Späte Entdeckungen
Liebe Leserin, lieber Leser,
kein Geringerer als Charles Baudelaire hat 1863 den Typus des „Flaneurs“ bestimmt: „Für den vollkommenen Flaneur, für den passionierten Beobachter ist es ein ungeheurer Genuss, in der Menge zu hausen, im Wogenden, in der Bewegung, im Flüchtigen und Unendlichen. […] Er betrachtet die Landschaft der großen Stadt, Landschaften von Stein, über die kosend der Nebel gleitet, auf die peitschend die Strahlen der Sonne niederfallen. […] So geht er, läuft und sucht.“
Was aber sucht der Flaneur? Baudelaire gab eine überraschende Antwort: „Er sucht jenes Etwas, das ich mit Verlaub als die Modernität bezeichnen will.“
Über ein halbes Jahrhundert später lief ein solcher Flaneur durch die Straßen Berlins, aus Weimar kommend, wo er Schüler am Bauhaus gewesen war. Auch dieser Flaneur suchte die Modernität. Er fand sie und er hielt sie fest – mit der Kamera: Stadtlandschaften und Porträts, poetisch, expressiv, beiläufig, perspektivisch oft gewagt, Momente der Beobachtung, mehr als nur real, mitunter surreal. Modernität sprach schon aus dem Namen des jungen Mannes, den er sich selbst gegeben hatte. Kein Vorname, kein Nachname, eher eine Marke, eine Wortmarke: UMBO, selbstbewusst versal. UMBOs eigentlicher Name klang ihm offenbar zu sehr nach alter Zeit: Otto Maximilian Umbehr.
Spät hat man UMBO als einen der bedeutendsten Fotografen der Bauhaus-Ära wiederentdeckt, aber nicht zu spät. Er selbst, der 1980 starb, konnte seine Renaissance noch miterleben, eine Renaissance indes auf dünnem Boden, denn nahezu sein ganzes Schaffen war im Bombenhagel untergegangen, über 50.000 Negative wurden 1943 zerstört. Nur das Wenigste aus der Vorkriegszeit des Fotografen hat sich bis in die heutige Zeit erhalten. Umso glücklicher können sich drei deutsche Städte schätzen, den Nachlass des Bauhaus-Künstlers nun für die Öffentlichkeit gesichert zu haben: Berlin, Dessau und Hannover. 2019, zur Hundertjahrfeier des Bauhauses, wollen Berlinische Galerie, Bauhaus Dessau und Sprengel Museum UMBO ausstellen und feiern. Die Kulturstiftung der Länder ist froh, dass sie diese konzertierte Erwerbung befördern konnte.
Steht das Ende des Bauhauses für den zunehmenden ideologischen Druck des NS-Regimes auf die Moderne bis hin zur „Entarteten Kunst“-Aktion von 1937, so zeigt die Zwangsversteigerung der Kunstsammlung Mosse von 1934 exemplarisch die Entrechtung und Verfolgung der deutschen Juden. Hunderte von Werken aus der Sammlung des großen Zeitungsverlegers Rudolf Mosse wurden in alle Winde verstreut. Erst jetzt, über 80 Jahre später, bringt die Provenienzforschung Licht in dieses Dunkel der deutschen „Kunst-Geschichte“. Überglücklich ist die Kunsthalle Karlsruhe, dass es gelungen ist, Carl Blechens „Blick auf das Kloster Sta. Scolastica bei Subiaco“ für das Haus zu bewahren, nachdem das Gemälde als Restitutionsfall identifiziert und mit unserer Hilfe nun von den Erben zurückerworben werden konnte – ein Modellfall, so steht zu hoffen, für weitere Kunstwerke der Sammlung Mosse.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien einen wunderbaren Herbst und empfehle Ihnen ab Seite 50 unser Porträt des Stifters und Sammlers August Hermann Francke, mit dem wir das Land Sachsen-Anhalt in den Blickpunkt rücken möchten, dem diese Ausgabe von Arsprototo gewidmet ist.
Ihre Isabel Pfeiffer-Poensgen