Tanz und Traum
Mehr als fünfhundert Jahre tanzen sie schon mit dem Tod: Mönche, Bürger, Papst und Kaiser wiegen sich zu beiden Seiten der mittelalterlichen Kreuzigungsszene, über 22 Meter erstreckt sich der gemalte Reigen in der Berliner Marienkirche. Er ist eines der ältesten Kunstwerke Berlins und einer der größten erhaltenen Totentänze überhaupt. Im 19. Jahrhundert war es Hofbaurat Friedrich August Stüler, der die damals unter Kalk verborgene Todesallegorie wieder ins Licht der Pfarrkirche holte. Seit jeher umgaben Grabdenkmäler bedeutender und vermögender Bürger den Totentanz, und auch Berlins Bürgermeister Heinrich Retzlow war um 1642 ein solch reich bemaltes Epitaph gewidmet.
Einige Jahre zuvor, im Januar 1637: Getanzt wird nur selten. Der Tod spielt trotzdem die Hauptrolle. In ganz Europa wütet der Dreißigjährige Krieg, auch die Berliner spüren seine Auswirkungen. „Wegen Pest, Krieg, Verfolgung frommer unschuldiger Christen“ hat Kurfürst Georg Wilhelm von Brandenburg (1595 –1640) Feste und Vergnügungen jeglicher Art in der gebeutelten Stadt verboten. Vor der Bürgerschaft schwört der Ratsherr Heinrich Retzlow seinen Amtseid. Das Wenige, was über den späteren Bürgermeister bekannt ist, erfahren wir aus den goldenen Lettern seines Epitaphs in der Marienkirche. 1586 in Berlin geboren, wurde er nach dem Jurastudium in Frankfurt (Oder) und Wittenberg öffentlicher Notar, heiratete 1622 die Wittenberger Bürgertochter Anna Margarethe Förster. Auch den frühen Tod des gemeinsamen Sohnes Valentin verzeichnet Retzlows Grabdenkmal. Wie schon sein Vater wird der Notar von 1637 an für zwei Jahre dem Rat der Stadt vorstehen.
Wahrscheinlich keine leichte Aufgabe: Das Schwanken Georg Wilhelms zwischen den verfeindeten Parteien des Dreißigjährigen Krieges mündete im politischen Chaos. Längst hatte der wankelmütige Souverän Berlin verlassen, seine Residenz nach Königsberg im fernen Ostpreußen verlegt, Berlin der marodierenden Soldateska preisgegeben, die Plünderung und Seuchen mit sich brachte. Schon im ersten Regierungsjahr Retzlows wurden die nebeneinanderliegenden und gemeinsam regierten Städte Berlin und Cölln von einer Pestepidemie heimgesucht, es sollte die letzte sein und zugleich die schwerste. Immer wieder hatte die Seuche eine Spur des Schreckens gezogen. 5.000 Spree-Bürger, fast die Hälfte der Einwohner, raffte sie bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges hinweg. Den Aufschwung Berlins unter Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640 – 1688), dem „Großen Kurfürsten“, nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges erlebte Heinrich Retzlow nicht mehr. Als der ehemalige Bürgermeister 1642 starb, stand jedes dritte Haus leer.
Bestattet wurde Retzlow in der um 1270 erbauten gotischen Marienkirche, die heute als Relikt aus alten Zeiten im Schatten des Fernsehturms am Rand des Alexanderplatzes steht. Seiner Pfarrkirche war der Bürgermeister eng verbunden, davon zeugt auch eine erhaltene silberne, innen vergoldete Abendmahlskanne. Noch als Ratsherr stifteten Retzlow und seine Frau sie der St. Mariengemeinde, wohin die Kanne dank der Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung vor rund zwei Jahren zurückkehrte.
Ebenso wie die schlichte Kanne spiegelt auch das Epitaph die Stimmung der kriegsmüden Stadt wider. Mit einem Spruch aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi begreift das Epitaph in barocker Manier das Sterben als Erlösung: „Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn.“
Eingefasst in einen schwarz lackierten Nadelholzrahmen mit Schrifttafel und profiliertem Gesims, zeigt eine große Bildtafel eine Szene aus dem Alten Testament. Erschöpft von seiner Reise ruht sich Jakob, der Sohn Isaaks, auf einem Stein aus. Im Traum erscheint ihm eine Himmelsleiter, auf der Engel auf- und absteigen und an deren Ende in den aufgerissenen Wolken Gott höchstselbst wartet. Der Maler – das Werk ist Michael Conrad Hirt (1613 –1671) zugeschrieben – hat es dem Betrachter leicht gemacht, Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden: In kräftigen Farben malte er Jakob und die ihn umgebenden Bäume, die Landschaft im Hintergrund des Gemäldes tauchte er in zarte, sphärisch-blasse Blau- und Rosétöne. So wird Jakobs Traum – kein typisches Motiv für ein Epitaph – zum Symbol für den Lebensweg des Verstorbenen. Das über eine Brücke gehende Paar kann für den Übergang in ein anderes Reich stehen, die Himmelsleiter wird zum Auferstehungssymbol.
Anna Margarethe Förster, Retzlows Witwe, stiftete das große gemalte Epitaph, das sich noch heute in der Marienkirche befindet. Sein ursprünglicher Standort ist nicht überliefert. Die älteste Nachricht geht jedoch bereits auf das frühe 18. Jahrhundert zurück, als sich das Grabmal Retzlows am rechten Pfeiler in der Turmhalle befand: Dort war es dem großen Totentanz zugewandt.
Doch vergänglich war selbst das Epitaph: Holzwürmer hinterließen ihre Spuren in den Brettern der Tafel und des Rahmens, die Malschicht war abgeplatzt, zwei große Risse durchzogen Jakob und seinen Traum. Dank der Unterstützung des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder konnte dieses wichtige Stück Berliner Stadtgeschichte nun restauriert werden: Das Bild wurde von seinem verbräunten Firnis befreit, die Brettfugen geschlossen, Malerei und Rahmenfassung wurden gekittet und durch Retuschen geschlossen. In Zukunft wird das Epitaph Heinrich Retzlows an prominenter Stelle im Schiff der Marienkirche wieder zu sehen sein.