„La cédille qui sourit“

Liebe Leserinnen und Leser,

werden Sie gern verunsichert? Schätzen Sie es, wenn Sie liebgewordene Sichtweisen in Frage gestellt sehen? Als Johannes Cladders, Direktor des Städtischen Museums in Mönchengladbach, im Juni 1969 eine Ausstellung seines Hauses mit Werken der Fluxus-Künstler George Brecht (1926 –2008) und Robert Filliou (1926 –1987) eröffnete, sprach er über eben jene Unsicherheit und über die Wachheit, die aus der Unsicherheit entsteht. Cladders bezog sich auf ein Projekt, das Brecht und Filliou einige Jahre zuvor in Villefranche-sur-Mer bei Nizza verwirklicht hatten und das den Namen „La cédille qui sourit“ trug, „Das Häkchen, das lächelt“: Ein Laden, in dem neben Werken von Brecht, Filliou und Anderen auch Alltagsgegenstände oder Kurioses so ausgestellt wurden, dass eine Unterscheidung zwischen ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ nicht ohne weiteres möglich war. Das dadurch entstehende „merkwürdige Zwielicht“ besaß für Johannes Cladders einen eigenen Wert: „Besagtes Zwielicht erzeugt nämlich eine gewisse Unsicherheit, und sie wiederum hat eine besondere Wachheit im Gefolge. Sie erzwingt ein waches, kritisches Verhalten. Im Endeffekt reizt sie zur Reflektion über die wirk­lichen Positionen von Kunst und Kultur und gewöhnlichem Leben. Indem das Zwielicht die Grenzen verwischt und so in Unsicherheit stürzt, gibt es zugleich das schizophrene Schubladendenken – hier Kultur, hier Zivilisation, hier Kunst und hier Leben – auf.“

Wenn uns die Protagonisten und Positionen der Fluxus-Bewegung heute gleichermaßen vertraut und nach wie vor provokant erscheinen, so hat dies einerseits gewiss damit zu tun, dass Fluxus die Kunst der Gegenwart, insbesondere die konzeptionelle Kunst, und damit unsere Sehgewohnheiten maßgeblich mitgeprägt hat. Andererseits zählte zu den zentralen Aspekten von Fluxus „die konzeptuelle, anti-kommerzielle und anti-institutionelle Ausrichtung“, wie Susanne Rennert in ihrem Beitrag zu Sammlung und Archiv Dorothee und Erik Andersch in diesem Heft betont (S. 22 –28). Das Hinterfragen gesellschaftlicher und politischer Konventionen, formale und mediale Durchdringungen, die Auflösung einer starren Disziplinarität, all das wirkt wohltuend irritierend in einer Gegenwart, in der Abgrenzungen, Partikularismen und regressive Nationalismen an politischem Einfluss gewinnen und Einzug in gesellschaftliche Diskurse halten. Die Erwerbung von Sammlung und Archiv Dorothee und Erik Andersch für das Städtische Museum Abteiberg Mönchengladbach sowie der Sound Collection Guy Schraenen für die Bremer Weserburg, die die Kulturstiftung der Länder gemeinsam mit ihren Partnern ermöglichen konnte, ist damit nicht zuletzt ein deutliches Signal der föderalen Kulturförderung zur Stärkung derjenigen Kräfte in unserer Gesellschaft, die diesen Tendenzen intellektueller und kultureller Erstarrung entgegenwirken wollen.

Werke der Fluxus-Bewegung sind heute auch noch in anderer Hinsicht relevant: Ihre vielfach prekäre Materialität verweist auf die erheblichen Herausforderungen kulturbewahrender Einrichtungen beim Erhalt des materiellen Kulturerbes des 20. Jahrhunderts. Kunststoffe, Papier und organische Materialien sind konservatorisch anspruchsvoll und bedürfen eines besonderen Engagements der verantwortlichen Institutionen. Der Ausbau entsprechender Ausbildungs- und Förder­programme wird eine wichtige kulturpolitische Aufgabe der nächsten Jahre sein.

Ihr Markus Hilgert