Zeichen der Renaissance
Liebe Leserin, lieber Leser,
wohl selten klaffte zwischen dem Titel eines Kunstwerks und seiner Bedeutung – und auch seinem Preis – eine so bemerkenswerte Diskrepanz wie im Fall der Erwerbung, die wir mit der Winterausgabe von Arsprototo feiern möchten. Als wäre das Wort vom „Klebeband“ nicht schon prosaisch genug, so wurde diese Bezeichnung noch durch ein „kleiner“ diminuiert. Doch unbeschadet dessen ist besagtes Objekt nun unter der Bezeichnung „Kleiner Klebeband“ in Literatur und Forschung bekannt.
Doch welch ein Kosmos verbirgt sich zwischen den Buchdeckeln des 19. Jahrhunderts, dem diese Montierung zu einem Sammelwerk entstammt? 120 kostbare Zeichnungen zwischen Spätmittelalter und Frührenaissance, darunter so einmalige Blätter wie das Porträt eines Mannes aus der Zeit um 1475, das als vollendetste deutsche Bildniszeichnung vor Dürer gilt. Eine ganze „Gesichter der Renaissance“-Ausstellung en miniature scheint im „Klebeband“ auf, vornehmlich von der Hand und aus der Werkstatt Hans Holbeins des Älteren, jenes fränkischen Meisters, dessen Sohn schließlich zum wichtigsten Porträtmaler seiner Epoche werden sollte.
Dass es der Kulturstiftung der Länder überhaupt gelingen konnte, den Weg zum Erwerb der wohl wichtigsten deutschen Sammlung von Altmeisterzeichnungen aus dem Besitz des Hauses Waldburg-Wolfegg zu ebnen, verdanken wir dabei zwei Umständen: Zum Einen taten sich mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und den Kunstsammlungen und Museen Augsburg zwei Institutionen zum Erwerb zusammen, die sowohl über weitere Finanzmittel als auch über ausgewiesene Sachkompetenz im Bereich der Altmeistergraphik verfügen. Zum Anderen war der „Klebeband“ in das Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes aufgenommen, durfte also nicht ins Ausland verbracht werden.
Nur auf diese Weise konnten mit Zeit und Augenmaß die Verhandlungen geführt und das Werk zu einem angemessenen Preis schließlich erworben werden – wieder einmal ein klares Argument dafür, wie wichtig das Verzeichnis für den Schutz herausragender Zeugnisse deutscher Kunst und Kultur ist! Auch der Umstand, dass die unlängst von der Hessischen Hausstiftung verkaufte weltberühmte „Madonna des Bürgermeisters Meyer“ von der Hand des jüngeren Holbeins nicht in einer internationalen Privatsammlung verschwand, sondern in der Johanniterhalle von Schwäbisch Hall dem Publikum auch weiterhin zugänglich sein wird, verdanken wir ganz maßgeblich der „Nationalen Liste“, auf welcher das Bild verzeichnet ist. Bund und Länder arbeiten derzeit gemeinsam an einer Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes, um so für mehr Kohärenz, aber auch Transparenz zu sorgen.
Mir bleibt, Ihnen eine schöne Vorweihnachtszeit und frohe Festtage zu wünschen und Ihnen ganz besonders den Artikel von Uta Baier über Georg Flegel zu empfehlen, jenen wunderbaren Frankfurter Stilllebenmaler, den wir in unserer Serie von Künstlerporträts für das Land Hessen ausgewählt haben.
Ihre Isabel Pfeiffer-Poensgen