„Wenn der Wald nicht mehr Wald ist…“

Nichts hört sich so an, wie es aussieht.“ Diese meist überraschende Ent­deckung verbindet etliche Arbeiten der deutschen Klangkünstlerin Christina Kubisch (*1948). Elektrisch erzeugte Klänge außerhalb unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten macht Kubisch mit eigens entwickelten Kopfhörern erlebbar: Von 2004 bis 2017 fanden an vielen Orten auf der Welt von New York über Riga, Jekate­rinenburg bis Montreal die „Electrical Walks“, Spaziergänge zu Hörenswürdigkeiten, statt. Christina Kubisch erforscht die verborgenen Klangfarben und Lautstärken von Transformatoren, Diebstahlsicherungen, Überwachungskameras, Aufzügen, Straßenbahnleitungen, Antennen, Bankautomaten und Leuchtreklamen. Die vielfach ausgezeichnete Künstlerin, die Malerei, Musik und Elektronik in Hamburg, Graz, Zürich und Mailand studiert hat, arbeitet auf der Schwelle von Musik und bildender Kunst. Einzelausstellungen fanden in Museen und Galerien in Europa, Asien, Australien, Nord- und Südamerika statt. Auf Performances und Videokonzerte in den 1970er-Jahren folgten seit den 1980er-Jahren raumbezogene Klanginstallationen, Lichträume und Arbeiten im öffentlichen Raum. Von 1994 bis 2013 war Christina Kubisch Professorin für Audiovisuelle Kunst an der Hochschule der Bildenden Künste Saarbrücken. Seit 1997 ist sie Mitglied der Akademie der Künste Berlin.
Mit Christina Kubisch sprach Stefan Fricke.

Die Idee, dass Klang etwas mit Bild zu tun haben könnte, reicht sicher weit zurück.

Vielleicht kam das daher, dass ich mich nicht entscheiden konnte, was ich eigentlich machen wollte. Ich dachte immer, entweder werde ich Malerin oder Musikerin. Schon als Kind spielte ich verschiedene Instrumente. Aber auch die Schriftstellerei interessierte mich. Ich schrieb Geschichten. Eigentlich wollte ich gerne alles machen, aber es war klar, dass ich später eine Entscheidung fällen musste. Von Anfang an war diese praktisch vorgesehene Trennung der Künste ein Problem für mich, doch die gesellschaftliche Rolleneinteilung kreativer Menschen verlangte damals nach Entscheidungen.

Christina Kubisch, „Break“ aus der Serie „Emergency Solos“ für Flöte und Objekte, 1974; © Christina Kubisch / Foto: Archiv Kubisch
Christina Kubisch, „Break“ aus der Serie „Emergency Solos“ für Flöte und Objekte, 1974; © Christina Kubisch / Foto: Archiv Kubisch

Du hast dann Malerei und ab den frühen 1970er-Jahren Flöte und Komposition studiert. Was hätte Dich sonst noch interessieren können?

Ethnologie und damit verbundene Fragestellungen, die später auch in meiner Arbeit zunehmend wichtiger geworden sind, z. B. „Wie verhalten sich Menschen außerhalb des europäischen Kulturkontextes zu Musik?“ Als ich in Zürich zeitgleich am Konservatorium Querflöte und Kurse an der Freien Kunstschule belegte, besuchte ich an der Universität auch einige Ethnologie-Seminare. Es fasziniert mich bis heute, dass etwa in Australien die Aborigines ihre Wege durch akustische Orientierung finden. Sie wissen, wann und wo bestimmte Tiere sind, wie sich der Wind anhören muss und so weiter. Gerade in den Siebzigern fanden es Musiker und Komponisten zunehmend spannend, dass die starre Aufführungspraxis von getrennter Bühne und Zuschauern in vielen außereuropäischen Ländern nicht existierte. Es gab viele Gründe, warum man zusammenspielte, und das Musizieren hatte immer auch eine soziale Funktion, denn die Musik war eingebunden in das Alltagsleben. Das interessierte mich alles sehr.

Du bist in Bremen geboren und aufgewachsen. Anfang der 1960er-Jahre installierte der Komponist und Pianist Hans Otte in seiner weiteren Tätigkeit als Musikredakteur bei Radio Bremen die beiden Festivals „pro musica antiqua“ und „pro musica nova“. Und die Neue Musik verband er temporär auch mit Positionen aus der bildenden Kunst, etwa von Nam June Paik oder Wolf Vostell. Haben Dich diese genreübergreifenden Festivalerlebnisse geprägt – Du bist ja dann Mitte der Siebziger selbst zweimal bei der „pro musica nova“ aufgetreten?

Hans Otte war ganz wichtig. Übrigens arbeitete er selbst ja auch visuell. Während meiner Festival-Auftritte bei der „pro musica nova“ lernte ich für mich wichtige Komponisten kennen wie John Cage, der mich dann spontan nach New York einlud. Auch Charlemagne Palestine, Terry Riley und Max Neuhaus waren in Bremen und wurden zu Freunden. Ich glaube, Hans Otte gehört zu den Personen, die es mir ermöglicht haben, Alternativen zu den bestehenden „Kunstregeln“ zu entwickeln. Ich war damals ziemlich verzweifelt, weil das Studium sehr akademisch war. Ich spielte auch in einer Rockband und flog aus der Hamburger Musikhochschule raus. Und plötzlich erlebte ich, dass es andere Möglichkeiten gab, einen anderen Umgang mit der Musikgeschichte, mit der Neuen Musik – gerade in den USA passierte damals so viel Neues. Das waren gute Erfahrungen dank der „pro musica nova“-Begegnungen. Überhaupt war Bremen in dieser Zeit eine sehr offene Stadt, die viel auf Kultur hielt.

Nun sind einige Deiner Exponate – nicht als Originale, sondern als Tonträger mit Deiner Musik – durch die Integration der Sound Collection von Guy Schraenen in das Zentrum für Künstlerpublikationen wieder in Bremen angekommen. Diese Ankunft geschieht ja ohne Dein Zutun. Und das ist ein bisschen anders als sonst, wenn das Dortmunder Museum am Ostwall oder das New Yorker MOMA bei Dir direkt eine Installationsarbeit erwirbt.

Ich wusste erstmal gar nicht, welche meiner Platten zur Schraenen-Sammlung gehören. Nun weiß ich, dass es meine ersten drei Vinyl-Veröffentlichungen sind. Und das freut mich besonders, denn diese LPs waren in dem Sinne für mich auch wichtig, weil es sich um Performances handelt, also um audio-visuelle Arbeiten, die damals zum Teil auch in Bremen aufgeführt worden sind. Allerdings sind es keine dokumentarischen Aufnahmen, sondern es wurde alles im Studio nochmal produziert und basierte auf Kompositionen von mir.

Mit Audio-Publikationen wie Vinyl, MC oder CD lassen sich die sichtbaren Ereignisse, die für die Klangkunst ja genauso konstituierend sind, allerdings nicht abbilden.

Ich fand die Schallplatten trotzdem informativ und schön gestaltet, mit Bildmaterial, Texten usw. Anlässlich meiner zweiten Schallplatte „tempo liquido“, ein teilweise sehr lautes Stück für verstärkte Glasscheiben, die mit Fingerhüten in kreisförmigen Bewe­gungen zum Klingen gebracht wurden – dazu gab es Tonbandeinspielungen –, sagte mir jemand mal, das sei früher Heavy Metal. Als ich mir das kürzlich nochmal anhörte, dachte ich, dass es einen akustischen Bestandteil hat, den ich damals gar nicht so intensiv wahr­genommen habe, weil wir ja selbst die Performer waren. Auch deswegen bin ich einfach froh, dass es diese Platten gibt.

Performance ist ein wichtiges Wort, denn von ihr geht es bei Dir dann zur Installation. Bei anderen Künstlern verlief es biografisch umgekehrt: erst die Installation, dann die Performance.

Das Auf-der-Bühne-Stehen und die Erwartungshaltung, die mir da entgegenkam, haben mir persönlich nie sehr zugesagt. Aber die Räume, in denen ich auftrat, wurden für mich immer interessanter. Sie zu Klangräumen werden zu lassen war eine Vision, die ich nach und nach in die Realität übersetzen konnte. Anfang der 1980er-Jahre konnten wir oft ehemalige industrielle Räume nutzen, also Räume, die eigentlich keine typischen Veranstaltungsräume waren: Parks, Dachgeschosse, Keller, Fabrikhallen, Ruinen usw. Ich hatte immer die Vor­stellung, man betritt einen Raum, hört überall etwas, kann sich bewegen und hat keine Vorgabe, wie lang das dauert. Es gibt keinen Anfang und kein Ende bei der Klangkomposition und auch verschiedene Möglichkeiten, sie in verschiedenen Positionen anzuhören. Das räumliche Hören ist mir sehr wichtig. Man muss dazu sagen, dass die technischen Weiterentwicklungen der Aufnahme- und Abspieltechnik – die Geräte wurden zunehmend kleiner, erschwinglicher und transportabler – diesen Weg mit ermöglicht haben. Die jüngste meiner raumbezogenen Arbeiten „Orchestra on a Wire“ für die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 2018 wurde in einer Turnhalle installiert. Ohne die heutige Technik wäre diese 32-kanalige Komposition mit besonderen Vorab-Aufnahmen des hr-Sinfonieorchesters und Live-Klängen des Quartetto Maurice kaum realisierbar gewesen.

Wie reagierte die Musik- bzw. die Kunstszene auf die neuen Installationsformen?

Die meisten Musikveranstalter sagten, das ist ja gar keine Musik mehr. Und die Vertreter der bildenden Kunst sagten: „Mmmh, solche Arbeiten kriegen wir in unseren Häusern nicht unter, wir brauchen dafür einen separaten White Cube. Dann gab es aber auch viele Veranstalter, gerade in kleineren Museen und Kunstvereinen, die sich für den Klang und den Bezug zum Raum schon früh interessiert haben. Die heutige Museumsarchitektur geht oft nur von visuellen Arbeiten aus. Akustische Arbeiten sind nicht vorgesehen und würden auch nur stören, oft ist eine Klangarbeit dann in allen Räumen zu hören. Das Auge kann das, was es sieht, trennen, das Ohr hört alles. Also braucht man eigentlich spezielle Räume für Klanginstallationen.

Klangkunst – tönende Räume und klingende (Licht-)Objekte – ist ein Bereich Deiner Arbeit; ein anderer ist die Realisation von elektroakustischer Musik, also einer bildfreien Musik, die man nur mittels Kopfhörer oder Lautsprecher hören kann. Zudem gibt es Werke von Dir, die rein visuell sind.

Für mich gehört das alles zusammen. Der Schwerpunkt verschiebt sich, nicht aber die Thematik. Ich arbeite für meine Kompositionen intensiv mit „field recordings“…

… und Feldaufnahmen sind …

Das sind Aufnahmen unserer akustischen Umgebung, die manche als Geräusch, andere als Klang bezeichnen. Stadt, Land, Fluss, Verkehr und Natur, Stimmen und Tiere und so weiter. Mit „field recordings“ komponiere ich oft auch thematische Stücke, z. B. eine Radiokomposition zum Thema Paternoster. Dafür habe ich während eines Zeitraums von zwei Jahren die Klänge von verschiedenen Paternosteraufzügen bzw. Fahrten darin aufgenommen. Auch die verborgenen Klänge, die uns stets umgeben, lasse ich durch spezielle Kopfhörer, die ich entwickelt habe, hörbar werden und nehme sie auf.

Du sprichst von „hidden sounds“, elektromagnetischen Klängen, die mittels Induktionstechnik akustisch wahrnehmbar werden.

Ja. Mich interessiert es schon lange, die Parallelwelten, die uns umgeben, hörbar und/oder sichtbar zu machen. So geht man  bei  den  von  mir  konzipierten ­„Electrical Walks“, die ich seit vielen Jahren mache, mit speziell dafür gebauten Induktionskopfhörern in der Stadt umher und hört die uns umgebenden elektrischen Felder. Dabei geht das, was man sieht und was man hört plötzlich nicht mehr zusammen. Man nimmt z.B. starke rhythmische und tiefe Klänge wahr und sieht dabei in eine idyllische Parklandschaft. Dann weiß ich, dass dort wahrscheinlich unterirdisch Kabelstränge verlaufen. Oder man hört schrille schnelle Signale und ist auf einem alten Marktplatz. Das ist dann wahrscheinlich ein WLAN-Sender in der Nähe, den man normalerweise nicht sieht. Was mich immer interessiert hat, sind die Relationen zwischen Visuellem und Akustischem. Wenn wir etwas anderes sehen als das, was wir hören, dann passiert etwas im Kopf. Wir werden verun­sichert, wir wissen nicht mehr genau, was jetzt eigentlich los ist, da die Bezüge nicht mehr stimmen. Wenn der Wald nicht mehr Wald ist, er nicht mehr nach Vogel klingt, sondern nach elektrischen Strömen, dann ist der Wald ein anderer.

 „Electrical Walks“ hast Du in den verschiedensten Städten der Welt realisiert, u.a. in Las Vegas, Brno oder Oslo, wo Du bisher insgesamt drei Mal die atmosphärischen Klangsitua-tionen erkundet hast. Haben sich die unsichtbaren Parallelwelten hörbar verändert?

Sehr. In Oslo habe ich 2006, 2009 und 2018 elektromagnetische Aufnahmen gemacht. Die Stadt hat sich im öffent­lichen Bereich, wie viele Städte in Nordeuropa, zunehmend technologisch entwickelt. Man bezahlt nirgendwo mehr mit Bargeld, sondern mit Kreditkarte. Fast alle Türen kann man nur noch mit digitalen Sicherheitskarten öffnen, ­überall  gibt  es  öffentliches  WLAN. Die digitale Welt ist überall präsent, das hört man und die elektromagnetischen Klänge sind anders geworden. In Las Vegas besuchte ich zwei Wochen lang die Spielcasinos. Ich hatte gehofft, dort auch diese ganzen schönen Klänge zu hören, die ich manchmal in den hiesigen Spielhallen aufgenommen hatte. Die Spiel­maschinen dort sehen immer noch alt­modisch aus, haben aber ein digitales Innenleben, was ziemlich scharf und hoch und mit schnellen unruhigen Texturen klingt, während die alten Maschinen eher musikalisch klangen.

Ist die Klangkunst in unserer Gesellschaft angekommen?

Inzwischen nehmen auch die Museen die Klangkunst wahr. Aber ich denke, dass gerade für viele der dort arbeitenden Kuratoren das Hören oft gar nicht interessant ist. Sie denken auch nicht an die Besonderheiten des Klangs, etwa dass dieser weiterreicht als nur in der Ecke, wo die Arbeit platziert ist. Das führt oft zu einem großen tönenden Chaos, das natürlich erschreckt. Deswegen wird auch wenig Klangkunst gesammelt, weil Töne eben nicht in ihrer Ecke bleiben. Außerdem braucht Klang Raum, über den die Museen eben meist nicht in der dafür benötigten Vielzahl verfügen. Bei Sammlern ist es das Gleiche, auch die haben nicht so viele Räume. Deshalb wollen sie gerne was Leises, Kleines und Objektartiges. Nach wie vor ist Klangkunst immer noch eine Kunst in der Nische.

Nun könntest Du, die Mittel stehen hier leider nur imaginär zur Verfügung, etwas Großes für die Klangkunst initiieren. Was wäre das?

Es wäre sehr schön und wichtig, eine Ausstellung über die Geschichte der Klangkunst zu machen. Und zwar mit alten und mit neuen Arbeiten. Es werden meistens nur aktuelle Werke gezeigt und gefördert. Nur ganz, ganz selten werden in diesem Bereich ältere Arbeiten als Reenactments ausgestellt. Das aber wäre wichtig – und in der bildenden Kunst ist das auch Praxis –, um frühere und ­neuere Techniken und Ideen vergleichen und auch bewahren zu können. Eine solche Ausstellung wäre wunderbar.

Und welche Bereiche würdest Du gerne selbst künftig erforschen, wenn Dir alle Türen offen stünden?

Ich würde gerne Aufnahmen an den mir wohl niemals zugänglichen Orten machen. Z. B. im Silicon Valley, in den Google-Farmen oder in riesigen Server-Zentren irgendwo mitten in der Landschaft. Diese digitalen Fabriken sollen ja unentdeckt und eher versteckt bleiben, damit die Illusion der immateriellen schönen neuen freien kabellosen Welt nicht zerstört wird. Aber die Orte, die unsere Smartphones am Leben halten, verbrauchen unendlich viel Strom und sind unglaublich laut, wenn die Diesel­aggregate für den Ersatzstrom einge­schaltet werden. Es gibt viele Dinge im Verborgenen, die wir aber eigentlich kennen und vor allem hören sollten.