Als sich Ende November 1998 Vertreter von über 40 Staaten und einem Dutzend jüdischer Organisationen zur Washington Conference on Holocaust Era Assets trafen, hätte niemand damit gerechnet, dass es auch 25 Jahre später noch viele Baustellen gibt. Ist es daher gerechtfertigt, den viel genutzten Ausspruch „Zu wenig und zu spät“ hier titelgebend zu verwenden? Die Frage aus Sicht der Conference on Jewish Material Claims Against Germany, kurz: Claims Conference, zu stellen, heißt, sie zu bejahen.
Bevor die Washingtoner Prinzipien am 3. Dezember 1998 verabschiedet werden konnten, um zukünftig „non-binding principles to assist in resolving issues relating to Nazi-confiscated art“ zu Händen zu haben, musste intensiv verhandelt werden. Hierbei spielte die Delegation der Claims Conference eine wichtige Rolle. Stuart Eizenstat, damals „Special Representative of the President and Secretary of State on Holocaust Era Issues“ der Clinton-Administration und zentraler Organisator der Konferenz, beschrieb die Situation Anfang Dezember 1998 in einem Interview eindrücklich:
„After several days of negotiations at the Washington Conference in 1998, it appeared we would not be successful in having 44 nations agree to the Washington Principles on Nazi-Confiscated Art. It took an 11th hour compromise to succeed, in which my colleague J. D. Bindenagel and I proposed making the Principles voluntary and that countries would ,act within the context of their own laws‘.“1
Tatsächlich setzte sogleich Kritik an der rechtlich nicht bindenden Wirkung der Washingtoner Prinzipien ein. Doch realistisch betrachtet, wäre die Konferenz im Dezember 1998 trotz aller Anstrengungen vermutlich ohne Verabschiedung der Leitlinien zu Ende gegangen, wenn eine bindende Rechtswirkung als Bedingung verlangt worden wäre. Allerdings zeigt die langsame und nicht umfassende Umsetzung der Washingtoner Prinzipien, dass die Kritiker recht hatten. Zudem soll hier ausdrücklich betont werden, dass die Prinzipien 1998 nicht zwischen öffentlichen und privaten Sammlungen unterschieden haben, sie also für beide als „Soft Law“ gelten.
Welche Wirkung erzielten die elf Washingtoner Prinzipien? Oder anders gefragt: Wurden die Prinzipien umgesetzt, und wenn ja, wie? Es wäre sicherlich spannend, alle zu betrachten. Ich möchte mich an dieser Stelle auf zwei Bereiche beschränken. Das erste Prinzip verlangt die aktive Identifizierung während der nationalsozialistischen Diktatur unrechtmäßig entzogener Kunstwerke. Dafür bedarf es nicht nur des Willens der jeweiligen Museumsleitung zum Handeln, sondern auch zugänglich gemachter Archivunterlagen (Prinzip 2) sowie umfangreicher Ressourcen und Personal (Prinzip 3). Die Claims Conference ist in den vergangenen 25 Jahren auf verschiedene Weise aktiv geworden, damit Archivmaterial zugänglich ist:
Sie hat die Digitalisierung wichtiger Archivbestände in Deutschland und anderswo gefördert. Insbesondere Akten im Zentralen Staatsarchiv der Obersten Macht- und Verwaltungsorgane der Ukraine (TsDAVO U)2 in Kiew wurden der westlichen Forschung zugänglich gemacht. Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist diese Digitalisierung mittlerweile eine Schutzmaßnahme zum dauerhaften Erhalt der Akten. Die Claims Conference hat die Publikation einer Übersicht der Akten des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg (nachfolgend kurz: ERR), der wohl größten Rauborganisation der Nationalsozialisten, massiv gefördert.3 Zudem hat sie eine Datenbank finanziert, in der nach Kunstwerken, die durch den ERR hauptsächlich im deutsch besetzten Frankreich geraubt worden waren, gesucht werden kann.4 Diese Datenbank enthält beispielsweise Abbildungen vieler Kunstwerke, Angaben zu den Vorbesitzern sowie zum weiteren Schicksal der Kunstwerke. Sie basiert vor allem auf Unterlagen, die dank der Claims Conference digitalisiert werden konnten.
„Die Claims Conference wünscht sich faire und gerechte Lösungen in Form eines Restitutionsgesetzes“
Das vierte Prinzip thematisiert die Nachweisschwierigkeiten für den Beweis eines NS-verfolgungsbedingten Entzugs durch die Nachfahren der Beraubten. Es verweist auf Beweiserleichterungen in früheren Regelungen, etwa beim Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen vom September 1990, laut dem die Beweislast bei unredlichem Erwerb beim Erwerber liegt. Aber bereits die Rückerstattungsgesetze der Alliierten enthielten einen Passus zur Vermutung ungerechtfertigter Entziehungen während der nationalsozialistischen Herrschaft. Verwiesen sei hier auf die Alliierte Regelung für West-Berlin zur „Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen“ vom 26. Juli 1949.5 Während für die Claims Conference von Anfang an der Verkauf unter Zwang durch verfolgte Juden unter den in Washington verwendeten Begriff „confiscated art“ fiel, war dies für andere umstritten. Erst mit der Terezin-Erklärung von Juni 20096 konnte sich der Standpunkt der Claims Conference durchsetzen.
Was haben die Washingtoner Prinzipien generell bewirken können? Wurde in deutschen Museen systematisch nach in der NS-Zeit verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut gesucht? Haben deutsche Museen ihr Personal dauerhaft aufgestockt, damit diese systematische Suche erfolgreich und zeitnah erledigt werden konnte? Diese Fragen sind aus Sicht der Claims Conference zu verneinen. Nur wenige Häuser, gleichsam wie Leuchttürme, haben Provenienzforscherinnen und -forscher dauerhaft eingestellt und mit der systematischen Erforschung der Provenienzen ihrer Erwerbungen ab Januar 1933 beauftragt. Die allermeisten Museen, auch namhafte Einrichtungen, glauben noch immer, dass sie mit zeitlich befristeten Projekten zur Provenienzrecherche den Washingtoner Prinzipien gerecht werden können. Sie verkennen damit die an sie gestellten Forderungen. Es muss allen Verantwortlichen klar sein, dass systematische Provenienzforschung dauerhaft betrieben werden muss, da Juden entzogenes Kulturgut sich nicht nur in Erwerbungen zwischen Januar 1933 und Mai 1945 findet, sondern auch in beachtlichem Umfang danach in Museumssammlungen gelangt ist.
Manches hat sehr lange gebraucht: Es gibt lediglich fünf Staaten, die eine Kommission zur Bearbeitung strittiger Fälle ins Leben gerufen haben: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande und Österreich. Allerdings ist die Beratende Kommission in Deutschland nicht gleichermaßen handlungsfähig wie die anderen vier Kommissionen. Das Europäische Parlament hat noch im Januar 2019 eine Resolution verabschiedet, in der es die Europäische Kommission auffordert, Provenienzforschung anzuregen und finanziell zu fördern sowie an alle Mitgliedsstaaten appelliert „to establish practices and recover Nazi-looted art“.7 Offensichtlich muss noch viel getan werden. Für die früheren Eigentümer kommt dies indes meist zu spät.
Ein Blick auf die Lost Art Datenbank verdeutlicht, dass außerhalb des Bibliotheksbereichs kaum restituiert wird. Die seit April 2000 online gestellte Lost-Art-Datenbank8 enthält etwas über 74.000 Meldungen über NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Insgesamt wurden über 10.700 gemeldete Objekte restituiert. Davon waren über 90 Prozent Bücher.
Positiv ist für die letzten 25 Jahren zu verzeichnen, dass sich die Provenienzforschung im Hinblick auf die Erforschung von Objekten mit Eigentümerwechsel zwischen 1933 und 1945 erheblich professionalisiert hat. Nicht zuletzt der Arbeitskreis Provenienzforschung hat hier Raum für intensiven Erfahrungs- und Wissensaustausch geboten und zugleich das Lernen an guten wie schlechten Beispielen ermöglicht. In dem bereits genannten Interview mit Stuart Eizenstat hat dieser gesagt, dass die Washingtoner Prinzipien eine sich allmählich ausbreitende Wirkung (ripple effect) haben. Man könnte es auch mit Ansteckungseffekt übersetzen. Tatsächlich wünscht sich die Claims Conference, dass sich alle Sammlungseinrichtungen, öffentliche wie private, von guten Beispielen anstecken lassen und systematisch die Objekterwerbungen seit Januar 1933 auf unrechtmäßige Vermögensverluste untersuchen, aktiv Erben der früheren Eigentümer ermitteln sowie faire und gerechte Lösungen herbeiführen. Allerdings erscheint mittlerweile ein eigenes Restitutionsgesetz die effizienteste Lösung zu sein, damit die vielen offenen Fälle tatsächlich und gerecht abgearbeitet werden. Ein Gesetz würde auch dafür sorgen, dass die Berechtigten endlich nicht wie Bittsteller behandelt werden.
Rüdiger Mahlo ist Repräsentant der Claims Conference in Europa.
Fußnoten
[1] Das Interview ist veröffentlicht in Newsletter April 2023 – N°16, 6–10, online abrufbar: Network-Newsletter-no.16-April2023.pdf (restitutiecommissie.nl) (abgerufen am 10.10.2023).
[2] TsDAVO: Tsentralnyj Dershavnyj Archiw Gromadskich Organisatsij Ukraini in Kyiv.
[3] Diese Übersicht wurde erstmals 2011 unter dem Titel „Reconstructing the Record of Nazi Cultural Plunder. A Survey of the Dispersed Archives of the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR)“ veröffentlicht, online abrufbar: A Survey of the Dispersed Archives of the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) (lootedart.com) (abgerufen am 10.10.2023).
[4] Diese Datenbank ist online abrufbar: Cultural Plunder by the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR): Database of Art Objects at the Jeu de Paume (errproject.org) (abgerufen am 10.10.2023).
[5] Diese Regelung wurden veröffentlicht im Verordnungsblatt für Groß-Berlin 5. Jg. (1949), Teil I, Nr. 47, vom 3. August 1949.
[6] Die Erklärung ist online abrufbar: https://www.state.gov/prague-holocaust-era-assets-conference-terezin-declaration/ (abgerufen am 12.10.2023).
[7] Die Resolution ist online abrufbar: Texts adopted – Cross-border restitution claims of works of art and cultural goods looted in armed conflicts and wars – Thursday, 17 January 2019 (europa.eu) (abgerufen am 11.10.2023).
[8] Die Lost Art-Datenbank ist online abrufbar: Lost Art-Datenbank | Lost Art-Datenbank (abgerufen am 26.10.2023).