expressionistisches Gemälde
ERWERBUNG / BERLIN

Brücke und Brüche

Eine Erinnerung an den Kunsthändler und Sammler Victor Wallerstein / Nicola Kuhn

Victor Wallerstein (1878–1944) sieht schon sehr früh klar. Bereits im November 1933 schreibt er seinem jüngsten Bruder Lothar, der als Regisseur und Oberspielleiter der Staatsoper in Wien noch keiner Gefährdung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt ist, von seiner Überlegung auszuwandern. Kein Jahr später hat sich die Lage weiter zugespitzt. Ein weiterer Brief des Ber­liner Kunsthändlers und Sammlers erneut an den Bruder vom 18. September 1934 verrät seine Besorgnis: „Wenn ich offen ­sprechen soll und mir meine Situation ohne Beschönigung vor Augen halte, so bin ich ratlos. Ich weiß nicht, wie alles werden soll. Hoffnung auf eine Besserung der äußeren Verhältnisse ist kaum für die absehbare Zeit vorhanden und was soll ich für einen Beruf eintauschen?“

Beruflich abgedrängt durch Ausschluss aus der Reichskammer der bildenden Künste, von Verfolgung bedroht, gelingt es Victor Wallerstein und seiner Frau Vera zwei Jahre später nach Florenz zu emigrieren, wo ihn allerdings ebenfalls Rassen­gesetze, Verhöre durch die SS, eine prekäre Lage erwarten. Ins Exil kann er nur kleinere Gemälde und Papierarbeiten mitnehmen, darunter auch jenes Bild von Ernst Ludwig Kirchner, das sich seit 1918 in seinem Besitz befindet: „Erich Heckel und Otto Mueller beim Schach“ von 1913.

Nur schweren Herzens dürfte sich Wallerstein von dem fast quadratischen Gemälde getrennt haben, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, andere Verdienstmöglichkeiten gibt es für ihn nicht. Über zwei Jahrzehnte hat es ihn begleitet. Das Bild verbindet ihn mit einer glücklicheren Zeit in Berlin, den Erinnerungen an seine Galerie und Sammlertätigkeit, an die Künstlerfreunde und ein ungetrübtes Familienleben. Die erwachsenen Kinder des Paares, Franz (1904–1987) und Brigitta Karolina, genannt Gitta (1910–2008), haben es vor den Eltern bereits ins Ausland geschafft: Moritz nach Rhodesien ins heutige Simbabwe, Gitta über die Schweiz in die Vereinigten Staaten.

In Florenz verkauft Victor Wallerstein das Werk – neben einem ebenfalls von Kirchner 1915/16 gemalten Bildnis des Dramatikers Carl Sternheim – an den italienischen Kunsthistoriker und Expressionismus-Experten Michelangelo Masciotto (1905–1985). Über ihn gelangt es 1972 an die Londoner Galerie Marlborough Fine Art Ltd., wo es ein Jahr später der Gründungsdirektor des Berliner Brücke-Museums Leopold Reidemeister erwirbt. Für das 1967 eröffnete Museum wird es zu einem Grundstein, denn die Sammlung besteht vornehmlich aus Schenkungen der beiden noch lebenden Brücke-Künstler Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel; Beispiele für das Schaffen der Zentralfigur Ernst Ludwig Kirchner besitzt es kaum.

Die Bedeutung des Gemäldes ist enorm, umso glücklicher, dass es nach der im Sommer 2024 erfolgten Restitution an die Nachfahren Victor Wallersteins durch den Ankauf mit Mitteln der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, der Kulturstiftung der Länder sowie der Ernst von Siemens Kunststiftung im Brücke-Museum verbleiben kann. Sechs Jahre zuvor waren die Nachfahren in den Vereinigten Staaten im Nachlass des Kunsthändlers auf einen Zettel mit den beiden Worten „Kirchner“ und „Schach“ gestoßen und hatten das Werk in Berlin ausfindig gemacht.

Parallel zu ihnen stellte die Provenienzforscherin des Brücke-Museums, die ebenfalls 2018 ihre Arbeit aufgenommen hatte, einen Zusammenhang mit dem Sammler her, der in einer Käuferliste von Kirchner auftaucht. Auf dem Keilrahmen des Bildes steht dieselbe Zahl 200, die als Einnahmesumme hinter Wallersteins Namen genannt wird. Das Gemälde ist ein Hauptwerk des deutschen Expressionismus: kunsthistorisch bedeutsam und zugleich ein wichtiges Dokument für das So­zialleben der Künstler. Es steht für Kirchners Hochphase in Berlin – nach der Unbeschwertheit in Dresden und vor der Verzweiflung und Depression durch Krieg und Klinikaufenthalt. Die Dynamik und Hektik der Großstadt teilen sich durch die Schraffur und steil aufragenden Linien, die zackigen Formen und dunkle Palette mit. Zugleich markiert das Werk einen besonderen Moment in der Geschichte der Künstlervereinigung, die sich wenig später auflöst.

Noch spielen die Malerfreunde Heckel und Kirchner in Kirchners Schöneberger Studio in der Durlacher Straße 14 einträchtig Schach, doch die angespannte Atmosphäre ist in den perspektivischen Verzerrungen spürbar. Auf dem Sofa liegt Kirchners Partnerin Erna Schilling als Akt mit hinter dem Kopf gekreuzten Armen. Das Werk dokumentiert seine Lebenswelt, sein künstlerisch gestaltetes Wohnatelier und das kollegiale Miteinander. Es vereint parallel die typischen Brücke-Sujets jener Zeit: Akt, Interieur und Gruppenbild. Im darauffolgenden Jahr bricht als endgültige Zäsur der Erste Weltkrieg aus.

Victor Wallerstein steht damals mit der Künstlergruppe in engem Kontakt. Im Besitz des Brücke-Museums befindet sich außerdem ein Bildnis von ihm, das Heckel 1912 zeichnete. Auch mit Oskar Kokoschka freundet er sich während seiner Dresdner Professur ab 1919 an und wird von ihm porträtiert, ebenso die Tochter. Diese persönlichen Künstlerbeziehungen bilden später die Grundlage für seine Galerietätigkeit. Doch zunächst volontiert Wallerstein in den 1910er-Jahren am Kaiser-Friedrich-Museum und wird Wilhelm von Bodes Assistent. Geboren in Prag, hat er nach Umwegen endlich an seine eigentliche Wirkungsstätte in Berlin gefunden.

Als drittes Kind einer strenggläubigen jüdischen Familie hätte Wallerstein nach dem Wunsch seines Vaters, der eine Musikschule leitet und als Oberkantor an der Prager Maisel-Synagoge wirkt, wie seine Geschwister wohl ebenfalls eine musikalische Karriere einschlagen sollen. Aber gesundheitlich labil und „egozentrischer eingestellt, als wir alle anderen“, wie ihn sein zweiter Bruder Konrad später in seinen Lebenserinnerungen beschreibt, interessiert er sich mehr für die bildende Kunst. Schon als Junge besaß er eine Kamera und wollte Fotograf werden, ein eigenes Atelier betreiben.

Stattdessen wird der junge Mann als Praktikant im Handschuhgeschäft seines Onkels untergebracht und dort schließlich Kontorist. Nach dem Ausstieg des Onkels übernimmt der 24-Jährige das Geschäft, gibt es jedoch glücklos wieder auf. Mit dem nächsten Anlauf will er dann seinen beruflichen Traum verwirklichen. Einen einjährigen Fotokurs hat er bereits in Prag absolviert. Nun zieht er nach München, um sich bei einem Berufsfotografen ausbilden lassen. Dort lernt er seine künftige Ehefrau Vera von Goldberg (1876–1956) kennen, die für ihn zum Judentum übertritt, bevor das Paar 1903 heiratet. Als sich erneut die Gelegenheit bietet, in die Fabrik eines anderen Onkels einzusteigen, finanziert ihn diesmal ihre Familie.

Doch das Projekt scheitert ebenfalls, und Wallerstein beginnt Philosophie und Kunstgeschichte zu studieren, was er sehr viel früher hätte tun sollen, wie sein Bruder später konstatiert. 1909 schließt er sein Studium in Basel mit einer Promotion über Tafelmalerei der nordalpinen Renaissance ab. Damit hat er endgültig zu seiner Profession, der Kunst gefunden und wechselt mit seiner jungen Familie nach Berlin, wo er beim Kaiser-Friedrich-Museum antritt. Spätestens ab 1917 arbeitet er für die legendäre Kunsthandlung Paul Cassirers, die den Impressionismus, Cézanne und van Gogh nach Deutschland geholt hatte. Zwei Jahre später steigt Wallerstein als Sozius in eine kurz zuvor von Fritz Goldschmidt (1886–1935) gegründete Galerie ein. Die beiden Kunsthistoriker kennen sich vom Kaiser-Friedrich-Museum und der Kunsthandlung Cassirer, für die Goldschmidt Auktionskataloge bearbeitete.

1920 gründen sie die Galerie neu, nun unter dem Namen „Dr. Fritz Goldschmidt und Dr. Victor Wallerstein“ am Schöneberger Ufer 36a. Beide wohnen mit ihren Familien in den Stockwerken über der Galerie. Zunächst liegt der Schwerpunkt bei Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts sowie Skulptur und Bronzen, Goldschmidts Spezialgebiet. Ab 1921 eröffnen sie in der Wohnung der Wallersteins eine eigene Moderne-Abteilung mit einer großen Gruppenausstellung, in der Werke der Brücke-Künstler Erich Heckel, Otto Mueller, Ernst Ludwig Kirchner und Max Pechstein sowie von Oskar Kokoschka, Jussuf Abbo und Béla Czóbel zu sehen sind. Finanzielle Schwierigkeiten zwingen jedoch 1928 zum Umzug der Galerie in die Victoriastraße 21. In einem Interview viele Jahre später berichtet Gitta Wallerstein, wie der Schein trotzdem gewahrt blieb. Ein erfolgreicher Geschäftsmann sei ihr Vater nie gewesen.

Mit der Machtübernahme ändert sich die Situation radikal, als Juden müssen die Partner 1934 zwangsweise ihre Galerie schließen. Seit 2023 erinnert eine Gedenktafel an die beiden Galeristen. Wallerstein versucht noch aus der Wohnung heraus Werke zu verkaufen, auch aus seiner eigenen Sammlung. „Das Alles ist ein schwieriges und wenig aussichtsreiches Unternehmen, aber man hofft bei ganz geringem Verbrauch eine Weile lang durchzukommen“, berichtet er seinem Bruder Lothar. Längst ist er mit seiner Frau in eine „ganz kleine Wohnung“ nach Schöneberg gezogen. Als Goldschmidt 1935 stirbt, steigt seine Witwe ein bis zur endgültigen Liquidierung des Geschäfts ein Jahr später.

1937 verlässt das Ehepaar Berlin. Als es sich in Florenz niederlässt, wird Victor Wallerstein bei der Questura als „ausländischer Jude“ registriert und ist damit dem Zugriff der Behörden ausgesetzt. Ab 1938 gelten in Italien ebenfalls Rassen­gesetze und Arbeitsverbot, 1940 erfolgen Internierungen, 1942 Zwangsarbeit, ein Jahr später beginnen die Verhaftungen. Auch Victor Wallerstein wird nach einer Denunziation 1943 von der Gestapo zum Verhör abgeholt, nachdem bereits der befreundete Maler Rudolf Levy (1875–1944) in seiner Pension verhaftet worden ist, in der zeitweise die Wallersteins mit ihm wohnten. Kurz zuvor hatte er den Galeristen noch porträtiert: ergraut und wie erlöscht im Gesicht, mit tief eingeschnittenen Linien. Während Levy nach Auschwitz deportiert und später ermordet wird, gelingt es Vera Wallerstein als „Arierin“ ihren schwer magenkranken Ehemann freizubekommen, wie die Berliner Journalistin Grete ­Fischer in ihren Lebenserinnerungen beschreibt. Victor Wallerstein stirbt 1944 mit 66 Jahren im Krankenhaus von Florenz, wo er sich einer Operation unterziehen muss. Zur gleichen Zeit marschieren die Alliierten ein. Wallersteins Sammlung aber wird endgültig zerstreut. Seine Witwe reist aus zu ihrem Sohn nach Südafrika mit den letzten Papierarbeiten Oskar Kokoschkas im Besitz, die sie in einer großen Rolle zur Sicherung ihres Lebensunterhalts mit sich führt.

Erst die Nachforschungen zu Kirchners Gemälde „Erich ­Heckel und Otto Mueller spielen Schach“ haben genauere Kenntnis auch über den Vorbesitzer Victor Wallerstein und sein Leben zutage gebracht. Sie gingen ein in die Ausstellung „Biografien der Moderne. Sammelnde und ihre Werke“ im Brücke-Museum, mit der acht Persönlichkeiten gewürdigt werden, Kunsthistorikerin, Kritiker, Salonière, Schriftsteller, welche die Künstlergruppe förderten. Den Anfang aber macht Victor Wallerstein als eine Wiederentdeckung für Berlin. Auch nach der ­Ausstellung wird künftig ein besonderer Hinweis am Kirchner-Gemälde an ihn erinnern.

Mit Klick auf [„Video starten“] stimmen Sie zu, dass [YouTube] Cookies setzt und personenbezogene Daten erhebt, welche ggf. in Drittländer übertragen werden, die kein mit der EU vergleichbares Datenschutzniveau aufweisen. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.