Von allen Seiten
Liebe Leserin, lieber Leser,
wer von uns wüsste schon, wie er sich verhalten würde in einer Diktatur? Angesichts von Unrecht, Willkür und Verfolgung? Wer würde aufbegehren? Wer sich anpassen? Wer seine Heimat verlassen, wer dort bleiben? Fragen, die heute in manchem gar nicht allzu fernen Land aktueller denn je erscheinen – und zugleich Fragen, die sich viele Menschen nach dem Schicksalsjahr der Deutschen 1933 stellen mussten, wenn sie denn überhaupt eine Wahl hatten. Keine Wahl hatten Künstler wie Otto Freundlich, dem das Museum Ludwig in Köln gerade eine vielbeachtete Retrospektive widmet. Als Jude verfolgt, wurde er ein Opfer von Rassenwahn und ideologisierter Kulturpolitik. Die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Ausstellung zeigt die Strahlkraft seines überlebenden Werks.
Das Verhältnis der neuen Machthaber zur Moderne war durchaus ambivalent. Goebbels schätzte Barlach, ließ sich von Leo von König malen; an Versuchen, den Expressionismus als „nordisch“ in das Kunstkonzept der Nazis aufzunehmen, hat es nicht gefehlt – ebenso wenig wie am Andienen mancher Maler an die neue Macht. Selbst Maler, deren Werke als „entartet“ verfemt worden waren, konnten als Mitglieder der „Reichskammer der Bildenden Künste“ im Nationalsozialismus weiterarbeiten, auch verkaufen, so lange sie – als Expressionisten – ihren Duktus milderten oder aber – als Veristen – ihre Sujets. Nolde, Heckel oder Dix, Kolbe, Schad oder Richard Müller, Radziwill, Schlichter oder Schrimpf, sie alle reagierten auf ihre Weise auf die Herausforderungen ihrer Zeit, von der „inneren Emigration“ bis hin zur überzeugten Kollaboration mit dem neuen Regime.
Seit jüngerer Zeit betrachten Kunsthistoriker an Universitäten und Museen das Kunstschaffen im „Dritten Reich“ differenzierter als dies in den zurückliegenden Jahrzehnten geschehen ist und wohl auch möglich war. Nicht länger möchte man so einfach trennen zwischen Gut und Böse, Avantgarde und Nazi-Kunst, Verfemung und Unterwerfung. Stattdessen soll es um eine Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen der Kunstproduktion im Spannungsfeld von Fremd- und Selbst-Zensur gehen.
Museen wie die Nationalgalerie in Berlin oder das Städel Museum in Frankfurt zeigen und erwerben bewusst Gemälde und Skulpturen, die solchen Zwiespalt spiegeln. Münchens Pinakothek der Moderne ging noch einen Schritt weiter und konfrontierte im vergangenen Jahr sogar Adolf Zieglers „Vier Elemente“ mit Max Beckmann – all dies Versuche, ein breiteres Bild der Kunstgeschichte aufzumachen, das zum Nachdenken anregt und gelegentlich Kritik provoziert. Museen sollten sich dem stellen, denn sie sind die richtigen Orte, um nicht zuletzt auch für Verdrängtes und Verborgenes den Blick zu öffnen. Und so möchten auch wir in der Frühjahrsausgabe von Arsprototo solchen Fragen auf den Grund gehen, aus Anlass dreier Erwerbungen von Werken von Otto Dix, Erich Heckel und Oskar Schlemmer, die wir für Museen in Stuttgart und Dresden ermöglichen konnten. Dabei ist zweierlei klar: Einfache Antworten werden hochkomplexen Sachverhalten nicht gerecht, und lange ist die Forschung hier noch nicht zu Ende.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien einen schönen Frühlingsanfang und empfehle Ihnen unser Porträt des Dieselkraftwerks Cottbus, mit welchem wir das Land Brandenburg würdigen möchten, dem dieses Heft gewidmet ist.
Ihre Isabel Pfeiffer-Poensgen