LEBENSLINIEN

Bettgeschichten

Das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main erwirbt die Aufzeichnungen, die Clemens Brentano am Krankenbett der Ordensfrau Anna Katharina Emmerick anfertigte / Tilman Spreckelsen

Das erste Mal sahen sich Clemens Brentano (1778–1842) und Anna Katharina Emmerick (1774–1824) am 24. September 1818, das letzte Mal Anfang 1824.

Brentano hatte bereits im November 1817 durch seinen jüngeren Bruder Christian, der drei Monate bei ihr verbracht hatte, einen Bericht über Emmerick erhalten: Die seit Jahren bettlägerige ehemalige Nonne, deren Dülmener Kloster 1811 geschlossen worden war, wies Stigmata auf, hatte Visionen, bei denen sie etwa vom gekreuzigten Christus besucht wurde oder sich selbst von Außen sah, und lebte, wie es hieß, fast nur noch von flüssiger Nahrung. Kirchliche und weltliche Kommissionen untersuchten ihren Fall, konnten aber keinen Betrug nachweisen, und bereits 1814 erschien dazu ein Bericht ihres behandelnden Arztes in einer medizinischen Fachzeitschrift. 1816 hörte Brentano in Berlin bei Friedrich von Savigny einen anderen Gast erzählen, er habe Emmerick an ihrem Krankenlager besucht. Denn natürlich war Christian Brentano nicht der einzige, der nach Dülmen in das kleine Haus pilgerte, in dem die zunehmend berühmte Emmerick gepflegt wurde, aber sein Besuch gab wohl den letzten Anstoß für die langjährige Beschäftigung seines Bruders Clemens mit der von ihm als christliche Visionärin angesehenen Frau.

Was suchte er dort? Im Herbst 1818 war Brentano gerade vierzig geworden. Hinter ihm lagen bewegte Jahre. Früh verwaist, konnte er finanziell einigermaßen sorglos von den Erträgen aus dem Erbe seiner Eltern leben. Um die Wende zum 19. Jahrhundert geriet er in Kontakt mit den Romantikern in Jena und freundete sich in Göttingen mit Achim von Arnim (1781–1831) an. Er veröffentlichte als junger Mann den „verwilderten“ Roman „Godwi“, der nicht nur im Titel auf Elemente des Religiösen verweist und mit ihnen spielt. Von 1803 bis zu ihrem Tod 1806 führte er eine spannungsreiche Ehe mit der acht Jahre älteren Schriftstellerin Sophie Mereau, 1807 heiratete er nach kurzer Bekanntschaft die dreizehn Jahre jüngere Auguste Bußmann, trennte sich nach leidenschaftlich und öffentlich ausgefochtenen Streitigkeiten bald wieder von ihr und ließ sich fünf Jahre später scheiden. Als Autor wurde er nicht nur mit „Godwi“, sondern vor allem mit der – gemeinsam mit seinem Freund Achim von Arnim herausgegebenen – Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1805–1808) bekannt. Er war umtriebig und rastlos. Ein neuerwachtes Interesse an religiösen Fragen führte zu einer Hinwendung zum katholischen Glauben – 1817 legte er, wie auch Christian Brentano, eine Generalbeichte ab, angeblich ein Bekenntnis auf zehn eng beschriebenen Bogen Papier und „ein ungeheurer Sündenhaufen“, wie er Arnim gestand. Zudem beschäftigte ihn eine offenbar unerwiderte Liebe zu der jungen Berliner Dichterin Luise Hensel, die sich später ebenfalls dem Kreis um Emmerick anschließen sollte.

Nun reiste Clemens Brentano also von Berlin ins Westfälische, um Emmerick mit eigenen Augen zu sehen. Nach der Ankunft in Dülmen erhielt er die Erlaubnis, „täglich mehrere Stunden bei ihr zuzubringen“, wie er aus der Rückschau schreibt. Mit einigem Stolz teilt Brentano mit, Emmerick habe ihn als „Pilger“ bezeichnet, was einiges über ihre Sicht auf ihre eigene Rolle in dieser Konstellation verrät, denn es ist ja ihr Krankenlager, das sich Brentano zum Ziel seiner Pilgerreise wählt.

Die damals 44-jährige Emmerick, die er mal „ganz einfältig, kindlich, wehrlos und unbedeutend, dann aber wieder ganz erleuchtet, scharfsinnig, heldenmüthig (…), beides aber bewußt- und absichtlos, in Jesu Christo allein stark“ erlebte, zeigte ihrem Besucher „mit rührender Arglosigkeit ein (…) kindliches Vertrauen“ und erzählte ihm „alle ihre Führungen, Erfahrungen, Freuden und Leiden von Kind auf bis heute ohne irgend eine Scheu“. Brentano „schrieb täglich Alles nieder“, den Inhalt ihrer Erzählungen, aber auch eigene Beobachtungen, die er im Krankenzimmer machte: „Alles, bald durch die kindlichste Naivetät, bald durch die eigenthümlichste Tiefsinnigkeit überraschend, ließ den großartigen Zusammenhang ahnen, der später hervortrat.“

Brentano, der anfangs in einem Gasthof wohnte, mietete rasch ein Zimmer im Haus der ehemaligen Nonne, um ihr näher zu sein. Er unternahm Ausflüge in die Umgebung zu Orten, die mit ihr in Verbindung standen, und traf ihren Bruder auf ein Gespräch. Vor allem aber saß er an ihrem Bett und hielt fest, was sie ihm offenbarte. In den mehr als fünf Jahren bis zu ihrem Tod verbrachte er viele Monate mit ihr und fertigte Notizen an, die er später auf einzelne Zettel abschrieb und genau datierte – gut 7.000 solcher Blätter haben sich in seinem Nachlass erhalten, dazu mehr als fünftausend weitere, die mit Emmerick und ihren Geschichten zu tun haben, darunter Landkarten und Reiseberichte aus dem Heiligen Land. Als Achim von Arnim seinen Freund im November 1821 in Dülmen besuchte – auch Christian Brentano war gerade wieder dort –, notierte er: „Clemens geht fast nie aus der Stadt, er besucht die Emmerick zweimal des Tages, die übrige Zeit schreibt er. Diese Lebensmethode scheint seiner eisenfesten Gesundheit nicht zu schaden, er sieht unverändert aus.“ Die Emmerick sei übrigens „eine fromme, natür­liche Seele, die in ihren Leiden gern für andere betet“.

Liest man auch nur einen kleinen Teil der von Brentano angefertigten Notate, so versteht man rasch, was ihn so faszinierte: Emmerick sprach zu ihm wie eine Augenzeugin der Heilsgeschichte. Ihr sei, so sagte sie, Jesu Passion im Detail offenbart worden. Sie konnte Länge und Form der Nägel nennen, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, und beschrieb ihrem staunenden Zuhörer, wie bei der Kreuzigung der linke Arm des Heilands auf schmerzhafte Weise so lange gedehnt wurde, bis er die richtige Position erreichte. Dabei ging es nicht nur um die Ausschmückung der bekannten Ereignisse. Die Mystikerin teilte auch ihr Wissen um eine sonst unbekannte Reise, die Jesus nach Zypern zu einer jüdisch bevölkerten Stadt namens Maleb geführt haben soll. Den wie ein Pfannkuchen geformten Grundriss zeichnete Brentano dann nach ihren Angaben, ebenso wie das Kleid, das Maria in ihren letzten Lebensjahren trug – die Freude, mit der die gelernte Schneiderin Emmerick in ihren Visionen ausführlich die Textilien der Protagonisten schilderte, teilt sich mit.

Überhaupt war von der Mutter Jesu so viel zwischen Emmerick und ihrem Pilger die Rede, dass dieser später aus den Angaben der Stigmatisierten ein ganzes Buch zusammenstellen konnte. Diese Angaben erreichten die Seherin auf mehreren Wegen und mussten bisweilen interpretiert werden: Ging es etwa um den Tod der Maria, erschienen vor Emmerick römische Ziffern, die zusammen die Zahl 48 ergaben – das Sterbejahr der Mutter Gottes, wie Emmerick und Brentano schlossen. Was die näheren Umstände dieses Sterbens angeht, sagte die offenbar gerade von einer Vision heimgesuchte Emmerick zum aufmerksam lauschenden Brentano: „Da sind ja die Leute, die Apostel, frage sie selbst, du bist gelehrter als ich.“ Glücklicherweise ließ sie sich doch noch bewegen, selbst einen farbigen und detaillierten Bericht zu liefern: Maria, umgeben von den Aposteln, segnet die Anwesenden und verkündet, was mit ihrem Besitz und was mit ihrem Leichnam geschehen solle. Ein Gottesdienst wird durch den aufwendig dazu eingekleideten Petrus abgehalten, Maria erhält das Abendmahl und die letzte Ölung „ungefähr auf dieselbe Weise, wie es auch heut zu Tage geschieht“. Dann öffnet sich die Decke des Hauses über ihrem Bett, ganz oben ist das himmlische Jerusalem zu sehen, ein Lichtstrahl senkt sich herab und Marias Seele löst sich aus dem Leib und geht, sichtbar wenigstens für Emmerick, den leuchtenden Weg hinauf.

Angesprochen wurde durch solche Berichte natürlich der Gläubige in Brentano, der ja erst kürzlich wieder zur Religion gefunden hatte. Emmericks Reden elektrisierten aber auch den Dichter, der in der ehemaligen Nonne eine Quelle für ein gewaltiges Projekt gefunden hatte: Ihre detailgetreuen Schilderungen lieferten ihm das Material zu einem fünften Evangelium, zu einem „Buch Clemens“. Und da schon Emmerick selbst beklagt hatte, dass sie ihre Visionen nicht so mitteilen könne, wie sie sie erlebt habe, denn die Sprache reiche dafür nicht aus, öffnete sie damit dem Dichter Tür und Tor, seinerseits das, was Emmerick ihm erzählte, weiter auszumalen und in einen heilsgeschichtlichen Kontext zu stellen.

Das Ergebnis seiner Jahre an ihrer Seite war das enorme Konvolut von Mitschriften und Beobachtungen, das Brentano nach dem Tod Emmericks weiter überarbeitete. Er nahm seine Bleistiftnotizen aus dem Krankenzimmer zur Grundlage für fortlaufend datierte Blätter, auf denen er das Gehörte offensichtlich umfangreich und phantasievoll ausschmückte und näher an eine Fassung heranführte, die er publizieren wollte. Er legte Kladden an und fügte die kleinformatigen, gut lesbaren Manuskripte zu Folioblättern zusammen. Trotz dieser Ordnungsversuche, die auch das Anlegen von Registern umfassen, war offenbar schon Brentano von der schieren Menge seines Materials überfordert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er alles aufhob, was mit Emmerick in Zusammenhang stand. So klebte er Pflanzen auf Papierbögen und schrieb die Angaben der Mystikerin auf, wofür oder wogegen die pflanzlichen Bestandteile einzusetzen seien. Er bewahrte die Ausschneidearbeiten Emmericks auf, die Papierfiguren, von denen eine einen aus Ziegenhaaren verfertigten Rock trägt, der, so die Visionärin, auf Moses zurückgeht, und vieles mehr.

In der Vorrede zu „Leben der Jungfrau Maria“, erschienen erst 1854 nach dem Tod Brentanos, heißt es, dessen „mit fast aktenmäßiger Genauigkeit gemachten Aufzeichnungen“ seien „noch in ihrer ursprünglichen Gestalt vorhanden“. Brentano habe aber selbst Auszüge daraus nach thematischen Gesichtspunkten zusammengestellt – neben dem „Leben der Jungfrau Maria“ sind das der bereits 1833 zu seinen Lebzeiten erschienene Band „Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi“ sowie eine Darstellung der „Lehrjahre Jesu“. Die Wirkung dieser Texte war enorm. Sie wurden nicht nur bis in unsere Zeit hinein neu aufgelegt, sondern dienten auch als Vorlage für literarische Werke und Filme wie etwa Dominik Grafs „Das Gelübde“. Schon im 19. Jahrhundert kam es zu Initiativen, Emmerick seligzusprechen. Bereits Brentano hatte beschrieben, dass ihr Körper, als das Grab einige Monate nach ihrem Tod geöffnet wurde, keine Zeichen von Verwesung aufwies, auch nicht olfaktorisch, wie er eigens bemerkte – ein Hinweis auf Heiligkeit. Allerdings stellte sich später im kirchlichen Verfahren heraus, wie sehr Brentano eigenes mit den Äußerungen Emmericks vermengt hatte, sodass sich daraus kaum ein authentisches Bild ihrer Worte gewinnen lässt. Trotzdem kam es kurz vor ihrem 200. Geburtstag zu einem neuen Verfahren, das 2004 mit ihrer Seligsprechung endete.

Das Material zu Brentanos Emmerick-Schriften kam nach seinem Tod an seinen frommen Bruder Christian und später an die katholische Ordensgemeinschaft der Redemptoristen, über die es in den 1960er-Jahren als Leihgabe zum Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt gelangte, wo bereits ein erheblicher Teil des übrigen Brentano-Nachlasses versammelt war. Für die dort erstellte große Brentano-Ausgabe war das ein Segen, besonders mit Blick auf die Arbeit an der Abteilung der religiösen Schriften des Autors – zehn von ihnen sind bislang erschienen, vier weitere in Vorbereitung. Am sichtbarsten ist das Material im Frankfurter Romantikmuseum, wo eine Abteilung dem Zusammenwirken von Mystikerin und Schreiber gewidmet ist. Ausgestellt sind 133 faksimilierte Blätter aus dem Konvolut, ein winziger Ausschnitt, aber selbst in dieser Verknappung fällt es nicht schwer, sich darin zu verlieren.

Durch die Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, der Hessischen Kulturstiftung und der Georg und Franziska Speyer’schen Hochschulstiftung konnte nun das gesamte Material für das Hochstift angekauft werden. Zu den 46 Archivboxen mit eigenen Brentano-Beständen der Institution kommen 31 weitere hinzu. Und auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass all dies in absehbarer Zeit ediert und vor allem erläutert wird, so bietet es doch die Möglichkeit, das Entstehen eines Projekts zu verfolgen, das Brentano in einer Zeit persönlicher Krisen stärker beschäftigte als jedes andere. Vom literarischen Reiz des Konvoluts ganz zu schweigen.

Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethe-Haus und Deutsches Romantik-Museum

Großer Hirschgraben 23–25, 60311 Frankfurt am Main
Telefon: 069 – 138 80 – 0
www.freies-deutsches-hochstift.de

Mit Klick auf [„Video starten“] stimmen Sie zu, dass [YouTube] Cookies setzt und personenbezogene Daten erhebt, welche ggf. in Drittländer übertragen werden, die kein mit der EU vergleichbares Datenschutzniveau aufweisen. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.