Aquarell einer lesenden Frau an einer Reling sitzend mit Schirm
LEBENSLINIEN

Die Rückkehrerin

Das Theodor-Fontane-Archiv Potsdam erwirbt Adolph Menzels „Lesende Dame“ / Anna Busch

„Möge, Verehrte Frau, Ihre Enttäuschung beim Anblick des umseitigen nicht so groß sein[,] um Ihnen zur Warnung zu werden, Jemals wieder bei jeweiliger Gelegenheit mit Jemandem ein Vihlipbchen zu essen.“

Mit diesen Zeilen, die auf einen beliebten Brauch des 19. Jahrhunderts um eine verlorene Vielliebchen-Wette verweisen, widmet der Maler Adolph Menzel (1815–1905) Emilie Fontane am 16. März 1872 eine kleine Gouache, die heute unter dem Namen „Lesende Dame“ im Theodor-Fontane-Archiv der Universität Potsdam bewahrt wird. Das kaum postkartengroße Bildnis zeigt eine Dame an der Reling eines Schiffes sitzend, vornübergebeugt, die sich mit einem aufgespannten Schirm gegen den Wind schützt. Sie ist warm gekleidet, hat ein weiß-gelb gemustertes Umschlagtuch mit Fransen umgelegt, trägt einen weiten roten Rock sowie Hut und Handschuhe. Auf dem Schoß hält sie ein dickes, aufgeschlagenes Buch mit rötlichem Einband, in dessen Lektüre sie so vertieft ist, dass sie von der nur angedeuteten Hügellandschaft am Ufer im Hintergrund keine Notiz nimmt. Die durch Schirm und Körperhaltung beschützte, konzentrierte Lektüresituation bildet den eigentlichen Fokus für den Betrachtenden, der hier neben der intimen Situations- auch eine feinteilige Personenschilderung erhält.

Für wen wäre das Bild einer Lesenden besser geeignet als für Emilie Fontane (1824–1902), die zu diesem Zeitpunkt 47-jährige Ehefrau Theodor ­Fontanes, die zeit ihres Lebens als Mit- und Zuarbeiterin im „Romanschriftsteller-Laden“ Fontane gewirkt hat? Als Weggefährtin und Beraterin ihres Mannes, als Kritikerin, Lektorin, Abschreiberin und Vorleserin seiner Werke und der Werke zahlreicher anderer Literaten, als stetige Theater- und Opernbesucherin und vor allem als Rezipientin der zeitgenössischen Literatur ist sie Abbild einer bürgerlichen Literaturlandschaft des 19. Jahrhunderts, die zu diesem Zeitpunkt vor allem eine weiblich geprägte war. Das Motiv der lesenden Frau findet sich daher nicht nur bei Adolph Menzel, sondern auch bei zahlreichen anderen Künstlerinnen und Künstlern des 19. Jahrhunderts. Es verweist neben den steigenden Alphabe­tisierungsraten auf eine umfassendere ­Zu­gänglichkeit von Büchern und Zeitschriften in öffentliche Bibliotheken, auf die expandierende periodische Presse sowie auf die Relevanz des populären Zeitvertreibs des Lesens. In diesem speziellen Fall zeigt die Lektüresituation – im Freien, an Bord eines Schiffes – zudem die fortschreitende Integration von Lektüre in Alltags- und Ausflugssituationen.

Dabei war Emilie Fontane, die am 14. November 1824 in Dresden als uneheliches Kind zur Welt kam, kaum für einen bildungsbürgerlichen Lebensweg prädestiniert. Ihre Mutter Thérèse Müller, geb. Rouanet (1790–1867) gab im Taufeintrag den Bataillonsarzt George Bosse (1797–1865) vom 2. Bataillon des 28. Preußischen Landwehrcorps in Brühl bei Bonn am Rhein als leiblichen Vater Emilies an. Dieser war zum Zeitpunkt der Geburt schon nicht mehr vor Ort in Beeskow, dem Lebensmittelpunkt von Emilies Mutter, wo er stationiert gewesen war. Er wird vermutlich nichts von der Geburt seiner Tochter gewusst haben.

Emilie wurde vorerst von ihrem Onkel Jean August Alexander Rouanet (1783–1867) aufgenommen, der mit seiner Frau und seinen Kindern als Apotheker in dem kleinen Ort Wermsdorf bei Torgau lebte. Als sie drei Jahre alt war, wurde sie per Zeitungsannonce zur Adoption vermittelt. Der Text dieser Anzeige ist nur aus Emilie Fontanes „Lebens­novelle“, einem Fragment gebliebenen Autobiografieversuch, bekannt. Dort heißt es: „Sollte ein kinderloses Ehepaar geneigt sein, ein dreijähriges, gesundes Kind (Mädchen) an Kindesstatt anzunehmen, so würde dasselbe, unter Zusicherung einer namhaften Summe unter S. 42 zu erfragen sein.“

Schließlich adoptierten der Globenfabrikant Karl Wilhelm Kummer (1784–1855) und seine erste Frau Marie Dorothee, geb. Schulz, Emilie. In der Folgezeit wurde sie von drei unterschiedlichen Stiefmüttern, zwischenzeitlich auch vom Dienstmädchen des Hauses Kummer großgezogen. Erst die Verlobung mit dem Apothekerlehrling Theodor Fontane im Dezember 1845 und schließlich die Heirat im Jahr 1850 gaben Emilie die Möglichkeit den unsteten Lebensumständen zu entkommen. Allerdings erfüllten sich die Hoffnungen, die sie mit der Familiengründung verbanden, nicht sofort. Sie litt unter den langen Trennungszeiten, die sich auch noch in den ersten Ehejahren fortsetzten – Theodor Fontane war als Korrespondent in London tätig –, und dem unsicheren Status der fünfjährigen Verlobungszeit. Monatelang hielt sie sich bei Freunden und Verwandten auf. Besonders schwierig muss es gewesen sein, den Wunsch ihres Mannes, den Brotberuf des Apothekers aufzugeben und nur noch als Schriftsteller sein Auskommen zu suchen, zu akzeptieren. Der gesellschaft­liche Aufstieg, der auch mit einer finanziellen Absicherung einherging, stellte sich erst spät ein und war für Emilie Fontane als Mutter von sieben Kindern – drei Kinder verstarben bereits kurz nach der Geburt – lang ersehnt.

Wie prekär die Verhältnisse im Hause Fontane zu Beginn waren, dokumentieren sehr eindrücklich die von Emilie Fontane während der gesamten Ehezeit geführten Haushaltsbücher der Familie. Den wenigen und unregelmäßigen Einnahmen standen oft lange Zahlenreihen an Ausgaben und Verpflichtungen gegenüber. Betrachtet man diese Zeugnisse des Alltags der Familie Fontane, dann wird deutlich, dass erst mit der finanziellen Konsolidierung auch die nachhaltige Teilhabe an literarischer Geselligkeit gelang, was sich neben dem Ankauf von Büchern und dem Abonnement von Presseerzeugnissen auch in den regelmäßiger werdenden Besuchen im Theater ablesen lässt und Emilie Fontane zu den Bekenntnissen verleitete: „Alles Anregende verschaffen mir die Zeitungen“ und „[m]ein größter Genuß ist und bleibt das Schauspiel.“

Zum Zeitpunkt des Geschenks der „Lesenden Dame“ kannten sich Emilie Fontane und Adolph Menzel bereits 20 Jahre. Emilie Fontane war sowohl mit der Schwester des Malers, Emilie Krigar (1823–1907), als auch mit Menzel selbst befreundet. Ihr Ehemann, Theodor Fontane, und Adolph Menzel verkehrten beide in den Vereinen „Rütli“ und „Tunnel über der Spree“. Regelmäßig sah man sich bei gesellschaftlichen Anlässen, mehrfach publizierte Theodor Fontane zu Adolph Menzels Werken. Eine Paralle­lisierung des Fontane’schen und Menzel’schen Schaffens, die ästhetische Verwandtschaft des Werks wurde schon von Zeitgenossen beobachtet. So schrieb Josef Ettlinger in der Magdeburgischen Zeitung von 1895 in einer Rezension zu „Effi Briest“ von Fontane als „dem Menzel des Romans“. Diese Engführung künstle­rischer und schriftstellerischer Schaffensprozes­se sah auch Emilie Fontane sehr hellsichtig: Die Menzel’sche Ausführung sei, so schrieb sie 1884 in einem Brief an ihren Mann, „Deiner Produktion etwas ähnlich“.

Die Freundschaft zwischen den Familien Menzel und Fontane belegen jedoch nicht nur die getauschten, z. T. noch erhaltenen Briefe, sondern vor allem auch die Bildgeschenke Menzels. Neben der „Lesenden Dame“ sind weitere vier Aquarell- und Zeichnungsgeschenke Menzels an Theodor und Emilie Fontane belegt. Ein weiteres intimes Zeugnis der freundschaftlichen Verbundenheit ist in einer anderen kleinen Gouache und Bleistiftskizze zu sehen, die Menzel ebenfalls für Emilie Fontane bestimmte, und die eine Lageskizze eines vom Künstler in einem Schrank vergessenen Schlüssels zeigt verbunden mit der Bitte, Emilie Fontane möge ihm diesen Schlüssel aus seiner Wohnung holen.

Der besondere Stellenwert, den diese Gaben für die Beschenkte besaßen, lässt sich vor allem an der Aufbewahrungs­situation ablesen: Sie erhielten – wie sich an den Klebespuren auf der Widmungsrückseite der „Lesenden Dame“ erkennen lässt – einen besonderen Platz im Familienalbum der Fontanes, aus dem sie erst 1905 im Vorfeld der von Hugo von Tschudi in Berlin veranstalteten Retrospektive zu Menzels Werk von den Fontane-Erben herausgelöst wurden, um sie in der Ausstellung zu zeigen. Danach verliert sich für einige Zeit die Spur der Menzel’schen Bildergaben. Erst für das Jahr 1936 lässt sich die „Lesende Dame“ im Besitz des jüdischen Sammlers Berthold Nothmann belegen, der sie zusammen mit einem beträchtlichen Teil seiner Kunstsammlung vor seiner Emigration aus Deutschland nach England im Jahr 1939 veräußern musste. Im Anschluss lassen sich unterschiedliche Besitz- und Ausstellungsstationen in Deutschland, Polen und England nachweisen. Nach einer Klärung der Provenienzverhältnisse und der erfolgten Restitution im Jahr 2014 folgte ein letzter Verkauf in die USA, von wo aus das Bild dank der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung durch das Theodor-Fontane Archiv der Universität Potsdam erworben werden konnte. Die „Lesende Dame“ von Adolph Menzel kehrt damit – nach über hundertjähriger Wanderschaft – in den Zusammenhang des Familiennachlasses Fontane zurück, aus dem sie ursprünglich stammt.

 

Die Ausstellung „Emilie200“ im Theodor-Fontane-Archiv der Universität Potsdam gibt anlässlich des 200. Geburtsjubiläums Emilie Fontanes Einblick in ihr Leben und Wirken. Erstmals wird das jüngst vom Theodor-Fontane-Archiv mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung erworbene Gemälde „Lesende Dame“ von Adolph Menzel gezeigt. Ab Ende November 2024 ist die Ausstellung im Hugenottenmuseum Berlin (bis 8.3.2025) und im Museum Neuruppin (bis 3.3.2025) zu sehen.

Theodor-Fontane-Archiv der Universität Potsdam
Große Weinmeisterstr. 46/47
14469 Potsdam
Telefon: 0331 – 201396
www.fontanearchiv.de

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