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EDITORIAL

Orientierung

Prof. Dr. Markus Hilgert, Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder und Herausgeber von Arsprototo, stellt Ihnen das neue Heft vor

Liebe Leserinnen und Leser,

Etwa 70 Prozent der Menschen in Deutschland halten den Staat für überfordert. Dies zeigt eine kürzlich veröffentlichte Umfrage, die der Deutsche Beamtenbund in Auftrag gegeben hat. Als gäbe es nicht schon genug Dinge, die uns in diesen Wochen Angsteinjagen! Denn die Unzufriedenheit mit der Leistungsfähigkeit unseres Staats wirkt sich natürlich auch auf die Akzeptanz des freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsentwurfs aus, für den dieser Staat steht.

Wohin sich diejenigen wenden, die der Liberalismus enttäuscht hat, kann man derzeit in vielen Staaten Europas ebenso wie in den Vereinigten Staaten von Amerika erleben: Es sind einfache Erzählungen, kompromisslose Abgrenzungen und trügerische Heilsversprechen, die hoch im Kurs stehen. Sie leugnen die Unübersichtlichkeit und Vielschichtigkeit unserer Wirklichkeitserfahrung und locken mit dem süßen Gift der Ideologie. Sie wollen uns glauben machen, dass ein Leben in Freiheit auch dann noch möglich ist, wenn wir möglichst viel von unserer Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger abgeben. Dies ist wohl die größte und gefährlichste Lüge von allen. Denn erst durch die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, Verantwortung zu übernehmen, wird Freiheit von einem abstrakten Begriff zu einem Handlungsraum für persönliche und gesellschaftliche Entwicklung. Anders formuliert: Wer Verantwortung delegiert, beschneidet die eigene Freiheit und wird vom gestaltenden Individuum zum Opfer.

Woher aber beziehen wir unsere Motivation, die Verantwortung für unser Leben auszuschöpfen? Für mich selbst waren es immer Geschichten über die Verwirklichung menschlicher Potenziale, gerade auch unter widrigsten Bedingungen, an denen ich mich orientiert habe, die mir Demut einflößten und dadurch Zuversicht gaben; Geschichten von Menschen, die eben deswegen nicht an den Hindernissen auf ihrem Weg scheiterten, weil sie immer wieder Verantwortung für die einzelnen Etappen ihres Lebensweges übernommen haben und damit den Grad der Selbstbestimmtheit erreichten, den ich mit Freiheit gleichsetze. Bei den „Lebenslinien“, die in dieser Ausgabe von Arsprototo nachgezeichnet werden, handelt es sich um solche Geschichten. Dabei ist es leider kein Zufall, dass es immer wieder Geschichten von Frauen sind, die ihre Selbstbestimmtheit und Kreativität gegen gesellschaftliche Konventionen, Ausgrenzung und Hass verteidigen mussten. Schon lange wollten wir Ihnen diese Geschichten erzählen. Vielleicht finden ja auch Sie darin Orientierung und Halt.

Ihr Markus Hilgert

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