Historischer Weitblick

Das Frankfurter Städel Museum hat mehr als tausend Fotografien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erworben. Sie kommen aus der Sammlung der Berliner Galeristen Rudolf und Annette Kicken. Das Spektrum der Werke reicht von August Sander bis zu Man Ray. So klingt in lapidaren Worten, was eine singuläre Chance heißen darf, vor dem Hintergrund eines klaren und innovativen musealen Konzepts. Max Hollein, der Direktor des Städels, kommentiert das so: „Die Zusammenstellung ist nicht nur durch die außergewöhnliche Seltenheit und den perfekten Erhaltungszustand, sondern vor allem durch die besondere Qualität der Aufnahmen einzigartig. Wir sind überglücklich, dass dieses historische Zeugnis des visuellen Wissens der damaligen Fotografengeneration ins Städel kommt. Der Erwerb würdigt auch die fundamentale Pionierleistung von Rudolf Kicken für die Rezeption der Fotografie.“

Alfred Ehrhardt, Bodenriffelung, aus der Serie Watt, 1933 - 36, 23,8 x 16,5 cm; Städel Museum, Frankfurt a.M.
Alfred Ehrhardt, Bodenriffelung, aus der Serie Watt, 1933 – 36, 23,8 x 16,5 cm; Städel Museum, Frankfurt a.M.

Dahinter steht, dass das Städel seit 2008 gezielt einen Bestand an Fotografie aufbaut, der gleichberechtigt neben Gemälden, Plastiken und Arbeiten auf Papier stehen soll. Begonnen hat diese Aktivität mit der Eingliederung von 210 zeitgenössischen Arbeiten von 76 Fotokünstlern seit 1945, die aus der Kollektion der DZ Bank kamen. Es folgte im Jahr 2011 die erlesene Sammlung von Wilfried und Uta Wiegand, die mit zweihundert Einzelfotografien und hundert weiteren Abzügen in Alben die Klassische Moderne, vor allem aber das 19. Jahrhundert mit feinsten Zeugnissen des Piktorialismus abdeckt, jener Stilrichtung, die seinerzeit das junge technische Medium mit der Malerei in Konkurrenz treten ließ. Diese beiden Epochen fotografischen Schaffens sind inzwischen in die Präsentationen des Museums integriert, wo sie unverwechselbare Akzente setzen.

Dank der Fotografiesammlung von Rudolf und Annette Kicken kann das Frankfurter Haus jetzt die bisher noch offene historische Lücke füllen. Ganz genau handelt es sich um 1173 einzelne Aufnahmen, die als Konvolut die europäische Avantgarde umfassend abbilden. Die Rede ist hier vor allem von wichtigen Zeugnissen der „Neuen Sachlichkeit“, der Fotografie des „Bauhauses“ und der „Subjektiven Fotografie“ der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik.

Einmal mehr waren es der Städelsche Museums-Verein, dessen großzügig mäzenatischer Bürgersinn inzwischen weithin bekannt ist, und die Hessische Kulturstiftung, die bei der Finanzierung halfen. Wesentlich für die Investition, die im Bereich mehrerer Millionen Euro liegt, war endlich die Unterstützung von Seiten der Kulturstiftung der Länder. Isabel Pfeiffer-Poensgen, deren Generalsekretärin, hat das so begründet: „Für die Kulturstiftung der Länder war nicht zuletzt die Entscheidung des Städel Museums, die Geschichte der Fotografie in die Präsentation der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts gleichberechtigt einzubinden, ein Grund für die Förderung dieser wichtigen Erwerbung. Mit der nun vorgenommenen Erweiterung der Bestände kann eine auch unter konservatorischen Gesichtspunkten ausgewogene Sammlungspräsentation realisiert werden, die bei Neuhängungen den empfindlichen Kunstwerken die notwendigen Ruhephasen erlaubt.“

Dabei kommt dieses Engagement keineswegs out of the blue: Tatsächlich hatte die Kulturstiftung der Länder schon einen Beitrag beim Erwerb der Fotografiesammlung Wiegand durch das Städel geleistet (Arsprototo 2/2011). Was Isabel Pfeiffer-Poensgen mit ihrem Statement unterstreicht, ist die konsequente Förderung einer Idee des Museums als Bewahrungsort für das kollektive Bildgedächtnis, aus dem die Fotografie nicht mehr wegzudenken ist. Es ist viel über die Abwanderung bedeutender Sammlungen geklagt worden, doch mit seinen jüngsten Erwerbungen ist Frankfurt zu einem weiteren Stützpunkt der Fotografie in der deutschen Museumslandschaft geworden.

Der jetzige Ankauf umfasst 524 Fotografien, weitere 649 Blätter überlassen Rudolf und Annette Kicken dem Museum als Schenkung. Diese mäzenatische Großzügigkeit, die eine im Aufbau befindliche Sammlung erheblich erweitert und damit die Institution stärkt, steht in der großen Tradition bürgerlichen Engagements für Kunst und Kultur, der das Städel seine Gründung als eines der ältesten Kunstmuseen Deutschlands im Jahre 1815 verdankt. Rudolf Kicken, Jahrgang 1947, ist ein weltweit renommierter Galerist, Händler und Hüter fotografischer Nachlässe. Sein Geschäft begann er in den siebziger Jahren, doch nur wenige wussten von ihm auch als Sammler von Fotografie. „Aber das geht gar nicht anders, es ist ja eine Leidenschaft“, sagt er selbst dazu. Als Kunsthändler hat er jedes Foto erst einmal verkauft; gab ihm der Kunde aber eines, das ihm wichtig war, zurück, behielt er es: „Dann war es meines.“

Neben den Spitzenstücken sind es die Werkgruppen, eines Künstlers oder einer Epoche, die diese Erwerbung für das Museum besonders wertvoll machen. So werden Namen ins allgemeine Bewusstsein kommen, die bisher nicht geläufig sind. Die Rede ist nicht nur von August Sander, mit einem bisher unbekannten gespenstischen Familienporträt vom Beginn des 20. Jahrhunderts, von Rudolf Koppitz und Hugo Erfurth, von dem etwa das großartige Bildnis des alten Malers Hans Thoma stammt, oder Albert Renger-Patzsch. Es geht um den auch als Kunstkritiker bekannten Franz Roh oder den neusachlichen Architektur- und Industriefotografen Werner Mantz, um die Bauhaus-Fotografie mit Lucia Moholy oder dem jungen Lux Feininger, Sohn des Malers Lyonel Feininger. Werner Rohde ist vertreten und Otto Steinert, der Begründer der „Subjektiven Fotografie“, in der Folge Toni Schneiders und Anton Stankowski. Hinzu kommen die tschechische Avantgarde, repräsentiert von František Drtikol oder Josef Sudek, aber auch autorisierte Abzüge berühmter Bilder von Man Ray, darunter sein Picasso-Porträt.

Die Fotografie, so Max Hollein, ist ein künstlerisches Leitmedium des zwanzigsten Jahrhunderts, inzwischen eine klassische Kunstform. Von seinen Anfängen an hat das Städel Arbeiten auf Papier, Zeichnungen und Graphik von den Alten Meistern bis in die Gegenwart, gesammelt. Die Frage, ob denn die Fotografie nicht auch zu den Arbeiten auf Papier gehöre, hat das Haus mit seiner Sammlungsstrategie eindeutig beantwortet. Dabei zielt das Kalkül nur auf das Beste. Mit der aktuellen Erwerbung ist im Städel ein weiteres Stück vom ästhetischen und gesellschaftlichen Aufbruch des 20. Jahrhunderts bewahrt. Und erwähnt sei schließlich, dass dieser schöne Erfolg zeigt, dass der Kunsthandel und das Museum – auch in Deutschland – keine geborenen Antagonisten sind. Eine erste Präsentation mit Fotografien aus der Sammlung Kicken ist schon in diesem September geplant.