Augsburgs Altmeister
Hans Holbein d.Ä. und sein Werkstattkreis sind für die Kunstgeschichte Augsburgs von außerordentlicher Bedeutung. Das Wirken dieses Malers markiert den Beginn einer fast drei Jahrhunderte währenden kontinuierlichen künstlerischen Produktion von europäischer Bedeutung, wie Bruno Bushart schon 1965 in seiner Ausstellung „Hans Holbein d. Ä. und die Kunst der Spätgotik“, die im Augsburger Rathaus gezeigt wurde, herausarbeitete. Mit dem älteren Holbein ist auch das wichtigste Verbindungsglied zwischen der Stadt Augsburg und dem nun vollzogenen Ankauf des „Kleinen Klebebandes“ benannt, denn dieser „Kleine Klebeband“ der Fürstlich Waldburg-Wolfegg’schen Graphischen Sammlung war seinerzeit zum ersten Mal in Augsburg, und in ihm befinden sich außergewöhnlich viele Handzeichnungen Holbeins und seiner Werkstatt.
Gezeigt wurde damals die Silberstiftzeichnung mit dem Porträt einer Nonne aus der Augsburger Familie Vetter, die offenbar als Modellstudie zur Stifterin Veronika Vetter im Vetterepitaph von 1499 diente. Die Tafel befindet sich heute in der Staatsgalerie Alte Meister in der Katharinenkirche zu Augsburg. Die übrigen Zeichnungen aus dem Werkstattkomplex Hans Holbeins wurden im Katalog verzeichnet und deren Urheberschaft ansatzweise diskutiert. Es besteht kein Zweifel daran, dass dieser wertvolle Komplex wichtige Einblicke in die Werkstattgepflogenheiten einer spätgotischen Malerwerkstatt in der freien Reichsstadt Augsburg zu bieten vermag, was es in den nächsten Jahren genauer zu erforschen gilt.
Hans Holbein d. Ä. wurde vermutlich als Sohn des Augsburger Gerbers Michel Holbein geboren, der um 1464 Anna Mair ehelichte, Schwester des Freisinger Malers Hans Mair und Nichte des Peter Mair, des Zunftmeisters der Loderer in der Reichsstadt. Über seine Lehr- und Wanderjahre ist so gut wie nichts bekannt, eine Reise nach Köln oder die Niederlande sind möglich, aber nicht bewiesen. 1493 hat er sich in Ulm niedergelassen, wo er mit dem Bildhauer Michel Erhart den Marienaltar für das Benediktinerkloster Weingarten anfertigte. 1494 erscheint er erstmals in den Augsburger Steuerbüchern, so dass er vermutlich eine Augsburgerin geheiratet haben dürfte, über die bislang jedoch nichts bekannt ist. Im Frühsommer 1496 erwarb Holbein für 70 Gulden ein Haus am Vorderen Lech (heute Vorderer Lech Nr. 20, nach dem Krieg wiederaufgebaut, heute ist dort der Kunstverein Augsburg untergebracht), das er bis 1515 als Wohn- und Werkstattgebäude nutzte. Hier entstanden viele Altarbilder und Tafelmalereien, darunter auch das eingangs erwähnte Vetterepitaph.
Um 1494/95 wurde sein Sohn Ambrosius, um 1497/98 sein Sohn Hans d.J. geboren, die beide der Profession des Vaters folgen sollten. In dieser Zeit sind auch Holbeins jüngerer Bruder Sigmund sowie Leonhard Beck in der Werkstatt tätig, die zunehmend Großaufträge zu bewältigen hat. 1500 entstand der Hochaltar für die Frankfurter Dominikanerkirche, 1502 in Kooperation mit dem Kistler Adolf Daucher und dem Bildhauer Gregor Erhart der große Marienaltar für die Abtei Kaisheim bei Donauwörth. Auch für örtliche Kirchen, St. Katharina (zwei Basilikentafeln, 1499 und 1503–04), St. Moritz (1506–08) und den Augsburger Dom (Hochaltar im Ostchor, um 1508–09) fertigte er Bildtafeln.
1516 verließ Holbein die Reichsstadt für längere Zeit und folgte u. a. vermutlich seinen Söhnen an den Oberrhein. Mit Hans arbeitete er an den Fassadenmalereien des Hertensteinhauses in Luzern und um 1521 am Oberried-Altar des Freiburger Münsters. Werke für Augsburger Auftraggeber – der „Lebensbrunnen“ für den Kaufmann Georg Königsberger und dessen Frau Regina Arzt 1519 sowie das Porträt Martin Weiss, 1522 – lassen jedoch annehmen, dass er immer wieder hierher zurückkehrte. Laut Augsburger Steuerbüchern ist er 1524 verstorben. Die Bedeutung Augsburgs als eines der wichtigen europäischen Kunstzentren um 1500 wird gerade an der Person Hans Holbein d. Ä. besonders deutlich, der hier lange Zeit seine Werkstatt betrieb und von hier aus Auftraggeber aus dem gesamten süddeutschen Raum bediente.
„Die uns erhaltenen Zeichnungen von Hans Holbein d. Ä. sind eines der frühesten umfangreichen und geschlossenen Zeichnungs-Œuvres der europäischen Kunstgeschichte, nördlich der Alpen gar das einzige, das in seiner Gesamtheit noch spätmittelalterliche Züge aufweist.“ So charakterisiert Hanspeter Landolt die noch heute gültige Bedeutung der Holbeinzeichnungen. Mit dem gemeinsamen Ankauf des „Kleinen Klebebandes“ konnte nun ein großer Komplex dieses bedeutenden Œuvres für die öffentliche Hand gesichert werden.
Zudem erfahren die beiden am Ankauf beteiligten Museen – das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin und die Graphische Sammlung der Kunstsammlungen und Museen Augsburg – eine weitere Aufwertung ihrer Sammlungen. Das bereits zu den weltweit führenden Holbein-Sammlungen zählende Kupferstichkabinett in Berlin erhält einen bemerkenswerten Zuwachs an Werken des Augsburger Meisters und seiner Werkstatt, die Augsburger Kunstsammlungen hingegen können, gemeinsam mit der von ihr mitbetreuten Staatsgemäldesammlung Alte Meister, direkte Anknüpfungspunkte zu den in der Staatsgalerie in der Katharinenkirche präsentierten Holbein-Gemälden bieten. Die nun zu initiierenden gemeinsamen Forschungen zu den Blättern des „Kleinen Klebebandes“ werden auch neue Ergebnisse gerade in Bezug auf Hans Holbein d. Ä. zeitigen. Somit wurde über die glückliche Kooperation bei der Erwerbung nun auch eine wissenschaftliche Zusammenarbeit der beiden beteiligten Sammlungen angestoßen, die für die Zukunft durchaus von Modellcharakter sein kann.