Ein Feuerwerk der Blütenpracht, arrangiert als üppiges Blumenbouquet in einer Glasvase mit verschiedenfarbigen Tulpen, Rosen, Mohn- und Irisblüten, Hortensien, einer blauen Winde, Weizenähren und einer Vielzahl an weiteren Blumenarten. In der Fülle des Straußes tummeln sich zudem unzählige Insekten: Ameisen, verschiedenste Raupen-, Fliegen- und Käferarten, Schnecken, Bienen, Schmetterlinge wie eine versteckte Eidechse und eine prominent platzierte Gottesanbeterin (Stagmatopterinae) erfreuen sich des Überflusses. Das fast einen Meter hohe Gemälde beeindruckt durch seine schiere Menge an beinahe überlebensgroßen Blüten und Insekten, die in allen Farben leuchten. Bis ins letzte Detail hat die Künstlerin Rachel Ruysch (1664–1750) den Münchener „Blumenstrauß“ von 1708 durchkomponiert und zeigt damit ihr ganzes Können und ihre Leidenschaft. Mit einer erstaunlichen Präzision widmet sie sich der Ausführung der allerkleinsten Lebewesen, den Ameisen, die geschäftig auf den Blüten herumkrabbeln, den zartesten Blüten und Blättern genauso wie derjenigen der großen prominenten Blüten. Sie demonstriert mit ihrem Pinsel eine unglaubliche Vielzahl an unterschiedlichen Texturen und Beschaffenheiten der Oberflächen der Blüten, Blätter und Tiere. Diese genaue Beobachtungsgabe, Detailverliebtheit und ihr malerisches Umsetzungsvermögen machten ihre Gemälde früh bei ihren Auftraggebern beliebt. Unter den Sammlern waren ihre täuschend echt wirkenden Blumenstillleben stark nachgefragt und erzielten hohe Preise.
Nur wenige Frauen schafften es im 17. Jahrhundert in den Niederlanden in der damals von Männern dominierten Kunstwelt in diesem Metier professionell Fuß zu fassen. Die Ausbildung von Mädchen der Mittelschicht umfasste in diesen Zeiten neben der Vermittlung von Grundkenntnissen im Lesen und Schreiben vornehmlich die Unterweisung in Hausarbeiten durch die Mutter zur Vorbereitung auf die Ehe. In der Regel bedeutete der Start in die Ehe die Aufgabe des eigenen Berufs und die Unterordnung unter den Ehemann in der Rolle der Hausfrau und Mutter. In manchen Fällen konnte die Frau in der Werkstatt des Mannes im Anschluss unterstützend mitarbeiten, doch oftmals standen nun Kinder und Familie im Vordergrund. Wie also gelang es Rachel Ruysch, verheiratet mit dem Porträtmaler Juriaen Pool (1666–1745) und Mutter von zehn Kindern, eine hoch spezialisierte und wahrhaft erfolgreiche Künstlerin zu werden und vor allem zu bleiben, deren Werke bei Sammlern bereits zu Lebenszeit hoch angesehen waren? Welche Voraussetzungen, Möglichkeiten und Unterstützung boten sich ihr langfristig – möglicherweise im Vergleich zu ihrer jüngeren Schwester Anna (1666–1754), die zunächst den gleichen künstlerischen Weg einschlug, dann aber nach ihrer Hochzeit offenbar davon abließ? Welche Herausforderungen hatte sie beruflich wie privat zu meistern? Wie hat sie sich gegenüber ihren etablierten männlichen Kollegen behaupten, sie sogar übertreffen können? Was faszinierte ihre Kunden derart an den Bildern, dass sie bereit waren, lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen und zudem Höchstpreise zu zahlen? Genau diesen Fragen möchte die Alte Pinakothek in München auf den Grund gehen und widmet der außergewöhnlichen Malerin erstmals eine umfassende Retrospektive mit rund 80 Gemälden und einer Vielzahl von Grafiken sowie botanischen und zoologischen Präparaten.
Eine Schlüsselrolle für Ruyschs künstlerischen Werdegang kommt ihrem familiären Umfeld zu. 1664 in Den Haag geboren, zog Rachel mit ihrer Familie bereits als kleines Mädchen nach Amsterdam, wo sie in einem sozialen Milieu aufwuchs, das von Kunstsinnigkeit, Wissenschaft und Wissensdrang geprägt war. Als älteste von zwei Töchtern des angesehenen Anatomen und Botanikers Frederik Ruysch (1638–1731) und der Architektentochter Maria Post (1643–1720) waren ihr die Feinmalerei und die spezielle Begeisterung für Natur und Tiere sozusagen in die Wiege gelegt. Die Familie ihrer Mutter war künstlerisch tätig und vielseitig mit dem Hof der Oranier in Den Haag verbunden. Ihr Großvater war der berühmte Architekt Pieter Post (1608–1669), der unter anderem zwischen 1645 und 1650 die königliche Residenz Huis ten Bosch in Den Haag entworfen hatte. Ihr Großonkel Frans Post (1612–1680) begleitete als Landschaftsmaler das Expeditionsteam um Johann Moritz von Nassau-Siegen nach Brasilien (1636–1644) zu Dokumentationszwecken. Ihr Vater lehrte als Professor im Athenaeum Illustre, einer privaten Institution und Vorläuferin der Universität, und saß als Direktor dem berühmten Botanischen Garten in Amsterdam vor. Privat hatte sich Frederik Ruysch eine große, weit über die Handelsstadt hinaus bekannte Kuriositätensammlung angelegt, die er zwei Mal die Woche dem interessierten Publikum teils von fernher öffnete und die unter seinen Zeitgenossen als „achtes Weltwunder“ galt. Der Naturwissenschaftler fertigte selbst Zeichnungen seiner Sammlungsobjekte als Illustrationen seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen an. Es erstaunt also kaum, dass Rachel bereits in sehr jungen Jahren eine natürliche Neigung zum Zeichnen und Malen erkennen ließ, wie Johan van Gool (1685–1763) in seiner biografischen Beschreibung im Jahr 1750 bemerkt. Ihre Familie erkannte die Begabung frühzeitig und ermöglichte Rachel mit 15 Jahren die Malerlehre bei dem renommierten Stilllebenmaler Willem van Aelst (1627–1683), einem Freund und Kollegen des bereits verstorbenen Malers Otto Marseus van Schrieck (1619/20–1678). In ihren frühen Bildern orientierte sich die Schülerin in ihren Motiven und Kompositionen stark an ihren Vorbildern: an den Waldbodenstillleben von van Schrieck mit Blumenarrangements, Insekten und kleinen Tieren an einem Baumstumpf sowie an den Blumenstücken mit blauem Satinband auf Marmorplatten ihres Lehrers. Laut van Gool übte und studierte Ruysch unermüdlich und nahm die Natur als ihre Lehrmeisterin und Vorbild. Dabei profitierte sie bei ihren Motiven von den vielfältigen naturkundlichen und botanischen Sammlungsobjekten ihres Vaters und dem uneingeschränkten Zugang zum Botanischen Garten. Dank ihrer eigenhändigen Studien und Zeichnungen in situ und einer besonderen Präparationsmethode, die Frederick Ruysch entwickelt hatte, die Blumen und Pflanzen lebendig wirkend, in voller Blüte stehend konservieren konnte, anstatt wie üblich diese pressen und trocknen zu müssen, konnte sie auf ihren Werken Pflanzen und Tiere kombinieren, die in der Natur so niemals gemeinsam in Erscheinung getreten wären. So finden sich exotische Pflanzen und vor allem Tiere, wie beispielsweise der Obrina-Olivenflügel-Schmetterling aus Kolumbien oder der Hypolimnas pandarus-Schmetterling aus Indonesien, auf ihren Werken neben heimischen Schmetterlings- und Falterarten. Ihre Gemälde sind daher weit mehr als einfache Blumenstücke, sie beinhalten ein ganzes Tier- und Blumenuniversum, das die Künstlerin in außergewöhnlich zoologischer und botanischer Präzision abzubilden vermochte. Ihrem Anspruch, die Natur so getreu wie möglich abzubilden, wird Rachel Ruysch meisterhaft gerecht. Um eine möglichst perfekte Illusion zu erzeugen, drückte sie echte Schmetterlingsflügel in die noch nasse Farbe, um das optische Erscheinungsbild so real wie möglich zu imitieren.
Ihre Bilder zeugen einerseits von den neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Präpariermethoden, dem Interesse an den Naturwissenschaften dieser Zeit und von der Bedeutung Amsterdams als Forschungszentrum. Die niederländischen Universitäten hatten sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts rasant entwickelt und vertraten die modernsten und fortschrittlichsten Ideen. Dank ihrer Experimentierfreudigkeit erzielten sie schnell Fortschritte unter anderem auf den Gebieten Botanik, Anatomie und Astronomie – und Familie Ruysch war Teil dieser Entwicklung. Andererseits berichten ihre gemalten exotischen Pflanzen und Tiere von der zentralen Rolle Amsterdams im globalen Handel und Kolonialismus und dem Interesse an der Erweiterung des Wissens um Flora und Fauna vor dem Hintergrund, dass sich die Stadt an der Amstel einen Namen in der zeitgenössischen Gartenkultur gemacht hatte.
Dass die Künstlerin so aktiv an den naturwissenschaftlichen Fortschritten teilhatte, war sicher förderlich für ihren großen Erfolg. 1701 wurde sie gemeinsam mit ihrem Ehemann als erste Frau in die Künstlerbruderschaft Pictura in Den Haag aufgenommen, und ab 1708 war sie als Hofmalerin für Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz (1658–1716) in Düsseldorf tätig, für den ihr Mann bereits seit 1703 arbeitete und mit dem ihr Vater seit Jahren im Kontakt stand. Er gab sämtliche ihrer Werke in Auftrag, kaufte sie und schenkte zwei ihrer Bilder in die Sammlung seines Schwiegervaters Cosimo III. de’ Medici (1642–1723), Großherzog der Toskana. Das Verhältnis der beiden zu ihrem Mäzen war nah und familiär, so übernahm dieser die Patenschaft für den jüngsten Sohn Jan Willem. Im Auftrag fertigte Juriaen Pool ein Familienporträt mit dem Patensohn an, der nach dem Kurfürsten benannt war. Rachel Ruysch malte bis ins hohe Alter. Mit ihren exzeptionellen, arbeits- und materialintensiven und dadurch hochpreisigen Stillleben bediente sie vornehmlich eine Käuferklientel, die aus der aristokratischen Gesellschaft stammte und die mit solchen Luxusobjekten ihren Status demonstrierte. Während sie anfänglich eher mit gleichmäßig ausgeleuchteten Blumen vor sehr dunklem Hintergrund gearbeitet hatte, zeichnet sich ihr reifes Werk durch üppigere, gewagtere und lebendigere Arrangements mit differenzierterem Licht-Schattenspiel aus, indes ihre späteren Arbeiten, neuere Entwicklungen aufnehmend, bunter vor hellerem Hintergrund leuchten. Die außergewöhnlich starke zeitgenössische Verehrung ihrer Person und ihrer Kunst belegt eine einzigartige Gedichtsammlung, die nach ihrem Tod ihr zu Ehren veröffentlicht wurde.
Dass das Interesse an der Künstlerin bereits zu Lebzeiten hierzulande besonders stark war, verdeutlicht die Tatsache, dass sich in Deutschland so viele Werke von Ruysch in öffentlichen Sammlungen befinden wie in keinem anderen Land. Ein großer Teil der Sammlung der Alten Pinakothek geht auf die Sammeltätigkeit der Wittelsbacher, insbesondere der kurpfälzischen Linie und damit explizit auf Kurfürst Johann Wilhelm zurück. Ungeachtet dessen ist ihr Œuvre in seiner Gesamtheit und im größeren Kontext noch nicht eingehend erforscht worden. Dieser Aufgabe hat sich nun ein internationales Forschungsprojekt gewidmet, dessen Ergebnisse in der großen Übersichtsausstellung in München und im Anschluss Übersee in Toledo und Boston vorgestellt werden.
Die Alte Pinakothek in München bestreitet die Retrospektive „Rachel Ruysch Nature into Art“ mit dem eigenen bedeutenden Bestand an Werken der Künstlerin sowie nationalen und internationalen Leihgaben unter anderem aus Dresden, Amsterdam, London und New York. Die Schau zeigt erstmals Werke aus allen Schaffensphasen ihres imposanten Œuvres und befragt sie unter aktuellen Gesichtspunkten neu. Durch die intensiven Forschungen im Vorfeld der Ausstellung sind neue Erkenntnisse zur Person Rachel Ruysch, ihrem Werk und ihren Auftraggebern sowie der Rezeption ihrer Werke bis ins späte 19. Jahrhundert hinein zu erwarten, die im umfassenden Ausstellungskatalog publiziert werden. Die unter anderem von der Kulturstiftung der Länder geförderte Ausstellung ermöglicht endlich die gebührende Würdigung von Leben und Werk dieser außergewöhnlichen nordeuropäischen Barockmalerin.
Rachel Ruysch – Nature into Art
Alte Pinakothek – Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Barer Str. 27, 80333 München
bis 16.3.2025