Vom Lützowufer 13 berichtete Oskar Schlemmer Anfang 1929 an seinen langjährigen Freund Willi Baumeister: „in berlin sah ich bei flechtheim deine leider schon abgehängten bilder. […] überhaupt, es scheint zu florieren unter flechtheim ägide! war sehr erfreulich. der gesamteindruck. zumal gegenüber den jetzt hängenden sehr unterschiedlichen mäßigen max ernst’s war gut, sehr gut die neuen, besonders das letzte grosse von stuttgart. farbig alles sehr schön in seinem woltuenden grau. manchmal ist die gefahr der manier da, manchmal ists zu ‚gehackt‘.“
Das Jahr 1929 brachte den Sprung für den Stuttgarter Künstler, die renommierte Berliner Galerie Flechtheim präsentierte seine Werke. Endlich hatte man auch in Deutschland Willi Baumeister (1889–1955) entdeckt, u. a. die Staatsgalerie Stuttgart interessierte sich für Ankäufe. Da war der Künstler in Frankreich längst als der wichtigste Vertreter der deutschen Avantgarde bekannt: der deutsche Picasso. Doch die eigenen Landsleute blickten und blicken disparat auf ihn: Willi Baumeister, verkannt, bejubelt, verfemt, vergessen, neu- und wiederentdeckt.
„Tatsächlich liegt auch etwas Ausgebleichtes, Fahles über weiten Strecken dieses Werks. Den sinnlichen Überschwang jedenfalls kennt Willi Baumeister nicht“, nannte es der Kritiker Hans-Joachim Müller einmal. Das „aufblühende Spätwerk“ sorge aber dafür, dass Baumeister in „seiner kultivierten malerischen Gestik bis heute nachhallt“. Baumeister sei „völlig unzuständig für die triumphalistische Gebärde, mit der der amerikanische abstrakte Expressionismus zum hegemonialen Idiom werden sollte“. Im Rückblick, von 1989 aus, zu Baumeisters 100. Geburtstag, wunderte sich Barbara Gaethgens in der ZEIT, dass Willi Baumeister trotz seiner überragenden Rolle für den Neuanfang der deutschen Kunst nach dem Nationalsozialismus in Gefahr stand, im weiteren Kunstkanon vergessen zu werden.
Umso wichtiger wiegt die Einrichtung des Archivs Baumeister am Kunstmuseum Stuttgart im Jahr 2005. Denn dort liegen die Zeugnisse, durch die sich Baumeisters Werk in seinen wechselhaften Phasen rekonstruieren lässt. Vor dieser Folie wagen in Chemnitz jetzt die Kunstsammlungen einen neuen Blick auf den Künstler. In Chemnitz? Ja, denn dorthin gab der Münchner Kunsthändler Alfred Gunzenhauser (1926–2015) seine große Sammlung mit über 3.000 Werken von 270 Künstlern, man baute ein historisches Sparkassen-Gebäude zu einem sensationellen Museum um. Schwerpunkt ist der Expressionismus, die Neue Sachlichkeit sowie die Abstraktion im 20. Jahrhundert. Von Willi Baumeister besitzt das Museum mit 39 Arbeiten den drittgrößten, öffentlichen Sammlungsbestand in Deutschland.
Noch nie vollständig sichtbar, bilden diese Werke jetzt den Grundstein dafür, besonders das internationale Netzwerk des Künstlers zu thematisieren. Baumeisters Werke stehen in den sogenannten Plateaus der Werkphasen im Dialog mit Werken wichtiger Zeit- und Weggefährten wie Hans Arp, Alexej von Jawlensky, Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch, László Moholy-Nagy oder Kurt Schwitters – ein großer Kreis, der schon bei Baumeisters Studium an der Königlich Württembergischen Akademie bei Adolf Hölzel in Stuttgart seinen Anfang fand. Dieses Netzwerk schien ihm wichtiger als die Ausbildung. „Ich verdanke Hölzel somit in direktem Sinne nichts“, stellte Baumeister zwar später lapidar fest, die Chemnitzer Ausstellung demonstriert trotzdem, welchen Einfluss die systematische Farben- und Formenlehre des Lehrers hatte. Hölzel bestärkte Baumeister, sich durch nichts beirren zu lassen und gab ihm den Tipp, Deutschland für Frankreich hinter sich zu lassen.
Dort hatte Baumeister in den 1920er-Jahren zahlreiche Künstlerfreunde gefunden und verkehrte u. a. mit Le Corbusier, Amédée Ozenfant, Fernand Léger oder Piet Mondrian, seine Bilder wurden bei der Ausstellung „L’Art d’Aujourd’hui“ in Paris begeistert aufgenommen. Zeitweise überlegten sich Willi Baumeister und seine spätere Frau Margarete Oehm sogar, ganz nach Paris zu übersiedeln. Die Künstlervereinigungen spielten, wie oft in Baumeisters Leben, eine wichtige Rolle. 1931 gründete sich in Paris die rasch wachsende Gruppe Abstraction-Création, die mit ihrem Almanach die abstrakte Kunst promotete.
Quer durch Europa spannte sich Baumeisters künstlerisches Netz, mit dem er Ideen einfing, aber nie Stile kopierte. Das Netzwerk sei auf der visuellen Ebene nicht sichtbar, sagt Kuratorin Hannelore Paflik-Huber, die Bezüge seien stattdessen inhaltlich zu beobachten. Baumeister sei immer innovativ vorgegangen, die Einordnung als abstrakter Künstler lehnte er zeitlebens vehement ab, betont Paflik-Huber. „Schubladendenken war ihm zuwider.“ Baumeister habe sich immer als „im wesentlichen Autodidakt“ bezeichnet.
In Chemnitz wird auch Baumeisters Hinwendung zur Werbung und zur Typografie sichtbar. Die Werkbund-Ausstellung „Die Form“ 1924 erhielt ihr modernes typografisches Erscheinungsbild durch ihn, 1927 schuf er das Design der Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“. Zeitschriften wie „Das Neue Frankfurt“ oder die legendäre Kulturzeitschrift „Der Querschnitt“, das „optische Zentralorgan der Avantgarde“ (Florian Illies), prägte Baumeister mit seinen typografischen Innovationen.
Das führte zur Berufung als Leiter der Entwurfsklasse für Werbegrafik und Typografie im November 1928 an die Kunstgewerbeschule Frankfurt am Main, dem Vorläufer der Städelschule, wo auch Max Beckmann lehrte. Baumeister sei „ein gesetzkundiger Bildbauer von sicherem Formgefühl und feinsinniger Organisator farbiger Flächen“, schrieb die Süddeutsche Zeitung zur Berufung. 1931 erschien dann eine Monografie des berühmten Kunsthistorikers Will Grohmann bei Gallimard in Paris, ein Coup, der Baumeister schlagartig präsent machte. Seine Werke gelangten nun verstärkt in die bedeutendsten Museen Deutschlands.
In Chemnitz kann man die Neugier Willi Baumeisters bei der Erprobung verschiedener Materialien nachempfinden – sei es Leinwand, Pastell auf Papier, Siebdruck und Stoffdruck. Skulptur, Wandrelief, Keramik, Stoff und Porzellan –, er ließ seine Bildzeichen neugierig durch die verschiedenen Materialien wandern. Baumeister galt zeitlebens nicht als der typische Maler-Großmeister, sondern als Grenzgänger zwischen den Disziplinen, ohne Berührungsängste vor Werbung, Produkten und Mode. Auch als Bühnenbildner arbeitete er immer wieder.
Wie viele Zeitgenossen bewunderte er Paul Cézanne, ihn faszinierte dabei besonders das Ende der perspektivischen Illusion. Der Bildgrund wurde zum selbstständigen Bildgegenstand. Cézanne und besonders Paul Klee schrieb er zu, „die Zeitsubstanz im Bild“ aktiviert zu haben, „durch seine Formenthemen, durch Wiederholung und Variation und durch das Mittel der Linie als Fluß“. Baumeisters sogenannte Sportbilder um 1930 stehen für die kinetische, dynamische Auffassung.
Nur wenige Jahre sind es da nur noch, bis Baumeister im Frankfurter NSDAP-Volksblatt zu den „November-Verbrechern in der angewandten Kunst“ gezählt wird. Zahlreiche Professoren wurden Anfang 1933 entlassen, um „die Kunstgewerbeschule nach dem Grundsatz einer deutschen, in dem Handwerk wurzelnden Kunst umbauen zu können“. Baumeister kehrte nach Stuttgart zurück, ging in die innere Emigration. Er machte sich auf die Suche nach den Ursprüngen aller Kunst, begeisterte sich für die Elfenbeinschnitzereien der Schwäbischen Alb ebenso wie für die Höhlenmalereien der Frühzeit. Nur noch heimlich, bei der Freundin Hanna Bekker vom Rath, konnte er Bilder zeigen. Währenddessen wurden 51 seiner Bilder aus deutschen Museen entfernt und teilweise zerstört. Und als vier seiner Bilder in der Propagandaschau „Entartete Kunst“ in München gezeigt werden, ist Baumeister gleichzeitig noch in einer Ausstellung in Paris vertreten.
Nach dem Ende der NS-Diktatur stand der verdrängte Künstler plötzlich wieder im Mittelpunkt. 1946 berufen an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, war er zunächst auch der einzige Hochschullehrer, bei dem die über viele Jahre verfemte „abstrakte“ Kunst in Deutschland überhaupt studiert werden konnte. So überrannten Studenten seine Kurse. Als Teilnehmer von Debatten und auf Ausstellungen wie der ersten documenta prägte Baumeister die Neuausrichtung der Kunstszene. Sein vielbeachtetes theoretisches Manifest „Das Unbekannte in der Kunst“ von 1947 gab zusätzlichen Schub. Baumeisters Kunst des Netzwerks wurde reaktiviert: bei der Gruppe ZEN 49 in München oder bei der Neugründung des Deutschen Künstlerbundes.
Nur seine eigene Kunst reaktivierte Baumeister nicht einfach. In Chemnitz wird die erneute, überraschende Transformation im Spätwerk besonders eindrucksvoll sichtbar: Kritiker erkannten Einflüsse der Großformate und wilden Farbgesten der internationalen Kunstwelt. Diesen letzten Sprung Willi Baumeisters ins Unbekannte, bevor er 1955 mit dem Pinsel in der Hand starb, inszeniert die Chemnitzer Ausstellung mit Wucht im zentralen Saal des Museums Gunzenhauser.