UMBO – Der Fotograf als Bohemien und Flaneur
Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße“, heißt es bei Franz Hessel, „wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.“ Zu den schönsten Illustrationen dieses urbanen Wörterbuchs, die die Fotografie des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgebracht hat, gehört UMBOs „Unheimliche Straße“ von 1928.
Auf dem Straßenabschnitt, den das Foto abbildet, ereignet sich nichts Spektakuläres. Der Gehsteig wird repariert, Bauarbeiter sind damit beschäftigt, den auf dem Asphalt verstreuten Sand zusammenzukehren und wegzuschaufeln. Einige wenige Fußgänger und ein Fahrradfahrer passieren die Straße. Die starke perspektivische Verkürzung, die der steile Blick von oben erzeugt, hat ihre Gestalten zu kleinen amorphen Massen zusammengedrückt, so dass sie kaum zu erkennen sind. Die tief stehende Abendsonne macht sie in Form von großen schwarzen Silhouetten erst richtig sichtbar. Der Tag neigt sich dem Ende zu. Langsam wechselt die Welt ihr Dasein in einen anderen Zustand, tauschen die Menschen und Dinge ihre körperliche Gegenwart mit der Unwirklichkeit flacher dunkler Schattenwesen. Die Zeit scheint auf den Bildern stillzustehen. Und das nicht allein aufgrund der jede Bewegung arretierenden Technik der Momentaufnahme. Was hier abgebildet ist, sind Erscheinungen, denen vor jeder Fotografie das Gefühl der gedehnten Zeit anhaftet. Sie offenbaren sich den Menschen nur in seltenen Stunden, in den Augenblicken, da auf der Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit sich die Wahrnehmung der Welt nachtwandlerisch verzögert. UMBO tat ein Übriges, um die Betrachtung des Schauspiels, das die Schattenwesen in der Straße darbieten, zu verlangsamen: Er drehte das Bild um neunzig Grad aus der Aufnahmerichtung, so dass die Bewegungen der Menschen jeder Logik zu entbehren scheinen. Die Straße wird derart zur senkrechten Projektionsfläche, doch was sich auf ihr abbildet, ist keine Schlemihliade, sondern unbegreifliche, zauberhafte Wirklichkeit.
Nur zwei Abzüge dieser außergewöhnlichen Fotografie haben den Zweiten Weltkrieg überlebt. Einer befand sich in den Beständen des New Yorker Galeristen Julien Levy, der ihn 1931 bei UMBO in Berlin gekauft hatte, um ihn im Jahr darauf in der Ausstellung „Modern European Photography“ zu präsentieren. Heute ist er Bestandteil der Sammlung des Philadelphia Museum of Art. Den zweiten hatte UMBO, so wie er es mit allen besonders geglückten Fotografien der ersten Jahre getan hatte, seinem Freund und Förderer, dem Maler und Sammler Paul Citroen geschenkt. Nachdem dieser das Meisterwerk im holländischen Wassenaar wohl aufbewahrt hatte, gab er es 1975, zusammen mit ca. sechzig weiteren Fotografien, UMBO zurück. Aus dem Besitz des Sammlers Thomas Walther, der es nach UMBOs Tod von dessen Tochter Phyllis Umbehr erworben hatte, ist es nun, zusammen mit 38 weiteren Aufnahmen durch Ankauf in die Sammlung der Stiftung Bauhaus Dessau gelangt.
Man sagt nicht zu viel, wenn man UMBOs Werke als Höhepunkte der modernen europäischen Stadtfotografie bezeichnet, gelingt es ihnen doch erstmals, dem Foto des urbanen Lebens neben der realistisch dokumentierenden die Dimension des Phantastischen zu erschließen. Mit Recht hat man seine Fotografien den metaphysischen Stadtlandschaften de Chiricos an die Seite gestellt. Der Berliner Fotograf aus der Bauhaus-Schule und der große italienische Maler teilten die Überzeugung, dass alle Erscheinungen als Rätsel darzustellen seien. Beide haben die Empfindung des Unergründlichen gesucht und zu gestalten gewusst, die von jenen Konstellationen ausgeht, in denen wir selbst, unser Körper, alle unsere Empfindungen mit der Welt um uns verschmelzen. Der eigentümlichen Zeitlosigkeit, die die Straßenszenerie auf Umbos Fotografie umgibt, entspricht auf Seiten des Betrachters das Stillstehen aller Absichten. Unausweichlich verbindet sich das Gefühl des Selbstvergessens, die Hingabe an die Schönheit des Augenblicks, mit einer leisen Trauer über dessen Endlichkeit.
UMBO, 1902 in Düsseldorf geboren (mit bürgerlichem Namen Otto Umbehr), ist neben László Moholy-Nagy der bedeutendste aus dem Staatlichen Bauhaus hervorgegangene Fotokünstler. Während Moholy-Nagy die Fotografie aus dem Geiste des Konstruktivismus erneuerte, verknüpfte UMBO in seinem fotografischen Schaffen die Formensprache der Neuen Sachlichkeit mit den Ideen des Expressionismus. UMBOs Fotografie widerspiegelt die Atmosphäre der Gründungsjahre des Bauhauses, die sich in Weimar abspielten und noch ganz im Zeichen des Expressionismus standen, während Moholy-Nagys Fotografie für die zweite, die Dessauer Periode charakteristisch ist. Umbo gehörte zur Gruppe der „Wandervögel“, die das Bauhaus in Weimar bevölkert hatten. 1921 war er, ausgerüstet mit Zeltbahn und Gitarre, nach Weimar gewandert, um sich an der revolutionären neuen Kunstschule zum Maler ausbilden zu lassen. Bis 1923 hörte er die Übungsvorträge von Wassily Kandinsky, Paul Klee, Oskar Schlemmer und besuchte den de Stijl-Kursus, den der holländische Künstler Theo van Doesburg in Weimar abhielt. Doch die entscheidenden Impulse für sein späteres fotografisches Schaffen erhielt er in dem von Johannes Itten geleiteten Vorkurs. Die Fotografie gehörte in Weimar noch nicht zum Lehrprogramm des Bauhauses, doch war die Schulung in den Grundfragen der modernen Gestaltung, die den Studierenden durch Itten vermittelt wurde, so profund und umfassend, dass sie sich produktiv auf alle Gebiete des visuellen Ausdrucks übertragen ließ. Als UMBO 1923 von dem damaligen Direktor und Bauhaus-Gründer Walter Gropius von der Schule verwiesen wurde, weil er sich weigerte, wie ein zünftiger Handwerkslehrling acht Stunden am Tage in einer der Werkstätten zu arbeiten, sondern stattdessen mit seinem Kommilitonen, dem Maler Richard Oelze, im „Staatlichen Park“ herumtollte, übersiedelte er nach Berlin. Nach einer Zeit des künstlerischen Suchens als Zeichner und Graphiker entdeckte er Ende 1926 die Fotografie als das ihm gemäße Ausdrucksmittel. Unbehindert von allen handwerklichen fotografischen Traditionen verfuhr er mit dem Fotoapparat in der gleichen Art und Weise, wie er in den zurückliegenden Jahren das Zeichnen praktiziert hatte, nämlich ohne jeden Auftrag, rein aus dem Spieltrieb und der gestalterischen Neugier heraus. Dabei fand er auf Anhieb eine neue fotografische Porträtform, indem er die Technik des Close-up, die im modernen russischen Film damals Furore machte, auf das Gebiet der Bildnisfotografie übertrug. Mit UMBOs Porträts im Stile der filmischen Großaufnahme, die seit dem Frühjahr 1927 in den angesehensten Berliner Kunstzeitschriften und Unterhaltungsmagazinen („Der Querschnitt“, „Uhu“) veröffentlicht wurden, begann die Ära des „sachlichen“ Porträts in der deutschen, ja der europäischen Fotografie der 1920er Jahre. Es gab fortan kaum einen Fotografen oder eine Fotografin der modernen Schule, die nicht die Nahaufnahme des Gesichts als zeitgemäße Ausdrucksform des Porträts praktiziert hätte.
Nichtsdestotrotz blieben UMBOs Porträts, vor allem seine Frauenporträts, in ihrer Zeit unverwechselbar. Denn sie trugen bei allem filmischen Aspekt zugleich die Handschrift eines Zeichners, der gewohnt war, die gegenständliche Welt auf ihre graphischen Ausdruckswerte hin zu betrachten. Zeichnerisch-synthetische Eindrücke wie die Großform des Gesichts und die Harmonie der Hell-Dunkel-Komposition wirken stets zusammen mit dem sinnlichen Ausdruck von Augen und Mund. Diese scheinbar in gegensätzliche Richtungen zielenden gestalterischen Maßnahmen trafen sich in einem gemeinsamen Ziel: Empfindsamkeit und Kalkül, erotische Sensibilität und Coolness im Bildnis einer jungen Frau miteinander zu verknüpfen. Höhepunkt dieser neuen Bildnissprache war ein Porträt der avantgardistischen Berliner Schauspielerin und angehenden Schriftstellerin Ruth Landshoff von 1927, das fortan als Originalabzug in der Berlinischen Galerie zu bewundern ist. Es ist ein kleiner, nur 18 × 13 cm messender Kontaktabzug der ersten Stunde, auf dessen Rückseite UMBO die Bemerkung notiert hat: „Mein schönstes Foto“. Es ist Bestandteil eines Konvoluts von 66 Fotografien aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die die Berlinische Galerie jüngst erworben hat. Auf keinem anderen Porträtfoto UMBOs sind Abstraktion und Sinnlichkeit, Formschönheit und Wirklichkeitsnähe in ein derart harmonisches Verhältnis gebracht wie auf diesem Bildnis. In seiner Zartheit und Schlichtheit ähnelt es einer japanischen Zeichnung, mit der es auch das auffällige Detail gemeinsam hat, dass die Nase des Antlitzes nicht abgebildet ist, obwohl man sie zu sehen glaubt. Das Porträt wurde zuerst im April 1927 im „Querschnitt“ abgedruckt, einer sprühend lebendigen und zugleich höchst snobistischen Monatszeitschrift, die das Magazin der mondänen Berliner Szene war. Der Erfolg des Landshoff-Porträts machte UMBO zum meist gesuchten Porträtfotografen aller jungen Frauen der Berliner Boheme, die sich eine Karriere im Film, auf der Theater-, der Tanz- oder der Varietébühne, in der Literatur oder im Journalismus versprachen.
Doch war UMBO alles andere als ein Starfotograf. Er war ein Bohemien und Flaneur, sein bevorzugtes Thema war die Melancholie der Großstadt. Er fotografierte das Leben in den Straßen und Caféhäusern, die Poesie der Schaufenster, das Spiel der Lichter auf dem nassen Asphalt und Impressionen der Leuchtreklamen in der Nacht. Dabei beschritt er einen ganz persönlichen Weg, jenseits der metallischen Präzision der Neuen Sachlichkeit und der turbulenten Perspektiven des sogenannten Neuen Sehens. Während die Fetischisierung der Optik die Versuchung war, der diese beiden Kunstrichtungen oft erlagen, praktizierte UMBO in seiner Fotografie eine ganzheitliche Ästhetik, der es nicht nur um ein neues Sehen, sondern um die Integration von Sehen, Fühlen und Erkennen ging. Was seine Bilder in der Fotoszene der Weimarer Republik einzigartig machte, war die Verschmelzung der modernen, dynamischen Formprinzipien mit der expressiven Ästhetik seines ehemaligen Bauhauslehrers Johannes Itten. Daher lag es nahe, dass dieser seinen früheren Schüler 1928 als Dozent für Fotografie an seine private Kunstschule in Berlin berief. An dieser Schule, die auch das „Kleine Bauhaus“ in Berlin genannt wurde, lehrte UMBO neben seinen ehemaligen Bauhaus-Kollegen Georg Muche, Gyula Pap und Fred Forbat bis 1930. Doch auch zum „großen“ Bauhaus in Dessau unterhielt er weiterhin engen Kontakt. Wenn dort eines der sagenumwobenen Künstlerfeste gegeben wurde, eine neue revolutionäre Theaterperformance zu sehen war oder die Jazzkapelle aufspielte, war UMBO mit dem Fotoapparat zur Stelle.
Als Ende 1928 der Caféhaus-Literat und geistige Abenteurer erster Güte Simon Guttmann eine Foto-Agentur neuen Typs gründete, wurde UMBO ihr erster Fotograf. Die DEPHOT (Deutsche Photo-Agentur GmbH), wie sie sich nannte, hatte einen maßgeblichen Anteil an der Revolutionierung des Bildjournalismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Im Mittelpunkt dieser Umwälzung stand der Foto-Essay, eine Form der Reportage, die uns heute allen vertraut ist, für das damalige Illustriertenpublikum jedoch eine Sensation war. Neu an ihr war, dass sie nicht über die großen staatstragenden Ereignisse, über Fürstenhochzeiten und Naturkatastrophen berichtete, sondern über die Dinge des Alltags, und dies in einer Weise, dass sie völlig neu aussahen, so, wie sie zuvor noch niemand gesehen hatte. Große Schriftsteller wie Kurt Tucholsky, Franz Hessel und Erich Kästner waren sich nicht zu schade, sich an der neuen literarisch-visuellen Ausdrucksform zu versuchen. So hat Franz Hessel den Text zu Umbos berühmtester Foto-Reportage verfasst: einem Bildbericht über die Erotik der Schaufensterpuppen, der 1929 unter dem Titel „Die gefährliche Straße“ im Frankfurter „Illustrierten Blatt“ erschienen ist. UMBO war der Poet unter den Bildjournalisten der DEPHOT. Die politische Bühne interessierte ihn nicht. Ihn zog es in die Welt des Theaters, des Films, des Kabaretts und der Cafés in der Metropole.
Dass es anders als im Falle eines László Moholy-Nagy, August Sander und Albert Renger-Patzsch nach dem Krieg um UMBO relativ still geworden ist, lag daran, dass er bei einem Bombardement Berlins 1943 sein komplettes Werk verloren hatte. Sein Archiv umfasste damals ca. 50.000 bis 60.000 Negative und eine unbekannte Anzahl Positive. Ohne ein einziges der Meisterwerke zur Hand, die einst Fotogeschichte gemacht hatten, und ohne die Möglichkeit, auf sein Archiv zurückzugreifen, gelang es ihm nach dem Krieg nicht mehr, an seine früheren Erfolge anzuknüpfen. Nachdem er 1945 in Hannover gestrandet war, nahm er dort seine fotografische Tätigkeit wieder auf. Er arbeitete nacheinander als Lokalreporter, als Repro- und Vernissagen-Fotograf der Kestnergesellschaft sowie als Lehrer für Fotografie in Bad Pyrmont, Hildesheim und an der Werkkunstschule Hannover. Unter den Fotografien in seinem Nachkriegsœuvre ragen vor allem eindrückliche Porträts von Kriegsheimkehrern, Ansichten des zerbombten Berlin und Hannover sowie eine Gruppe von annähernd hundert Industriebildern und Großstadtimpressionen hervor, die er 1952 auf einer dreimonatigen Reise durch die USA gemacht hat. Nachdem er im Zuge der Renaissance der modernen Fotografie in den 1970er Jahren seinen zweiten Ruhm im internationalen Maßstab noch erleben konnte, starb er im Mai 1980 in Hannover. Eine vom Verfasser organisierte Retrospektive, die 1995 und 1996 in den Städten Düsseldorf, Frankfurt, Berlin, München, Hannover, Bern und Paris gezeigt wurde, stellte UMBOs Rang als einen der großen Neuerer der modernen Fotografie nachdrücklich unter Beweis.
Jetzt haben die Berlinische Galerie, die Stiftung Bauhaus Dessau und das Sprengel Museum in Hannover wichtige Teile des Werks von UMBO für die deutsche Museumsszene gesichert, indem sie auf Initiative der Kulturstiftung der Länder in einer konzertierten Aktion sowohl den kompletten Nachlass aus dem Besitz der Familie als auch zwei bedeutende Konvolute an frühen Originalabzügen aus den Beständen des Sammlers Thomas Walther und der Berliner Galerie Rudolf und Annette Kicken erworben haben. Für das Bauhaus-Jubiläumsjahr 2019 hat jedes Haus eine eigene Ausstellung zu jeweils einer Schaffensperiode des Fotografen angekündigt. Dabei darf man ganz besonders auf noch unbekannte Bilder gespannt sein, die die geplante Auswertung des Negativarchivs aus den Nachkriegsjahren im Sprengel-Museum möglicher-weise zu Tage fördern wird.
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Ernst von Siemens Kunststiftung und weitere Stifter