Grosser Kleiner Klebeband

Der große Sammler innerhalb des Adelshauses Waldburg-Wolfegg war Truchsess Maximilian Willibald, kaiserlicher Generalfeldmarschall-Leutnant und kurbayrischer Statthalter der Oberpfalz (1604–1667). Den Statthalterposten nahm er an, nachdem der Dreißigjährige Krieg seine Spuren bis zu seinem Stammsitz Wolfegg getragen und schwedische Truppen seine Residenz angezündet hatten. Da finanzielle Schwierigkeiten keinen schnellen Wiederaufbau erlaubten, legte Maximilian Willibald das Anwesen in die Hände eines Verwalters, verließ seine oberschwäbische Heimat. Sein Sitz war nun Amberg, eine bis zu Kriegsbeginn prosperierende Stadt mit weitverzweigtem Handelsnetz, knapp 300 Kilometer nordöstlich von Schloss Wolfegg gelegen. Maximilian Willibald sprach Deutsch, Latein, Französisch und Italienisch, interessierte sich für „alle geistreichen Schriften, Gedichte und dergleichen in allen bekannten Sprachen“, heißt es in der Chronik der Truchsessen von Waldburg 1785, und war „ein großer Liebhaber von den geheimen und natürlichen Wissenschaften als Medicin, Chymie und Alchymie”. In zweiter Ehe mit der kunstsinnigen flämischen Herzogin Clara Isabella aus dem Haus Arenberg verheiratet, legte er seit Mitte des 17. Jahrhunderts eine einzigartige Sammlung an, wobei sein Herz besonders für die Druckgraphik schlug. Seine Agenten hatten den Auftrag, sich nach Werken in Augsburg und Nürnberg, in Lindau, Frankfurt und Wien umzuschauen, vor allem nach Porträts und Frontispizien. Manchmal schickten sie ihm mögliche Neuzugänge erst zur Ansicht, und er wählte aus. Zu seinen Erwerbungen gehörte auch das Mittelalterliche Hausbuch, das die mittlerweile fürstliche Familie Waldburg-Wolfegg vor knapp vier Jahren verkaufte und damit für Schlagzeilen sorgte. Es steht – wie der Klebeband – auf der Liste national wertvollen Kulturguts, darf nicht ins Ausland verbracht werden und unterliegt bei Verkäufen im Inland der Meldepflicht.
Das Mittelalterliche Hausbuch von Wolfegg entstand kurz nach 1480 für einen unbekannten Auftraggeber und enthält auf 63 überlieferten Pergamentblättern unter anderem prächtige kolorierte Wappen, Planetenbilder, Zeichnungen von Kriegstechnik und vom ritterlichen Leben sowie Darstellungen aus dem Alltag im Bergbau und in der Münzprägung, aber auch Rezepte. Noch spektakulärer und umstrittener war der Verkauf der sogenannten Waldseemüllerkarte aus der Sammlung von Waldburg-Wolfegg. Die aus zwölf Druckstöcken bestehende Weltkarte des Freiburger Kartographen Martin Waldseemüller aus dem Jahr 1507 verzeichnet zum ersten Mal das Wort „America“. Sie wurde 1901 in Waldburg-Wolfegg entdeckt und ist das einzige vollständige Exemplar der Weltkarte, die ursprünglich wohl in einer Auflage von 1.000 Stück gedruckt worden war. Obwohl sie auf der Liste national wertvollen Kulturguts stand, konnte das Haus Waldburg-Wolfegg sie an die Library of Congress in Washington verkaufen, denn das Ausfuhrverbot wurde im Jahr 2001 aufgehoben. Es war das einzige Mal, dass ein solches Verbot außer Kraft gesetzt wurde und zeugt nicht nur von der großen Bedeutung, die die Waldseemüllerkarte für die USA besitzt, sondern auch von der damaligen Anerkennung der politischen Hilfe der USA nach dem Zweiten Weltkrieg und im Zuge der deutschen Wiedervereinigung.
Besonders die Druckgraphik, die zur Zeit von Maximilian Willibald in Europa eine Blüte erlebte, hatte es dem Truchsessen angetan: Sein Kupferstichkabinett, das auch Radierungen und Holzschnitte, hauptsächlich aber Kupferstiche vom 15. Jahrhundert bis zu seiner eigenen Lebenszeit enthält, ist weltberühmt. Dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass Druckgraphik günstiger und leichter zu transportieren war als Werke der Malerei und Bildhauerei. Außerdem war die Druckgraphik damals das am weitesten verbreitete Bildmedium und gestattete es ihrem Besitzer, sich einen umfassenden visuellen Eindruck von historischen und zeitgenössischen Persönlichkeiten zu machen, von politischen Ereignissen, mythologischen und religiösen Sujets, von künstlerischen und technischen Erfindungen sowie von Naturerscheinungen. Um 1654 erwarb Maximilian Willibald allein 34.000 Graphiken aus einem Nachlass der Familie Fugger. Bei seinem Tod 1667 umfasste seine atemberaubend große Sammlung wohl rund 120.000 Blätter. In seinem Testament erklärte er seine Bücher, Kupferstiche und Zeichnungen, die nun wieder zum Schloss Wolfegg transportiert wurden, zum unveräußerlichen Fideikommissbestand, der geschlossen vererbt werden sollte. So erhielt sich seine Sammlung für über dreihundert Jahre.
Bei dem neuerlichen Verkauf aus dem Familienbesitz handelt es sich um den sogenannten Kleinen Klebeband, der eine einzigartige Sammlung von hauptsächlich deutschen Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts enthält, die Maximilian Willibald von Waldburg-Wolfegg um die Mitte des 17. Jahrhunderts zusammengetragen hat. Zwar wurden die Blätter in ihrer heutigen Reihenfolge und Auswahl erst im 19. Jahrhundert in dem ledergebundenen Band zusammengefasst, doch bei den teilweise erstaunlichen Blättern handelt es sich ausnahmslos um seine Erwerbungen. Es ist eine ungewöhnliche Sammlung, die bei Experten für altdeutsche Kunst für weiche Knie sorgt.
Die Wertschätzung von Zeichnungen, wie sie heute im Angesicht ihrer Spontaneität und Unmittelbarkeit allgemein verbreitet ist, war im 17. Jahrhundert auf wenige Ausnahmen begrenzt, etwa auf Werke von Albrecht Dürer. Generell galt die Zeichnung bloß als Nebenprodukt künstlerischer Arbeit. Dass Maximilian Willibald schon so früh Zeichnungen gesammelt hat, von denen heute noch über 4.000 in Wolfegg überliefert sind, ist etwas ganz Besonderes. Im „Kleinen Klebeband“ sind die rund 120 frühesten Handzeichnungen versammelt, die einen Bogen von böhmischer Kunst des frühen 15. Jahrhunderts über italienisch anmutende Motive bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts spannen, wobei der Schwerpunkt bei deutschen Zeichnungen aus der Zeit um 1500 liegt.
Neben absolut hochkarätigen Blättern wie dem fein ausgearbeiteten aquarellierten Tuschebildnis eines jungen Mannes mit hohem Hut und pelzbesetzter Jacke faszinieren auch solche Blätter, die ihre Geschichte vom Gebrauch in der Werkstatt nicht verhehlen: nicht auseinandergeschnittene Musterblätter mit verschiedenen Menschentypen zur Verwendung in vielfigurigen Altären, Kompositionen mit Flecken, die vom Abpausen mit Ölpapier zeugen, und eine Madonna auf einem Scheibenriss, auf dem eine Rötellinie anzeigt, wo die Bleinaht des Glasfensters entlanglaufen soll. Dabei ist es äußerst ungewöhnlich, dass ein Regent des 17. Jahrhunderts eine Vorliebe für Werkstattarbeiten hatte.
Außerdem gibt es mehrere Nachzeichnungen von anderen Kompositionen: Tuschezeichnungen nach Kupferstichen, einzelne Figuren, die ähnlich von Andrea Mantegna oder Hans Baldung Grien stammen könnten, und zauberhafte Landschaften und Städteansichten aus dem 16. Jahrhundert. Vielen Zuschreibungen muss erst nachgegangen werden: Urs Graf, Giulio Romano, und immer wieder Hans Holbein der Ältere. Der Name Albertus Dürer ist wohl irgendwann im 16. Jahrhundert „allzu hoffnungsvoll“ unter eine etwas unbeholfene Komposition gesetzt worden, sagt Michael Roth vom Berliner Kupferstichkabinett. Erst jetzt beginnen die Erforschung, ob es sich um Vorzeichnungen oder Nachzeichnungen handelt, das Studium der Autorschaften, der Montagetechniken und der einzelnen Motive, aber auch die Suche nach Hinweisen auf die einstige Ordnung der Graphiken unter Maximilian Willibald. So ist es ein großes Glück, dass der „Kleine Klebeband“ nicht etwa aufgetrennt und die einzelnen Zeichnungen in alle Winde zerstreut wurden, sondern dass er als Ensemble erhalten bleibt. Als Präzedenzfall für den gemeinschaftlichen Erwerb nennt der Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts, Heinrich Schulze Altcappenberg, das Evangeliar Heinrichs des Löwen, das im Jahr 1983 für umgerechnet 32,5 Millionen D-Mark bei Sotheby’s in London versteigert wurde: Die Bundesregierung, die Bundesländer Niedersachsen und Bayern, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und private Spender legten zusammen – dauerhafter Aufbewahrungsort ist die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel.
Die Vermittlung des „Kleinen Klebebands“ von Waldburg-Wolfegg übernahmen die Münchner Kunsthändler Arnoldi-Livie für das Fürstenhaus, dem an einem Verbleib in Süddeutschland gelegen war. Über den Direktor der Augsburger Kunstsammlungen, Christof Trepesch, kam der Anstoß zum Kontakt mit dem Berliner Kupferstichkabinett, wo sich mit einem der weltweit bedeutendsten Kontingente von Zeichnungen Hans Holbeins des Älteren und vielen anderen Schätzen reichlich Anknüpfungspunkte finden. So kam es jetzt glücklich zu einem gemeinschaftlichen Abschluss: Mit Hilfe der federführenden Kulturstiftung der Länder gehört der „Kleine Klebeband“ jetzt zu knapp der Hälfte dem Berliner Kupferstichkabinett, zu rund einem Viertel den Kunstsammlungen Augsburg, rund einem weiteren Viertel der Ernst von Siemens Kunststiftung und zu knapp fünf Prozent dem Freistaat Bayern. Dauerhafter Standort wird Berlin sein. Entscheidungen über die Restaurierung, die Erforschung und die Ausleihe für Ausstellungen werden gemeinsam getroffen. Dazu wird auch gehören, ob der Band zusammenbleibt oder ob die Blätter aus restauratorischen Gründen dauerhaft aus dem Album herausgenommen werden. Schon weil sie so lichtempfindlich sind, unterliegt das Ausleihen einzelner Zeichnungen strengsten Bestimmungen.