Der Reiz des absoluten Unikums

Mai-Britt Wiechmann ist Masterstudentin der Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und eine begeisterte Mediävistin. Ihre Masterarbeit hat sie bereits vergangenes Jahr geschrieben, aktuell steckt sie in den Vorbereitungen zu ihrem Promotionsprojekt.

Kulturstiftung der Länder: Sie werden sicher manchmal gefragt, weshalb Sie als junger Mensch Mediävistik studieren. Was antworten Sie?

Mai-Britt Wiechmann: Vom Mittelalter hat man oft nur eine verschwommene Vorstellung. In der Gesellschaft kursieren immer wieder die gleichen, vereinfachenden Klischees über diese Zeit. Man kennt vor allem die Geschichten der Könige, der großen Leute. Aber wirklich interessant ist das, was der „kleine Mann“ gemacht hat. Alltagsgeschichten sind für das Mittelalter viel schwieriger zu erarbeiten als für eine neuere Epoche, da das Quellenmaterial weniger üppig vorliegt. Das zu erforschen, Lücken zu schließen und vielleicht das ein oder andere Falschbild korrigieren zu können, ist für mich der Reiz an der Mediävistik.

KSL: Eines der wichtigsten Werkzeuge bei der Erforschung des Mittelalters sind mittelalterliche Handschriften – was begeistert sie an der Arbeit damit und woran arbeiten Sie momentan?

MBW: Es benötigt durchaus detektivischen Spürsinn, um eine Handschrift im Bestand einer Bibliothek überhaupt ausfindig zu machen. Umso mehr freue ich mich, wenn ich schließlich auf eine „Kostbarkeit“ gestoßen bin: Oft handelt es sich um ein unwahrscheinlich altes Objekt, zwischen 500 und 1.000 Jahre alt. Man hat ein Einzelstück vor sich, das absolute Unikum, das es in der Form nicht noch einmal gibt. Möglicherweise ist es sogar der einzige Überlieferungsträger eines Textes. Faszinierend ist auch der Blick auf die Benutzungszettel vorne in den Handschriften. Manchmal bin ich die erste Person nach 20 oder 30 Jahren, die wieder mit diesem Buch arbeitet – das ist schon ein tolles Gefühl. Gerade war ich für ein Praktikum in einem Forschungs- und Editionsprojekt zu einer spätmittelalterlichen Briefbuchhandschrift in Oxford. Dort gibt es die Bodleian Library, eine der größten Handschriftenbibliotheken Großbritanniens, und außerdem viele kleinere College-Bibliotheken. Hier habe ich viel Zeit verbracht, unter anderem, um mein Promotionsprojekt vorzubereiten. Auch das wird etwas mit mittelalterlichen Büchern zu tun haben, allerdings nicht mit Handschriften, sondern mit den ersten gedruckten Büchern, Inkunabeln, aus Lübeck, dem ersten Druckerzentrum Norddeutschlands.

KSL: Wie in Oxford die Bodleian Library gibt es hier in Deutschland etwa die Dombibliothek Hildesheim, die einen eindrucksvollen Bestand an mittelalterlichen Schriften beherbergt. Was ist das Außergewöhnliche an solchen Bibliotheken?

MBW: Als eine Art Schatzkammer widmen sich solche Bibliotheken dem Auftrag, spezielle Objekte wie Handschriften zu sammeln und zu bewahren und sie gleichzeitig für die Forschung und die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein Aufbewahrungsort für dieses Kulturgut ist enorm wichtig, vor allem einer, der der hohen Empfindlichkeit der Bücher gerecht wird. Viele Bibliotheken und ihre Ausstattung sind selbst historisch und bieten eine außergewöhnliche Arbeitsatmosphäre. Dort trifft man auf andere Wissenschaftler, die allesamt an höchst interessanten Themen arbeiten. Wenn man dann in’s Gespräch kommt und feststellt, dass man an ganz ähnlichen Fragen sitzt, ist das wirklich inspirierend.

KSL: Anfangs käme ich mir wahrscheinlich recht verloren vor in einer solchen Spezialbibliothek. Wird einem Neuling Hilfe bei der Recherche angeboten?

MBW: Die Mitarbeiter sind immer sehr hilfsbereit, gerade in den Spezialbibliotheken. Auch ich war am Anfang etwas orientierungslos und dankbar für jede Hilfestellung. Die Bibliothekare sind wirklich offen für Fragen und freuen sich über das Interesse. Vor Ort gibt es immer gedruckte Kataloge, in denen man die Bestände recherchieren kann. Mittlerweile stellen die Bibliotheken aber auch vieles digital zur Verfügung, neben den Katalogen zunehmend die Objekte. Das ist sehr praktisch, denn so kann ich sofort prüfen, ob das Buch für mich wirklich relevant ist und die Detektivarbeit gestaltet sich einfacher.

Historische Bücher in der Dombibliothek Hildesheim; © Dombibliothek Hildesheim / Foto: Jasmin Leckelt
Historische Bücher in der Dombibliothek Hildesheim; © Dombibliothek Hildesheim / Foto: Jasmin Leckelt

KSL: Braucht man das Original denn noch? Reicht nicht ein Digitalisat?

MBW: Ich halte das Original für unersetzlich. Eine Handschrift ist nicht nur Überlieferungsträger, sondern auch selbst ein historisches Objekt, das viel mehr Informationen bereithält als den darin niedergeschriebenen Text. Gerade die Geschichte des Buches, seine Nutzung und seine „Biographie“ lassen sich oft nur aus seiner Materialität herauslesen, beispielsweise dem Einband oder den Spuren, die die Benutzer hinterlassen haben. Hier kann das Digitalisat nur bedingt weiterhelfen. Manche Fragen klären sich eben erst im direkten Umgang mit dem Buch.

KSL: Können uns alte Schriften heute noch etwas erzählen?

MBW: Anhand der Gedanken und Ideen in mittelalterlichen Texten fallen mir manchmal erstaunliche Parallelen zu den Themen auf, mit denen wir uns heute beschäftigen. Das Mittelalter ist also gar nicht so wahnsinnig fern, wie wir uns das immer vorstellen, vor allem wenn Mentalitäten, Gefühle oder Einstellungen aus den Schriften sprechen. Und besonders diese alten Handschriften, von denen manche schon 1000 Jahre auf dem Buckel haben, erzeugen Ehrfurcht und zeigen uns, wie wichtig es ist, Kulturgut zu bewahren und zukünftigen Generationen zugänglich zu machen.

Mai-Britt Wiechmann ist Masterstudentin an der Georg-August-Universität Göttingen; © privat
Mai-Britt Wiechmann ist Masterstudentin an der Georg-August-Universität Göttingen; © privat

Das Gespräch führte Theresa Thaller, Kunsthistorikerin in Berlin.