Einen kleinen Webrahmen trägt die mittlerweile neunzigjährige Sheila Hicks stets bei sich. „Tagebuch weben“ könnte man es nennen, wie sie in diesen Miniaturarbeiten über das Erleben ihrer Umgebung, von Landschaft und Architektur, aber auch über die Menschen, die ihr begegnen, reflektiert. Die Künstlerin selbst vergleicht die Tätigkeit des Webens mit dem Schreiben – beides geschieht in aufeinanderfolgenden Zeilen. Zuweilen fügt sie in diese Arbeiten, die sie „Minimes“ nennt, auch gefundene Objekte und Materialien ein, seien es Muscheln, Zweige, Schnürsenkel oder das Preisschild des Pyjamas, den sie 1973 für ihren Sohn anlässlich eines Krankenhausaufenthaltes gekauft hatte.
In der Retrospektive im Josef Albers Museum Quadrat Bottrop, die im kürzlich neu eröffneten Anbau zu sehen ist, ist den „Minimes“ ein eigener Raum gewidmet. Linda Walther, seit 2022 Direktorin des Museums und Kuratorin der Ausstellung, freut sich besonders, dass die Miniaturarbeit „Greta (no. 55)“ noch kurzfristig aus dem Museum of Modern Art in New York ausgeliehen werden konnte. Das abstrakte, aus orangeroter Wolle gewebte Bild hat Sheila Hicks 1961 als Porträt der Kuratorin Greta Daniels (1909–1962) geschaffen. Es erzählt von einem wichtigen Ereignis im Leben der Künstlerin: Daniels Fürsprache ist es zu verdanken, dass das MoMA schon früh erste, kleinformatige Arbeiten von Hicks ankaufte. Alfred Barr, der legendäre Gründungsdirektor des Museums, in den 1960er-Jahren noch beratend tätig, wünschte sich, die Künstlerin möge doch auch größere Tapisserien schaffen. Daraufhin drehte Sheila Hicks zuhause in Mexiko den heimischen Esstisch um und webte auf diesem improvisierten „Webrahmen“ ihre bis dahin größte Arbeit.
Sheila Hicks wurde 1934, während der Zeit der Großen Depression, in Hastings, Nebraska im Mittleren Westen der USA geboren. Zunächst wollte sie Malerin werden – wie schon eine andere große Textilkünstlerin des 20. Jahrhunderts: Anni Albers (1899–1994), die Hicks später als Ehefrau ihres Professors Josef Albers (1888–1976) vorgestellt werden sollte. Während Anni Albers, die ab 1922 am Bauhaus in Weimar zu studieren begonnen hatte, als Frau der Zugang zur ersehnten Malereiklasse verwehrt blieb und sie, wie viele Studentinnen, der Werkstatt für Weberei zugeteilt wurde, fand Sheila Hicks über 30 Jahre später auf einem anderen Kontinent bereits bessere Ausgangsbedingungen vor. Von 1954 bis 1959 studierte sie an der Yale School of Art in Connecticut Malerei. Prägend wurde für sie dort Josef Albers’ Farbenlehre, seine Theorien über die Wahrnehmung des Zusammenspiels von Farben. Dieser Einfluss bleibt bis heute – trotz der absoluten Eigenständigkeit ihres Werkes – sichtbar. Mit der Schließung des Bauhauses durch die Nationalsozialisten 1933 hatte Albers’ Lehrtätigkeit in Deutschland ein jähes Ende gefunden; gemeinsam mit seiner Frau emigrierte er noch im selben Jahr in die USA. Dort unterrichteten die beiden zunächst an der Reformkunstschule Black Mountain College in North Carolina, die während ihres Bestehens (1933–1957) progressive Wirkungsstätte und Zufluchtsort mehrerer ehemaliger Bauhäusler war – u. a. Lyonel Feininger und Walter Gropius lehrten dort. 1950 wechselte Josef Albers nach Yale.
Hicks’ Gemälde aus ihrer Zeit in Albers’ Klasse in Yale bilden den Auftakt der chronologisch angelegten Schau in Bottrop und veranschaulichen den malerischen Gestus, den Umgang mit Farbe und Abstraktion, der auch in ihren textilen Werken fortlebt. Dass ihre Studienzeit in die Hochzeit des Abstrakten Expressionismus fällt, der in den USA in der Nachkriegszeit zur dominanten Stilrichtung avancierte und als Symbol des „freien Westens“ propagiert wurde, ist ihrem malerischen Frühwerk anzusehen. „Ich habe das Malen nie aufgegeben. Ich bin Malerin“, erklärt die Künstlerin, die sich bald mehr für die gewebten Fäden der Leinwand zu interessieren begann als für den Malgrund.
Aber eigentlich schert sich Sheila Hicks nicht um Definitionen. Ihr Werk erstreckt sich nicht nur über unterschiedliche Gattungen der bildenden Kunst – von textilen Wandbildern über skulpturale Objekte bis zu raumgreifenden Installationen, sondern entzieht sich auch der Unterscheidung zwischen Kunst, Kunsthandwerk und Design, zwischen „high“ und „low“. „Was ist mit einem Faden möglich?“, ist die zentrale Frage, die ihrem Schaffen vorausgeht. Entsprechend der Idee des Bauhauses, die Grenzen zwischen Kunst und Handwerk aufzulösen, hat Sheila Hicks zeitlebens auch Auftragsarbeiten zur Gestaltung von Räumen angenommen, sogar für den Innenraum der Boeing-747-Flotte der Air France. Doch zum Weben fand sie jenseits des westlichen Kunstkanons.
Es war ein Kurs zur Geschichte der Kunst der Andenregion und Mittelamerikas bei George Kubler (1912–1996) in Yale, der ihr lebenslanges Interesse an den indigenen Textiltechniken wecken sollte. So wandte sie sich der Webkunst nicht nur praktisch in ersten Werken, sondern auch theoretisch in ihrer Abschlussarbeit zu: Betreut von dem Archäologen Junius Bird (1907–1982) beschäftigte sie sich darin mit den Textilien des heutigen Peru aus der Zeit vor dem Inkareich, also vor dem 13. Jahrhundert. 1957 führte sie ihr Weg, unterstützt von einem Stipendium des prestigeträchtigen Fulbright-Programms, nach Chile. Josef Albers hatte seine Studentin gebeten, dort an der Katholischen Universität in Santiago seine Tätigkeit als Gastdozent fortzuführen. Und so kam es, dass Sheila Hicks Farbenlehre und Design lehrte, vor einem Kurs von Architekturstudenten – alle männlich, wie sie sich 2004 in einem Interview mit ihrer langjährigen Weggefährtin und Biografin, der Textilhistorikerin Monique Lévi-Strauss (*1926), erinnert.
Und überhaupt, die Architektur: Mag die Kulturtechnik des Bauens auf den ersten Blick wenig zu tun haben mit der Weberei oder jedweder handwerklichen Herstellung von Textilien, so zeigen sich bei näherer Betrachtung strukturelle Parallelen. Der Architekt und Kunsttheoretiker Gottfried Semper (1803–1879) bezeichnete die textile Kunst als die „Urkunst“ überhaupt, die sich von Strukturen und Mustern in der Natur ableiten lässt. Semper entwickelte die sogenannte Bekleidungstheorie, nach der die äußerlich sichtbaren Elemente eines Gebäudes, wie z. B. die Fassade, als „Bekleidung“ dienen. Der Ursprung des architektonischen Raumes ist nach Semper ein stoffbehängtes Gerüst. So lässt sich schließlich auch die Struktur des gewebten Stoffes, das Gitternetz aus senkrechtem Kettfaden und waagerechtem Schussfaden, mit dem Errichten eines Gebäudes vergleichen, dessen Verstrebungen das Gerüst bilden, welches sich zu Wänden verdichtet. Auch Sheila Hicks betrachtet das Textile als immanentes Element von Architektur und Metapher der Vermessung von Raum. Etymologisch offenbart sich diese Verwandtschaft in der Bedeutung des lateinischen Verbs texere, das sich nicht nur als „weben“, „flechten“, sondern auch als „errichten“, „bauen“, „zusammenfügen“ übersetzen lässt. Und im „Zusammenfügen“ liegt schließlich auch die wortgeschichtliche Nähe von „Text“ und „Textil“ begründet, die den Vergleich zwischen dem Weben und dem Schreiben, den die Künstlerin zieht, noch untermauert.
Ab Ende der 1950er-Jahre lebte Sheila Hicks für einige Jahre in der mexikanischen Kleinstadt Taxco el Viejo. Mit fast schon ethnologischem Anspruch studierte und erlernte sie die traditionellen Techniken der Weberei und arbeitete eng mit lokalen Kunsthandwerkerinnen und Kunsthandwerkern zusammen, in deren Arbeitsroutinen sie sich bereitwillig einfügte. Ebenso fasziniert wie vom Handwerk des Webens war sie von den archäologischen Stätten und von der modernistischen Architektur Mexikos, die sie fotografierte und deren Strukturen und Oberflächen Inspiration für ihre Textilarbeiten boten. Ihr Interesse für die indigenen Webpraktiken wie auch für die Baukunst teilt Hicks mit dem Ehepaar Albers, das zahlreiche Studienreisen nach Mittel- und Südamerika unternahm. Anni Albers bezeichnete in ihrem 1965 veröffentlichten Buch „On Weaving“ die Weber des antiken Peru als ihre großen Lehrmeister.
Im Josef Albers Museum beschäftigt man sich angesichts neuerer Diskurse um kulturelle Aneignung und kulturellen Austausch mit den Reisen und dem Umgang der Albers’ mit indigenen Kulturen. Künftig sollen in der Dauerausstellung diese Bezüge der Kunstwerke mittels Begleittexten in den historischen Kontext gesetzt und kolonialistische Narrative kritisch eingeordnet werden. In der aktuellen Sheila-Hicks-Ausstellung werden alle von der Künstlerin angewandten oder verfremdeten indigenen Webpraktiken konkret benannt und beschrieben. Im Vermittlungsprogramm zur Ausstellung vertieft ein Vortrag zu Sheila Hicks’ künstlerischer Auseinandersetzung mit den Textilien des Andenraums dieses Thema.
Jedoch blieb Sheila Hicks nicht allein beim Studium der Textilien der amerikanischen Kontinente. Von Paris aus, wo sie sich 1964 niederließ und seitdem im Quartier Latin ihr Studio betreibt, bereiste sie die Welt – stets als wissbegierige Schülerin, die sich in den über Jahrhunderte tradierten Kunstfertigkeiten des Weberhandwerks ausbilden ließ. 1970 reiste sie auf Einladung zweier Ministerien nach Marokko. Die Einladung war aus dem Wunsch der dortigen Regierung erwachsen, das einheimische Textilgewerbe zu modernisieren und den Export zu stärken. In einer traditionellen Weberei entstanden die ersten „Prayer Rugs“, von islamischen Gebetsteppichen und der marokkanischen Architektur inspirierte Tapisserien. Den Teppich hat die Künstlerin vom Boden an die Wand gehängt, wo das bogenförmig gewebte Muster zu einer Art Portal wird. Die großformatigen Arbeiten wurden in der Marokkanischen Nationalgalerie ausgestellt. Bemerkenswert ist dieser Werkzyklus nicht nur aufgrund der transkulturellen Verflechtungen und der zugrundeliegenden religiösen Bedeutung; den „Prayer Rugs“ wohnt auch ein gewisser Grad an Gegenständlichkeit inne, die ansonsten in Hicks’ abstraktem Œuvre kaum zu finden ist. Die „Torbögen“ öffnen einen Bildraum und kündigen vielleicht schon die Hinwendung der Künstlerin zum Dreidimensionalen an, zur Skulptur oder Installation, von der vor allem ihr späteres Werk gekennzeichnet ist.
Die in der Bottroper Ausstellung gezeigten reliefartig anmutenden Wandobjekte (z. B. Lianes Colsa, 2020–2022) sind aus freihängenden, umwickelten Fäden strukturiert. Sie öffnen sich in ihren Leerstellen dem Raum, erscheinen gleichsam bildhaft statisch und organisch flüchtig. Raumgreifend wird Sheila Hicks’ Werk schließlich mit den amorphen, kissenartigen „Farbpigmenten“, die die Künstlerin in variablen Konstellationen aufstapelt – zuweilen bis an die Decke, wie 2017 bei ihrer vielbeachteten Installation auf der Venedig-Biennale, als sich das textile Material bis in die Lücken im Mauerwerk der Arsenale presste. Sie sind nicht zuletzt eine Reminiszenz an die Farbenlehre Josef Albers’.
Die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Retrospektive in Bottrop ist ein Kooperationsprojekt mit der Kunsthalle Düsseldorf. Dort werden zeitgleich neuere Arbeiten von Sheila Hicks gezeigt, in denen sich die monumentale Dimension ihres Werks offenbart, während es in unmittelbaren Dialog mit dem architektonischen Raum tritt: Farbkaskaden fallen von der Decke und ergießen sich in den brutalistischen Bau. Urban und bunt präsentiert sich die Schau als Erlebnisraum für die Besuchenden. Mit diesem Kontrast vervollständigt sich das Bild von Hicks’ Œuvre, dessen Genese sich inmitten des idyllischen Bottroper Stadtgartens, dem Standort des Josef Albers Museums, von Anbeginn nachvollziehen lässt.
Ein Museum, das sich nur einem einzigen Künstler widmet, kann für Kuratorinnen und Kuratoren eine besondere Herausforderung darstellen. Wie lässt sich das Programm weiterentwickeln und das Profil gleichzeitig erhalten? Diese Frage hat sich Linda Walther gestellt, als sie vor der Aufgabe stand, die ersten Ausstellungen für den 2022 fertiggestellten Erweiterungsbau des Architekturbüros Gigon/Guyer zu konzipieren. Dass die Wahl für die erste Einzelausstellung nach der Eröffnungsschau zu Josef Albers auf Sheila Hicks fiel, bietet nicht zuletzt auch Gelegenheit, das Augenmerk auf Albers als Lehrer, der er zeit seines Lebens war, zu lenken. Bislang gab es nur wenige Einzelausstellungen zu Künstlerinnen in dem Museum, dessen Gründung bereits auf die Schenkung einiger Werke an die Stadt durch Josef Albers selbst im Jahr 1970 zurückgeht, als dem berühmten Sohn Bottrops die Ehrenbürgerwürde verliehen wurde. Nach seinem Tod übergab Anni Albers dem Haus ein weiteres Konvolut seiner Werke, die den Grundstock der heutigen Sammlung bilden – mit rund 350 Werken die weltweit größte Museumssammlung des Künstlers. Dass die Albers-Schülerin und „Grande Dame der Textilkunst“ Sheila Hicks bisher in Deutschland mit keiner musealen Einzelausstellung bedacht wurde, ist angesichts ihrer internationalen Erfolge – u. a. zwei Teilnahmen an der Biennale in Venedig – erstaunlich und längst überfällig. Der in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Düsseldorf entstandene Katalog sollte überdies einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Rezeption von Hicks’ Werk leisten.
Sheila Hicks
Josef Albers Museum Quadrat Bottrop
Anni-Albers-Platz 1, 46236 Bottrop
bis 23. Februar 2025
Kunsthalle Düsseldorf
Grabbeplatz 4, 40213 Düsseldorf
bis 23. Februar 2025