Ein absoluter Rebell
Wols. Der Name, unter dem Alfred Otto Wolfgang Schulze 1913 in Berlin geboren wurde und – wenn auch erst nach seinem frühen Tod – in die Geschichte der Kunst des tumultuösen frühen 20. Jahrhunderts einging, war nicht die Erfindung des jungen Künstlers. Es war vielmehr das akustisch-orthographische Missverständnis des Telegrafenamts in Paris. Der Künstler, der die Komplikationen des Daseins, die ihm seit jungen Jahren ein entbehrungsreiches Leben oft zur Qual werden ließen, nie in seiner Arbeit sichtbar werden ließ, nahm diese Namensgebung an und hin, gelassen. So wie auch die Zuordnung zur Kunst des „Informel“, einer Kategorie, die der französische Kritiker Michel Tapié für die gegenstandslose Kunst nach 1945 geprägt hatte. Zu dieser Zeit befand sich auch Wols nach jahrelanger Internierung und Versteckspiel vor den deutschen Besatzern wieder in Paris, ein Emigrant, der 1932 sein Elternhaus in Dresden in Richtung Frankreich verlassen hatte, zwei Jahre später staatenlos und durch seine Heirat im Oktober 1940 französischer Staatsbürger wurde. Wols, der Grenzgänger, der Einzelgänger, lud mit seinem extremen Leben, seiner Absage an die bürgerlichen Verhältnisse, aus denen er kam und die Entscheidung für das Ärmliche, das Ungebundene, die Interpreten geradezu dazu ein, Leben und Werk in eins zu setzen – der „Mythos Wols“ war geboren, der Künstler zum Existenzialisten stilisiert. Die große amerikanische Sammlerin Dominique du Menil fasste Wols’ Attitüde mit dem schönen Aperçu zusammen: „Er war der absolute Rebell, der sich nicht einmal um Rebellion scherte.“

Das Informel, das schon vom Begriff her das Air eines ephemeren Auftritts in sich trägt, ist heute nur noch ein Absatz verblasster Kunstgeschichte der europäischen Nachkriegszeit, anders als der abstrakte Expressionismus, mit dem sich Amerika zur selben Zeit als Siegermacht in Sachen Kunst vorstellte und die westliche Welt eroberte. Verwandt ist beiden Positionen die ferne Erinnerung an den Surrealismus, den die jungen Amerikaner in der Kunst der Emigranten sahen, und dem Wols in den 1930er Jahren in Paris begegnet war. Bestimmend wurde das Informel von Paris aus für die Kunstgeschichte der frühen Bundesrepublik. Einige Namen, die man zum Informel zählte, haben überlebt. Zum Beispiel Wols, der zu Lebzeiten ein Einzelgänger, kein kommerziell Erfolgreicher, sondern ein Künstler für Künstler und Kenner war. Als sein Werk 1958 auf der Biennale in Venedig und 1959 auf der Kasseler Documenta gezeigt wurde, hatte sein Leben zwischen Not und Alkohol – wohl durch eine Lebensmittelvergiftung plötzlich und doch nicht überraschend im Jahr 1951 – bereits geendet. Ein Foto, das im Jahr zuvor aufgenommen wurde, zeigt ihn im Bett mit Hut, Pfeife und einem kleinen Banjo.
Mit den Fotos von Wols, darunter einigen Selbstporträts, begann eine umfassende Ausstellung der Bremer Kunsthalle, bei der man auch von einem informellen Wunder sprechen kann. Denn das Jahr von Wols’ 100. Geburtstag ist ein Jahr der Wiederentdeckung und Neubewertung des Künstlers, denn nahezu zeitgleich mit der Präsentation der Gemälde, Zeichnungen und Aquarelle in Bremen zeigte das Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden unter dem Titel „Der gerettete Blick“ in einer fulminanten Präsentation Wols’ Fotografie. Durch Verluste dezimiert, in der kurzen Zeitspanne zwischen 1932 und 1939 entstanden, gelang es, durch die Modern Prints aus dem Nachlass von Wols’ Schwester, Elfriede Schulze-Battmann, auch diesen Teil des Œuvres für die Öffentlichkeit zu bewahren und zugänglich zu machen. So war erstmalig der ganze Wols zu sehen und in seiner medialen Vielfalt zu entdecken, jenseits der Klischees.
Die Fotos, die Wols in Paris machte, haben für den heutigen Betrachter, der die Fotoarbeiten von Andreas Gursky, Thomas Ruff oder Thomas Struth kennt, eine Poesie und Härte zugleich, die auch nach acht Jahrzehnten nichts von ihrer Wirkung verloren haben. Ein am Boden schlafender Clochard, Muscheln, verregnetes Straßenpflaster, eine verlorene Puppe, mit zerfetzten Plakaten übersäte Hauswände, eine Büchse mit Ölsardinen – das Arsenal des schwarz-weißen Pariser Alltags. Seine größten – auch kommerziellen Erfolge – hatte Wols, der als Porträtfotograf in der damaligen Welthauptstadt der Kunst zu bestehen versuchte, mit den Aufnahmen des Pavillon de l’Élégance 1937: Im Auftrag der Pariser Couturiers galt es, den Pavillon der französischen Modeindustrie auf der Weltausstellung zu dokumentieren, ein Auftrag, den Wols weniger im Sinne der zeitgenössischen Modefotografie, sondern mit seinem sehr eigenen Blick erledigte – dramatische Schattenwürfe und Schwarz-Weiß-Kontraste, Fragmentierungen und Ausschnitte verleihen dem harmlosen Sujet einen verfremdenden, verstörenden Charakter, man fühlt sich an die Ästhetik und Vorgehensweise der Surrealisten erinnert.
Vielleicht wäre Wols Fotograf geblieben, wenn er nicht, eine Folge der deutschen Kriegserklärung an Frankreich, am 3. September 1939 interniert worden wäre. Vom Stadion Roland-Garros in Paris ging es durch fünf weitere Lager, Vierzon, Montargis, Neuvy-sur-Barangeon und Carrigues. Im Camp des Milles, einer aufgelassenen Ziegelei in der Nähe von Aix-en-Provence, in die er schließlich im Mai 1940 verlegt wurde, waren auch Max Ernst, Hans Bellmer, Willy Maiwald, Heinrich-Maria Davringhausen, Lion Feuchtwanger, Walter Hasenclever, Anton Räderscheidt, Max Raphael, Alfred Kantorowicz und Franz Hessel interniert.
Hier waren die Lebensbedingungen ein wenig erträglicher, seine Gefährtin Gréty kann ihm Malutensilien schicken, und in dieser Zeit entstanden die kleinen, zartfingrigen Aquarelle, in denen Wols, der insistierende Träumer, der schon als Kind gezeichnet hatte, vielleicht am nächsten bei sich selber war und die das filigrane Zentrum seines Œuvres ausmachen. Hier treffen sich Akrobaten und Amöben, Schiffe und Gespenster, Zwitterwesen mit wehenden Haarsträhnen, zu Rüsseln mutierten Köpfen und seegetierartigen Unterleibern. Das alles auf unbewohnten Inseln, in der Ferne wächst ein Kaktusbaum, ein Fesselballon steigt mit einem Mann an Bord auf in den Himmel, von dem im Zweifelsfalle eine Mondsichel herab grüßt. In diesen wundersamen Blättern gibt Wols sich als ein Bruder von Christian Morgenstern zu erkennen (nicht nur, aber auch wegen des maritimen Mobiliars), vor allem aber auch als ein Landsmann von Jean Paul, dem Autor von „Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch“.
Cassis, dann nach der Besetzung ganz Frankreichs durch die Deutschen am 11. November 1942 Dieulefit, ein winziges Städtchen unweit von Montélimar, werden zu den nächsten Zufluchtsorten von Wols und Gréty. Auch hier, unter neuerlich widrigen Umständen, arbeitet Wols. Und er trifft den ebenfalls geflohenen Schriftsteller Henri-Pierre Roché, den Autor des später von Truffaut verfilmten Romans „Jules et Jim“ und schließt Freundschaft. Roché wird zu seinem ersten Sammler. Es war dann aber der Pariser Galerist René Drouin, der Wols nach dem Kriegsende und seiner Rückkehr nach Paris und einer ersten Ausstellung seiner Aquarelle zur Jahreswende 1945/46 zur Malerei animierte. Die umfassende Jubiläumsausstellung, welche die Kunsthalle Bremen dem Künstler in diesem Jahr widmete, zeigte die Übergänge und schließlich den Wechsel vom Zeichner zum Maler, der einmal selber gesagt hatte, dass die Bewegungen der Hand und Finger genügten, um alles auszudrücken, wohingegen die Bewegung der Arme, die zum Bemalen der Leinwand notwendig sei, doch „zuviel von ehrgeiziger Absicht und von Gymnastik“ habe. Die Ergebnisse der Gymnastik brachten Wols, den Zeichner und Aquarellisten sehr lebendiger Phantasiewelten, in die gestisch geprägte Gesellschaft von Informel und Tachismus, schließlich durch die posthumen Ausstellungen auch in die Nachbarschaft der internationalen Kunstszene, zum Beispiel von Mark Tobey.
Das Gemälde „Tiges“ (Stämme), datiert um 1946/47 und vom Saarland-Museum in Saarbrücken mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder erworben, schließt an diese Reihe der ersten vom Galeristen ermöglichten Gemälde an – denn der Künstler am Existenzminimum hätte sich den Wechsel in das neue Medium, in das er hier aufbrach, nicht leisten können. Der nachträglich applizierte Titel öffnet dem Betrachter den Weg in das Werk, erzählt, was der Künstler im Akt des Sehens, des Malens, nicht verbalisieren musste. Er selber hat seine Arbeiten nie signiert, ihnen auch keine Titel gegeben, das machte die Nachwelt in Gestalt seiner Frau Gréty, das übernahmen Kunsthändler und Sammler. Wols selbst formulierte im Vorwort des Kataloges der Ausstellung seiner Aquarelle bei Drouin in Paris 1945 seine Sehanleitung: „Sich an die einfachen Dinge halten, ist gut und richtig. Im Sehen soll man sich nicht darauf versteifen, was man aus dem, was man sieht, machen könnte. Man soll sehen, was ist.“ Zu sehen ist eine Komposition, die – charakteristisch für Wols – das Zentrum des Gemäldes fokussiert, in den Randzonen ist das Bildfeld schwächer bearbeitet, während in der dichten, sich überlagernden Bildstruktur drei durch kreisförmige Markierungen betonte Positionen auszumachen sind, die durch ein vertikal und diagonal verlaufendes, vermutlich die Titelassoziation auslösendes Liniengerüst verbunden sind. Diese Struktur erscheint vor dem monochromen Hintergrund zu schweben; die malerischen Setzungen erlauben Assoziationen an die Realität, gerade in den schneckenförmig anmutenden Gesten, bleiben aber schwebend vor einer deskriptiven Festlegung.
Wie Grenzpfeiler scheinen Zeichnungen des Übergangs, auf denen die netzartigen Häusertürme und Stadtstrukturen zu kräftigen Gittern oder kompakten Stäben geworden sind, sich dem Wechsel in den Weg stellen zu wollen. Aber Wols, der Maler, findet nach Bildern, in denen Struktur, Zufall und schließlich auch die fließende Farbe selber sich zu im Zweifelsfalle dunkel gestimmten Kompositionen verdichten, in seinen ganz späten Arbeiten auch zu einer Leichtigkeit, zu helleren Farben und offenen Strukturen zurück. Gerade in seinem letzten Lebensjahr sind diese Bilder entstanden, auf denen, mit dem Stiel des Pinsels oder durch eine Farbspur hervorgehoben, Strukturen und Formen aus dem lichten Hintergrund auftauchen, die dem Zufall als Spiel des Phantastischen folgen und ihn nicht als überwältigendes Chaos hinnehmen. Da taucht ein Geisterschiffskelett aus einem grüngrauen Farbnebel auf, und „Le fantôme bleu“ steht nicht für ein blaues Phantom, sondern, viel märchenhafter, für ein schwarzes Wesen vor einem azurblauen Hintergrund.
Vor dem Malen, hatte Wols dem Freund und frühen Sammler Roché gesagt, schließe er langsam beide Augen, das, was er malen werde, zeige sich dann unter seinem rechten Lid. Womit er, der in Dresden aufgewachsen war, auf eine sehr körperliche, vielleicht auch sich selbst ironisierende Weise an Caspar David Friedrich erinnert, der dem Künstler empfohlen hatte: „Schließe Dein leibliches Auge, damit Du mit dem geistigen Auge zuerst sehest Dein Bild.“