Frau mit schwarzer Maske in einem engen roten Oberteil
AUSSTELLUNG BADEN-WÜRTTEMBERG

Von der rauen Wirklichkeit der Goldenen Zwanziger

Die Kunsthalle Mannheim erinnert an ihre legendäre Schau zur „Neuen Sachlichkeit“ im Jahr 1925 und befragt sie neu / Josephine Karg

Endlose Tanznächte zu Charleston und Swing, Varieté, glamouröse Abendgarderobe, ein frivoles Nachtleben – die 1920er-Jahre werden überwiegend mit dieser klischeehaften Vorstellung verbunden. Doch bei Weitem nicht alle Menschen waren in ausgelassener Feierstimmung, denn die Orte des Amüsements waren ebenso Zufluchten aus bürgerlicher Enge, sie boten Schlupfwinkel für gesellschaftliche Außenseiter und die Freiheit, sich über moralische Zwänge hinwegzusetzen. So schillernd und ausschweifend die Nächte in der Weimarer Republik auch waren, so aussichtslos und deprimierend war der Arbeitsalltag als Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Handwerker oder Büroangestellter – vor allem dann, wenn die Erwerbslosigkeit eingetreten war. Besonders hart waren die Lebensumstände für Alleinerziehende, Waisen, Kriegsversehrte, Kranke und Obdachlose. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde genau dieser Personenkreis bildwürdig – Künstlerinnen und Künstler übersetzten jene gesellschaftlichen Zustände in eine Bildsprache des schonungslosen Realismus, der ab 1925 unter der Bezeichnung „Neue Sachlichkeit“ bekannt wurde.

An der Kunsthalle Mannheim war es ihr Direktor Gustav Friedrich Hartlaub (1884–1963), der diesen Begriff prägte und mit seinem sicheren Gespür für die Bildthemen der Gegenwart im Juni 1925 eine Ausstellung mit dem programmatischen Titel „Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ eröffnete. Für die Kunsthalle ist die Präsentation bis heute die „bekannteste wie auch bedeutendste Ausstellung in ihrer über 100-jährigen Geschichte“. Anlässlich ihres einhundertsten Jubiläums rekonstruiert das Museum mit der von Inge Herold kuratierten Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum“ die Schau von 1925 und setzt sich zugleich kritisch mit der eigenen Sammlungsgeschichte auseinander, um auch den Leerstellen von damals Raum zu geben. So fehlten 1925 generell Künstlerinnen in Hartlaubs Aus­stellung, aus diesem Grund werden nun in der Mannheimer Schau Werke der Zeitgenossinnen Kate Diehn-Bitt (1900–1978), Dodo (Dörte Clara Wolff, 1907–1998), Hannah Höch (1889–1979), Lotte Laserstein (1898–1993), Jeanne Mammen (1890–1976) und Anita Reé (1885–1933) sowie internationale Künstler­positionen gezeigt, wie Edward Hopper (1882–1967) oder Georgia O’Keeffe (1887–1986).

Gustav Hartlaub, der 1925 gerade seit zwei Jahren die Kunsthalle Mannheim leitete, wählte 32 Werke von damals bereits renommierten Künstlern wie Max Beckmann (1884–1950), Otto Dix (1891–1969), George Grosz (1893–1959), Alexander Kanoldt (1881–1939) und Georg Schrimpf (1889–1938) aus, die er mit weniger überregional bekannten Positionen kombinierte – darunter Karl Hubbuch (1891–1979), Franz Lenk (1898–1968) oder Rudolf Schlichter (1890–1955). Vergleicht man die Werke der ausge­stellten Künstler, wird deutlich, dass die „Neue Sachlichkeit“ kein einheitlicher, festbeschreibbarer Kunststil war, sondern dass darunter unterschiedliche Mal- und Zeichenstile ebenso wie vielschichtige Motive und verschiedene Genres zu fassen sind: Neben Porträts, die soziale Missstände anprangerten und die „Randexistenzen“ der 1920er-Jahre in den ­Bildmittelpunkt rückten, wie Otto Dix’ „Arbeiterjunge“ (1920), waren auch Architektur- und Landschaftsbilder wie „San Gimignano“ (1922) des damaligen Professors an der Breslauer Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe Alexander Kanoldt zu sehen. Kanoldts Neuinterpretation des aus der Malerei der Romantik bekannten Motivs italienischer Bergstädte lässt in sachlich-kühler und reduktiver Bildsprache jegliche behaglich-mediterrane Atmosphäre vermissen und markiert einen Höhepunkt in seiner künstlerischen Entwicklung. Max Beckmann und Kanoldt waren mit den meisten Werken an der Ausstellung 1925 in Mannheim beteiligt. In Kanoldts menschenleeren, surrealen Architekturkulissen und Schrimpfs nazarenisch anmutenden Interieurs und Stillleben kündigte sich die Tendenz des Magischen Realismus an. Beckmann bildete hingegen eine ganz andere „Realität“ ab: Oftmals schlüpfte er dabei in unterschiedliche Rollen und maskierte sich. Mit Vorliebe spielte Beckmann auf antike Mythen an und entwarf symbolhafte Gleichnisse, um sein eigenes „Welttheater“ zu erschaffen wie in „Fastnacht“ (1925), das ihn mit seiner Lebensgefährtin Mathilde „Quappi“ Beckmann zeigt und in Mannheim zu sehen ist.

Otto Dix wurde in den 1920er-Jahren als große Entdeckung in der Bildniskunst gefeiert und als „Verist“ bezeichnet, seine Charakterdarstellungen galten als unübertroffen, sein scharfsinnig-zynischer Blick auf das Gesehene war legendär – setzte er doch das sozial ungerechte Alltagsleben mit seinen moralischen Abgründen und Grausamkeiten gestochen scharf ins Bild. Er hielt in altmeisterlicher Lasurmalerei die Versehrten, Kranken und Bettelnden, die Prostituierten und deren Kundschaft, die Straßenkinder und alleinerziehenden Mütter fest, deren Leid er so genau schilderte, dass es für die Betrachtenden schwer auszuhalten war und ist. Hartlaub verzichtete für die Mannheimer Schau auf besonders kritische Motive der Dresdner Veristen, die zu Beginn der 1920er-Jahre mitunter stark dafür kritisiert wurden. Aus dieser Entscheidung lassen sich kulturpolitische ­Erwägungen, aber auch persönliche Präferenzen ablesen, denn 1924 urteilte Hartlaub scharf über die veristische Malerei, die er in einem Beitrag für die Frankfurter Zeitung unter der Überschrift „Zynismus als Kunstrichtung“ diskreditierte. In der Nachkriegszeit hatten sich solche Bedenken verflüchtigt, die Kunsthalle Mannheim kaufte 1951 „Die Irrsinnige“ (1925) von Dix direkt an. Das Gemälde kommentiert, wie die Gesellschaft in den 1920er-Jahren mit vermeintlich psychisch kranken Patientinnen umging: Der schonungslose Blick auf ihren halb entblößten Busen und die ­aufgeknöpfte (Anstalts-)Kleidung legen nahe, dass sich die dargestellte Frau einer Willkür ausgesetzt sieht und dass niemand sie vor diesem Zustand bewahrt hat. Darüber hinaus lässt der Witwenschleier auf ihrem Kopf darauf schließen, dass sie als alleinstehende Frau mittellos und verzweifelt in eine ausweglose Lage geraten ist. Die schwebenden Schädel und Fratzen über ihrem Kopf verweisen auf dämonenhafte Visionen und versinnbildlichen den Zustand, in dem Menschen meinen, andere Stimmen zu hören – hier ist also die Situation einer Schizophrenie symbolisch wiedergegeben.

Vergleichbar in ihrer sozialen Kritik mit Dix und ebenfalls dem Verismus verpflichtet, waren George Grosz und der bis zur Mannheimer Ausstellung 1925 weniger bekannte Karl Hubbuch. Anonymisiert und in schematischer Darstellungsweise veranschaulicht Grosz in „Grauer Tag“ (1921) die Tristesse ungleicher Machtverhältnisse und des sozialen Elends, denn, wie der frühere Bildtitel 1925 noch in der Mannheimer Schau verriet, handelte es sich bei dem Beamten im Bildvordergrund um einen „Magistratsbeamten für Kriegsbeschädigtenfürsorge“. Karl Hubbuch zeichnete überspitzt und fast schon wie in einer Karikatur satirisch überformt, wie in „Lissy im Café“ (1930/32). Darin ist seine Protagonistin in einer wenig vorteilhaften Pose dargestellt, ihrem wissenden herausfordernden Lächeln haftet zudem etwas ­Verzweifeltes an – der erste Glanz ist ­verblasst und jetzt heißt es, irgendwie weiterkommen, sich anbieten und hoffen, dass es gut ausgeht.

Wie bereichernd wäre es gewesen, hätte Hartlaub auch Künstlerinnen neben ihre männlichen Kollegen gruppiert, um den Blick der Frauen auf den Alltag in einer von Krisen bestimmten Zeit sowie auf die Männer und auf sich selbst gerichtet zu zeigen: Die eindringlichen Selbstporträts von Anita Reé sind starke Zeitzeugnisse der Selbstbefragung als freischaffende Künstlerin, wohingegen Lotte Laserstein, die eine der erfolgreichsten Porträtistinnen ihrer Zeit war, auch die Rolle der Frau in der Weimarer Republik sezierte. In der Jubiläumsschau sind auch andere Tendenzen zu entdecken, wie Werke der Künstlerin Dodo, die selbstbewusst mit der Ästhetik des Art déco experimentierte, oder Hannah Höch, die sich dem Dadaismus zuwandte und sich mit optischen Effekten, Fotografie und Fotomontage befasste.

Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum

Kunsthalle Mannheim
Friedrichsplatz 4, 68165 Mannheim

bis 9.3.2025

www.kuma.art

Mit Klick auf [„Video starten“] stimmen Sie zu, dass [YouTube] Cookies setzt und personenbezogene Daten erhebt, welche ggf. in Drittländer übertragen werden, die kein mit der EU vergleichbares Datenschutzniveau aufweisen. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.