Von Mann zu Mann

Literatur- wie kulturwissenschaftliche Sensationen kommen zuweilen eher unauffällig daher, etwa in Gestalt einfacher Briefkarten oder banaler Ansichtskarten, versehen mit verwischten Poststempeln, den postalischen Vermerken längst untergegangener Ver­waltungsbezirke, adressiert an nicht mehr existierende Anschriften und in mehr oder weniger gestochen scharfer Schrift mit meist kaum verblasster Tinte geschrieben. Unauffälliger könnten sie nicht aussehen, jene 81 Karten, die Thomas Mann zwischen 1900 und 1914 sowie zwischen 1922 und 1928 an seinen Bruder Heinrich richtete, und doch sind sie ein sensationeller Fund. Schon der Umfang des Konvoluts ist in der Forschung bisher nahezu beispiellos – die letzten größeren Funde von Dokumenten aus dem Briefwechsel der Brüder liegen schon an die 30 Jahre zurück und reichen rein quantitativ bei weitem nicht an die Dimension des nun aufgefundenen Materials heran.

Der Schriftsteller Thomas Mann mit Füllfederhalter und Zigarette, aufgenommen um 1900 in München
Der Schriftsteller Thomas Mann mit Füllfederhalter und Zigarette, aufgenommen um 1900 in München

Für die Thomas-und-Heinrich-Mann-Forschung stellt die Erwerbung, welche den Lübecker Museen u. a. mit Mitteln und unter Verhandlungsführung der Kulturstiftung der Länder gelang, einen wichtigen Schritt dar: Die Anzahl der bekannten Schriftstücke aus dem Briefwechsel von Thomas an Heinrich Mann erhöht sich um mehr als ein Drittel auf 252 Dokumente, und für den Zeitraum der Korrespondenz ergibt sich ein Zuwachs um mehr als die Hälfte auf insgesamt 143. Das klingt eindrucksvoll und ist um so bedeutsamer, als die Forschung mit Hilfe der jetzt erworbenen ­Dokumente in die Lage versetzt wird, sich den Brüdern Mann aus einer neuen Perspektive zu nähern. Die scheinbar banale Form der Kommunikation per Karte erlaubt eine andere Sichtweise auf das Verhältnis und den Austausch der berühmtesten Brüder der deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts: Während die bisher bekannten, ausführlichen Briefe eine klug inszenierte Form der Selbstdarstellung waren und in Sprache und Themenwahl oft sehr kontrolliert wirken, zeigen die neuerworbenen Kurzmitteilungen ein weniger inszeniertes, unmittelbareres Bild.

Das Medium bestimmt die Botschaft – Briefkarten werden nicht versendet, um in ihnen gewichtige litera­rische Debatten abzuhandeln, sie dienen nicht dazu, detailliert über literarische Entwürfe zu schreiben und sie werden noch weniger mit dem Ziel entworfen, sich selbst als große Dichterpersönlichkeit zu stilisieren. Vielmehr handelt es sich um kurze Mitteilungen, in denen Treffen vereinbart, Grüße versendet oder Anliegen skizziert werden. Zum Teil finden sich mehrere Karten, die am selben Tag abgeschickt wurden und eine Ergänzung der zuvor geschriebenen darstellen. Der Postservice mit mehrmaliger Zustellung am Tag ließ einen Austausch vergleichbar mit der Frequenz heutiger elektro­nischer Nachrichten zu – ein Phänomen, das man aus vielen Korrespondenzen und Tagebuchnotizen von Zeitgenossen der Manns kennt. Die Spontaneität der Mitteilung, ihre Funktion als alltägliches Nachrichtenmedium, führt dazu, dass sich dem Leser weitaus intimere Einblicke in das Geschwisterverhältnis bieten, als es auf Grundlage der bisher bekannten Dokumente der Fall war. Für den Zeitraum vor dem Ersten Weltkrieg, aus dem der Großteil der Korrespondenz stammt, sind bisher keine Tagebuchnotizen Thomas Manns bekannt. Der durchaus liebevolle und offenherzige Ton der Karten lässt vermuten, dass die Auswertung des Konvoluts das Bild der Mann-Forschung und der Leser vom Verhältnis der jungen Mann-Brüder präzisieren wird.

So finden sich viele Aussagen, in denen Thomas Mann seinen Bruder einlädt, ihn immer wieder darum bittet, endlich ein erneutes Treffen zu ermöglichen und als ausgesprochen anhänglich erscheint: „Ich habe nicht ganz wenig zu erzählen“ (10.4.1904) oder „Lieber Heinrich, du hast zwar auf meinen letzten Brief nicht geantwortet, aber ich bin in der Laune, Alles und Jedes zu verzeihen […]“ (20.4.1904). Heinrich Mann selbst attestierte seinem Bruder in einem nicht abgeschickten Briefentwurf vom 5. Januar 1918, er habe ihr Verhältnis zu sehr auf das Dichterische bezogen: „Du hast, nach allem, was ich sehe, Deine Bedeutung in meinem Leben unterschätzt, was das natürliche Gefühl betrifft, und überschätzt hinsichtlich der geistigen Beeinflussung.“ Dieser Befund lässt sich auch auf die germanistische Forschung übertragen. Solange entsprechende Dokumente fehlten, wurde sich möglicherweise zu stark auf das durchaus von literarischem Wettbewerb geprägte Verhältnis des Dichters Thomas Mann zum Dichter Heinrich Mann konzentriert und die private Ebene vorschnell außer acht gelassen. Wie alltäglich es auch im Hause Mann zugehen konnte, zeigen Zitate wie Thomas Manns Empfehlung an den Älteren, es doch einmal mit einem neuen Nahrungsmittel zu versuchen: „Lieber Heinrich, ich vergaß, zu schreiben, daß ich jetzt immer Yoghurt trinke und es Dir, wenn Du’s noch nicht probiert hast, sehr empfehlen kann. Er ist wohlschmeckend und leicht abführend […].“ (27.2.1909).

Dass sich die Brüder privat wie politisch mehr und mehr zu Antipoden entwickelten, ist bekannt, genauso wie der große Bruderzwist auf Grund ihrer Haltung zum Ersten Weltkrieg. Anhand der neu aufgefundenen Dokumente muss die Familiengeschichte nicht neu geschrieben werden, und es bleibt bei dem von 1915 bis 1922 dokumentierten Schweigen bis zu ihrer Aussöhnung. Statt radikaler Korrekturen versprechen die weitere Lektüre und wissenschaftliche Auswertung der Karten Nuancierungen: Es wird wertvolles Detailwissen über biographische Stationen Thomas und Heinrich Manns dazukommen, und für bisher unverständlich gebliebene Bemerkungen aus dem schon bekannten Briefwechsel werden sich Erklärungen finden. Konnte der Leser beispielsweise bei der Bemerkung Thomas Manns in einem Brief, er sei mit dem Fontane zu ungeduldig gewesen, nur mit den Schultern zucken, so erschließt sich nun der Zusammenhang, wenn auf einer Karte, die wenige Tage zuvor abgesendet worden war, Thomas die Bitte an Heinrich richtet, er möge Inés (Heinrichs Lebensgefährtin bis 1910) doch bitte an den Fontane erinnern (4.6.1908).

Was wie ein Puzzlespiel für Fortgeschrittene an­mutet, ist in der Praxis das Glück des Wissenschaftlers, der in einem bereits detailliert bearbeiteten Forschungsfeld Lücken schließen und neue Erkenntnisse gewinnen kann. Betrachtet man das Karten-Konvolut vor dem Panorama der parallelen Mann-Biographien bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, fügen sich die Puzzlesteine in Leben und Werk der Brüder ein. Für ihre Karrieren als Dichter könnten einige der vorliegenden Karten wichtig werden, in denen sich Andeutungen von gemeinsamen Projekten finden oder Bezug auf das gegenseitige schriftstellerische Schaffen genommen wird. Denn die Karten wurden in jenen Jahren verfasst und versendet, in denen die großen frühen Werke entstehen, von Thomas’ „Buddenbrooks“ (1901) über Heinrichs „Professor Unrat“ (1905) bis zu Thomas’ „Königliche Hoheit“ (1909).

Charakteristisch für den Kartenbestand ist die Abfolge von Orten und häufigen Ortswechseln, die man zumindest für den Adressaten Heinrich konstatieren kann. Seit Ende des 19. Jahrhunderts bis 1914 lebte er nicht in Deutschland, bis er 1914 die tschechische Schauspielerin Maria Kanova heiratete und sich in München niederließ. Italien war den Brüdern gemeinsam; zwischen 1896 und 1898 hatten Thomas und Heinrich zusammen in Italien gelebt, und die italienischen Postkartenmotive, selbst wenn sie von Thomas Mann aus München versendet werden, wirken wie eine Reminiszenz an die gemeinsame Zeit beziehungsweise eine Reverenz an den zeitweiligen Lebensmittelpunkt des Bruders. Reiseziele, Ferienaufenthalte und bisher nicht sicher belegbare Daten beider Biographien werden nun ergänzt werden können, wobei für Thomas Mann auch aus der Perspektive der Postkarten München das feste Zentrum darstellt, wo Katia und er kurz vor Kriegsbeginn das erste eigene Haus bezogen und er seinem Bruder an häufig wechselnde Adressen schrieb.

Nicht nur aus dem Inhalt, sondern auch aus der Erscheinung der Karten ergibt sich ein amüsantes Spiel für den Leser wie auch für die Edition und Kommentierung des Materials, denn sowohl die Auswahl des Kartenformats oder der Motive der wenigen Ansichtskarten als auch die Art der Beschriftung bieten mindestens ebenso viel Raum für die weitere Forschung wie die Inhalte. Passen Kartenmotiv und Aufenthaltsort häufig zusammen und werfen höchstens die Frage nach dem möglichen Grund der Auswahl genau dieser Ansicht auf, so gibt es andere Fälle, in denen es keinen unmittelbar ersichtlichen Zusammenhang zwischen Autor und Adressaten gibt. Hier bleiben bis zur genaueren Erforschung der Karten noch viele Fragen offen – etwa die nach der rasch hingeworfenen Karikatur eines Frauenkopfes auf einem der Briefumschläge, von der noch nicht sicher ist, ob Thomas oder der zeichnerisch durchaus begabte Heinrich ihr Schöpfer war. Zugleich ist auf vielen der Karten das Schriftbild selbst interessant. Thomas Mann drehte beim Schreiben – wie man selbst es möglicherweise beim Verfassen von Urlaubsgrüßen bereits kennt – die Karten manchmal um 90 Grad, um Platz für weitere Sätze oder einen Abschiedsgruß zu gewinnen oder fügt Text auf der Vorderseite ein. Durchgestrichene und überschriebene Adressen signalisieren einen erst nachträglich erfahrenen Ortswechsel Heinrichs. Lapidare Äußerungen wie „Ich reise Mittwoch d. 24ten ohne Aufenthalt nach Florenz, bin also am 25ten in aller Frühe da“ (20.4.1901) stehen, anders als es bei der heutigen elektronischen Kommu­nikation der Fall wäre, nicht als normierter Text da, sondern naturgemäß mit allen Unregelmäßigkeiten einer individuellen Handschrift, die von Karte zu Karte leicht variiert und unterschiedlich angeordnet wird. Thomas Manns Ankündigung, nach Florenz zu reisen und dort zunächst in einem Hotel und später bei Heinrich in der Pension Ma’m’ Fondini unterkommen zu wollen, rankt sich um das Motiv einer Büste Napoleon Bonapartes. Einige Worte reichen in die Abbildung hinein, gut die Hälfte der Botschaft ist über Kopf geschrieben und über Napoleons Kopf platziert. Warum wohl wählte Thomas Mann ausgerechnet dieses Motiv, um seinem Bruder zu schreiben? Von historischen Spekulationen bis zu einem – bislang nicht entschlüsselten – familieninternen Scherz bieten sich hier verschiedene Deutungen an, wobei für die Forschung neben der inhaltlichen Auflösung eben auch die Beschäftigung mit der Ästhetik der Karten von Bedeutung ist. Dieses Verhältnis von Schrift und Bild und ihrer Kombination zu einer neuen, oftmals humorvoll erscheinenden Einheit ist bei der Betrachtung des Kartenkonvoluts ein ganz unmittelbares Vergnügen, auch wenn nicht immer auf Anhieb zu entziffern ist, welche Inhalte hier transportiert werden sollten. Insofern erweisen sich die scheinbar banalen Karten gerade in ihrer Knappheit und zuweilen eigenwilligen Gestaltung als Botschafter eines sehr vertrauten Brüderpaars.

Für das Archiv des Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrums im Buddenbrookhaus in der Hansestadt Lübeck stellt der Fund einen bedeutenden Zuwachs dar. Das Lübecker Buddenbrookhaus ist neben dem Thomas-Mann-Archiv in Zürich die weltweit führende Stätte auf dem Gebiet der Erforschung von Leben und Werk der Gebrüder Mann, und das neue Material wird eine wichtige Rolle bei der Neustrukturierung des Buddenbrookhauses spielen. Nachdem die Lübecker Museen mit Hilfe der Bundesregierung das Nachbarhaus des Buddenbrookhauses erwerben und damit den Platz für die Ausstellungsflächen signifikant vergrößern konnten, kann hier in Zukunft ein neues, visuell wie inhaltlich ansprechendes Ausstellungskonzept präsentiert werden. (Alle Rechte an den Texten von Thomas Mann liegen bei der S. Fischer Verlag GmbH)