz Kafka, im Interview mit Arsprototo: „Eine gute Biografie ist die Präsentation eines Menschen in seiner Zeit. Wie er aus seiner Zeit hervorgegangen ist und wie er auf seine Zeit reagiert hat. Das muss eine Biografie enthalten. Wenn Sie über einen Künstler schreiben, kommt noch eine Dimension hinzu: Sie müssen den kreativen Akt mit hineinnehmen. Sie müssen beschreiben, wie es dazu kam und wie diese Person künstlerisch, ästhetisch, literarisch reagiert hat auf ihre Zeit, welche Vorbilder sie hatte. Wer eine Kafka-Biografie liest, will ja nicht nur wissen, wie das Leben in einer jüdischen Familie war, sondern der will auch wissen: Wie kommt jemand auf solche Ideen wie Kafka?“
„Faktenbasierte Empathie“
Für Stach sind die Zutaten für eine gute Biografie neben gründlicher Recherche, akkuraten Quellen und interdisziplinärem Wissen eine Empathie für die beschriebene Person, die aber auf Fakten basiert sein muss. Fiktionale Ausschmückungen lehnt er ab. In seiner Arbeit nutze er zwar „romanhafte Erzähltechniken“, dies jedoch nur, wenn die Informationslage das hergebe. Andernfalls zöge er es vor, Lücken offen anzusprechen. Fast 20 Jahre lang hat der Literaturwissenschaftler für die Kafka-Biografie intensiv recherchiert und dabei auf zahlreiche Quellen zurückgegriffen, darunter auch zuvor unzugängliche Briefe, Tagebücher und andere Primärdokumente, und sich dabei ebenso intensiv mit Biografiewissenschaft beschäftigt.
Für ihn ist eine gute Biografie „die interdisziplinäre Form schlechthin“, sie erfordere Kenntnisse in verschiedenen Bereichen wie Literaturwissenschaft, Geschichte und Psychologie. Die Kunst besteht für ihn darin, diese Disziplinen in einem einheitlichen Erzählton zu vereinen, der dem Leser Konsistenz bietet. Dieser interdisziplinäre Ansatz bedeutet für ihn, sogar innerhalb einer Disziplin, beispielsweise der Psychologe, die richtige Begrifflichkeit zu suchen, um ein Charakterbild von Kafka zu zeichnen: „Es hilft ja nichts zu sagen: Ja, Kafka war eben zwangsneurotisch oder so – das ist ja viel zu wenig, das sind ja nur Etiketten. Da hab’ ich mir überlegt, ich müsste es so erzählen, dass dem Leser deutlich wird: Es sind ja mehrere Perspektiven möglich, nicht nur die psychoanalytische, es gibt auch noch ganz andere Erkläransätze. Zum Beispiel die Bindungstheorie, die etwa ab 1940 entstand, und die sich mit dem beschäftigt, was das Kleinkind bis zum Alter von zwei, drei Jahren erlebt. Da ist die Psychoanalyse nicht sehr gut aufgestellt, was diese ganz frühe Zeit, die vorödipale Zeit betrifft.“
Die gute Biografie
Es gibt sie also, die „gute Biografie“, die, so Stach, „beim Leser den Erkenntnisprozess anstößt und es ihm dann überlässt, wie er diese oder jene Figur sehen will“, anders als die mittelalterlichen – oder gegenwärtig als Biografie auf den Markt gebrachten – Hagiografien. Doch auch „gute Biografien“, so räumt Reiner Stach ein, haben eine Halbwertszeit, gerade angesichts der sich permanent erweiternden Methodenvielfalt: „Eine Biografie muss nach der Entwicklung der Psychoanalyse anders aussehen als vorher.“ Beispiele dafür, wie Perspektivwechsel oder neue Methoden zu neuen Fragestellungen führen oder führen können, finden sich in dieser Ausgabe von Arsprototo:
Wie eine Sicht auf ein Leben sich mit der Fragestellung verändert, die an es gestellt wird, zeigt sich an der veränderten Wahrnehmung von Annette von Droste-Hülshoff. Ihr Werk und dessen Interpretation waren lange Zeit von idealisierten und ideologischen Vorstellungen geprägt. Zu Lebzeiten wenig beachtet, auch weil der Öffentlichkeit nur ein Teil ihrer Texte vorlag, wurde ihr nach ihrem Tod oft das Etikett der zurückgezogenen und konservativen Dichterin des westfälischen Katholizismus angedichtet, eine Sicht, die bis in die Forschung der 1950er-Jahre anhielt.
Viele Zeitgenossen empfanden ihre Werke als sperrig und schwer einzuordnen, was zu schwankenden Einschätzungen führte – von regionaler Bedeutung bis hin zur Weltliteratur. Heute wird ihr Werk unter kulturwissenschaftlichen und kritischen Gesichtspunkten neu betrachtet. Im Fokus stehen dabei Anzeichen gesellschaftlicher Umbrüche sowie der Einfluss von Revolution und Restauration, die sich in ihrer Poesie und in ihren Briefen widerspiegeln. Besonders beachtenswert ist ihr Talent, innerhalb des aristokratischen Konservatismus eine moderne, selbstreflektierende Dichtung zu schaffen – und das ohne Unterstützung von intellektuellen Netzwerken, die weibliche Schriftsteller förderten.
Auch über die sechsjährige Begegnung von Clemens Brentano und Anna Katharina Emmerick, über die Brentano berichtet hat, wird sicherlich weiterhin geforscht und gerätselt werden, schließlich hatte Brentano zu seinen Aufzeichnungen später eigenes hinzugefügt. Das Beispiel zeigt, wie Biografieforschung Quellen auf ihre Authentizität hin überprüfen muss: Wer hat sie geschrieben? Warum? Gibt es Hinweise auf spätere Überarbeitungen? Vielleicht werden Methoden der digitalen Textanalyse künftig dazu beitragen, Brentanos Wortwahl und Stil von möglicherweise authentischen Aufzeichnungen zu unterscheiden.
Nicht zuletzt steht die Beschäftigung mit der Biografie von Emilie Fontane für die Tendenz in der biografischen Wissenschaft, sich verstärkt mit den Lebensgeschichten von unterrepräsentierten oder marginalisierten Gruppen zu beschäftigen, um vielfältige und vergessene Perspektiven sichtbar und fruchtbar zu machen für ein wahrhaftigeres, passenderes, umfassenderes, differenzierteres, richtigeres Bild von Geschichte. Solange Emilie Fontane lediglich als die „Frau an der Seite“ ihres berühmten Mannes wahrgenommen wurde, konnte ihre Biografie nicht zum Verständnis von beispielsweise der tragenden Rolle von Frauen in der Familie oder weibliche Arbeit als selten beachtete Ermöglichungsbedingung männlicher Schriftstellertätigkeit genutzt werden.
Gute Biografien ermöglichen neben der Wahrnehmung auch die Würdigung von unterrepräsentierten oder marginalisierten Gruppen und deren Sicht auf die Welt. Dass sie unterhalten, inspirieren oder Teilhabe an Empfindungen und zuvor ungekannten Perspektiven ermöglichen, mag ein Grund sein, warum wir uns mit ihnen befassen.
Die Neugier auf Andere
Woher aber kommt diese unsere Neugier auf das Leben anderer Menschen, deren Beschreibung Konsumenten von biografischen Schnipseln, aber auch im Buchhandel offenbar sehr erfolgreich verkauft wird? Und was ist der qualitative Unterschied solcher Angebote zu guten Biografien?
Dazu sagt Reiner Stach: „Es ist dem Menschen, weil er ein soziales Wesen ist, eigen, Interesse an anderen Menschen zu haben. Die Neugier in ein fremdes Leben hineinschauen zu können, die ist bei mir natürlich auch vorhanden und bei vielen Lesern von Biografien ist das natürlich ein beherrschendes Motiv, auch in dessen Intimsphäre hineinschauen zu können. Aber: Wenn ich Yellow Press lese, dann bringt es mir weniger, jeden Tag Artikel über das spanische Königshaus zu lesen, weil die wirklich entscheidenden Dinge, die über dieses Königshaus zu sagen wären, die stehen da ja nicht drin. Da wird häufig nur eine private Neugierde mit Liebesgeschichten und Krankheiten und ähnlichem bedient, möglicherweise gar nicht faktenbasiert, sondern aufgrund irgendwelcher Projektionen. Aber es berührt sich an einem gewissen Punkt und die Neugier auf andere Menschen ist gerechtfertigt, solange ich dem Menschen gerecht werde und das nicht ausbeuterisch wird. Ein zweiter Unterschied ist natürlich der, dass ich mir interessantere Leute aussuche.“
Sollten Sie – in Erwartung der eingangs erwogenen Offenbarung großer Geheimnisse aus dem Leben des Autors oder – vermeintlicher Prominenter – bis hierhin weitergelesen haben, müssen Sie leider enttäuscht werden. Vielleicht haben Sie es ja schon geahnt. Weit lohnender ist es, die Neugier auf wirklich interessante, faszinierende Leben zu richten, solche wie die von Rachel Ruysch, Sheila Hicks, Victor Wallerstein oder die der vielen Künstlerinnen, die in der Ausstellung zur Neuen Sachlichkeit in der Kunsthalle Mannheim im Jahr 1925 gefehlt haben. Das Versprechen kann an dieser Stelle gegeben werden.