Fromme Frucht
Seine Wirkung war unvorhersehbar: Nationale und gesellschaftliche Grenzen hat er überwunden, religiöse Dogmen in Frage gestellt. Der „Malogranatum“ (dt. Granatapfel), im 14. Jahrhundert im Zisterzienserkloster Königsaal bei Prag aus der Feder eines Mönchs geflossen, entpuppte sich als eine revolutionäre Schrift. Denn als eine Art Tutorial für ein frommes Leben richtete sich das gelehrte Buch auch an die christliche Avantgarde jener Zeit. Der Inhalt – ein Dialog zwischen einem Schüler und seinem Lehrer über die Kernfragen des Glaubens – spiegelt den Geist der damaligen Reformbewegungen wider. Den Verführungen der äußeren Welt widerstehend, besinnt sich der aufgeklärte Gläubige einer Innerlichkeit, in der die vollkommene Hinwendung zu Gott liegt. Adressaten des religiösen Wegweisers waren nicht nur Würdenträger der Kirche, sondern auch die städtische Laienbewegung, die ihre Stimme in religiösen Fragen erhob. In ihrem Anspruch, sich jenseits der theologischen Gelehrtendiskussion einem größeren Leserkreis zu öffnen, erlangte die literarische Frucht große Popularität im Spätmittelalter. Über Ländergrenzen hinweg und in mehrere Sprachen übersetzt verbreitete sich der „Malogranatum“ des böhmischen Mönchs in zahlreichen Kopien rasant. So ist es nicht verwunderlich, dass eine Abschrift auch in Hildesheim angefertigt wurde für die reformfreudigen Augustinerinnen im Kloster St. Maria Magdalena.
Als im Dezember 2017 der dritte Band des „Malogranatums“ bei Sotheby’s in London zum Verkauf stand, nutzte die Dombibliothek Hildesheim die Gunst der Stunde und erwarb dieses seltene Zeugnis spätmittelalterlicher Schriftkunst. Vorzüglich gearbeitet in wohl originalem Ledereinband, demonstrieren die kunstvollen floralen Initialen die außerordentliche Qualität des Objekts. Der erste Band befindet sich in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der zweite Band wartete bereits in der Dombibliothek Hildesheim auf den Nachzögling aus England. Im Mittelalter war der Zugang zu Wissen ein Privileg für Auserwählte. Klosterbibliotheken wie in St. Magdalenen bei Hildesheim horteten die geistigen Schätze der damaligen Zeit. Als Wissensspeicher boten sie nur den wenigsten Menschen Zutritt. Dieser Exklusivität wiedersetzte sich der „Malogranatum“, zirkulierte er doch auch außerhalb der Klostermauern in den Händen der Reformer. Über die Reformation hinweg bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein hatte das Kloster in Hildesheim Bestand, als schließlich die Säkularisation zu dessen Auflösung und damit zur teilweisen Zerstreuung des wertvollen Konvoluts führte. In jenen stürmischen Zeiten verschlug es den dritten Band der Hildesheimer Handschrift nach England in die Abtei Ampleforth.
Die Schrift kehrt nun zurück an einen historischen Ort: 815 gegründet und in allen Wirrnissen der Zeitläufte nie geschlossen, ist die Dombibliothek Hildesheim seit über 1000 Jahren unterwegs in heiliger Mission. Sie verwaltet und erschließt ihre traditionsreichen Bestände – wie den des Klosters St. Maria Magdalena – und ergreift ab und zu die Chance, Kostbarkeiten auf dem internationalen Handschriftenmarkt für die eigene Sammlung zu erwerben. Die Kulturstiftung der Länder, das Bistum Hildesheim und die Klosterkammer Hannover in Hildesheim erweitern mit dieser Erwerbung den kulturhistorischen Schatz, dessen Gesamtheit während der Säkularisation verlorenging. Frank Druffner, kommissarischer Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder, freut sich über den Zuwachs für die Spezialbibliothek: „Mit dem für das Magdalenenkloster in Hildesheim angefertigten Werk kehrt der dritte und letzte Teil einer Erbauungsschrift des 15. Jahrhunderts in sein Entstehungsland Niedersachsen zurück. Die Ersteigerung in London hat nicht nur diese ganz auf der Linie der Kulturstiftung der Länder liegende Rückführung historischen Kulturguts ermöglicht, sondern zugleich einen Verlust revidiert, der aus der Auflösung der Klöster nach 1803 resultierte. Die Handschriften- und Frömmigkeitsforschung wird davon profitieren.“