„Lou, liebe Lou“
Ohne Lou Andreas-Salomé wäre Rainer Maria Rilkes Leben anders verlaufen. Als er sie in München, wo er studierte und Kontakte zur literarischen Szene suchte, im Mai 1897 eher zufällig kennenlernte, umgab die 36-jährige Petersburgerin bereits die Aura einer berühmten Autorin. Man kannte ihre Erzählungen und Romane und ihr Buch über Ibsen, und man wusste, dass die selbstbewusste Intellektuelle einen Heiratsantrag von Nietzsche abgewiesen hatte. Der erste Brief, den Rilke ihr am 13. Mai 1897, am Tag nach der ersten Begegnung schreibt, verrät eine geradezu religiöse Verehrung. Er habe ihren Essay „Jesus der Jude“ als „Offenbarung“ mit „gläubigem Vertrauen“ gelesen, ihn gar als eine „Weihe“ empfangen. Die Apotheose der Angeredeten gehört bekanntlich zum rhetorischen Repertoire von Liebesbriefen, doch Rilke scheint es ungewöhnlich ernst zu meinen: „Ich hab dich nie anders gesehen, als so, daß ich hätte beten mögen zu Dir. Ich habe Dich nie anders gehört als so, daß ich hätte glauben mögen an Dich. Ich hab Dich nie anders ersehnt, als so, daß ich hätte leiden mögen um Dich. Ich hab Dich nie anders begehrt, als so, daß ich hätte knien dürfen vor Dir.“

Im selben Jahr 1897 verbringt er mit ihr einen Sommermonat in Wolfratshausen am Starnberger See. Diese „Zeit großen Umsturzes“ beschreibt er in einem Brief als Sündenfall und Erlösung zugleich: „Ich bin aus dem Garten fort, in dem ich mich lange müde gegangen bin […].“ Sein Gedicht: „Lösch mir die Augen aus: ich kann Dich sehn | Wirf mir die Ohren zu: ich kann Dich hören“, das er später in sein „Stundenbuch“ aufnahm und das heute in keiner Sammlung religiöser Lyrik fehlt, schreibt er in Wolfratshausen – als Liebesgedicht. In diesem Sommer hat sich sein Selbstverständnis radikal gewandelt. Das lässt sich an zwei Merkmalen ablesen, die seit jeher für die Identität eines Menschen stehen: am Namen und an der Handschrift. Seit dieser Zeit unterzeichnet Rilke nicht mehr mit seinem Taufnamen „René“ sondern mit „Rainer“ – denn so nennt ihn Lou Andreas-Salomé. Aber auch seine Handschrift gleicht er der ihren an: Von nun an weisen seine Schriftzüge jenen vereinfachten, gleichmäßigen Duktus auf, den er bis zu seinem Lebensende beibehalten wird. Und wie sie orientiert er seinen Alltag, seine Kleidung und Essgewohnheiten an den Ideen der Lebensreformbewegung. Lou Andreas-Salomé ist seine bedingungslose Hingabe keineswegs geheuer. Ihr missfällt die „Überschwenglichkeit“ seiner Briefe, sie untersagt ihm die Veröffentlichung der Liebesgedichte, die er unter dem Titel „Dir zur Feier“ gesammelt hat. Sie will weniger angebetet und mehr wahrgenommen werden; freundschaftliche Beziehungen schätzt sie vor allem dann, wenn sie auf einer Arbeits- und Lerngemeinschaft beruhen.
Nach dem Sommer in Wolfratshausen zieht Rilke nach Schmargendorf bei Berlin, wo Lou Andreas-Salomé in einer unkonventionellen Ehe mit dem Iranisten Friedrich Carl Andreas lebt. 1899 reist er mit den beiden nach Russland, unter anderem besuchen sie Tolstoi in Jasnaja Poljana. Nach der Rückkehr treiben sie gemeinsam Studien zur russischen Sprache und Geschichte für eine zweite, noch ausgedehntere Fahrt durch Russland im Sommer 1900. Auf dieser Reise kühlt sich ihre Beziehung ab. Im Februar erreicht Rilke in der Künstlerkolonie Worpswede ein „letzter Zuruf“ von ihr. Lou Andreas-Salomé bricht den Kontakt ab, sie ist beunruhigt über seinen psychischen Zustand, seine „schwankende Ungewissheit zugleich mit lauten Accenten und starken Worten und Betheuerungen, voll Wahn-Zwang, ohne Wahrheits-Zwang!“ Nur wenn er einmal in ausweglose Not gerate, dürfe er sich wieder an sie wenden. Mehr als zwei Jahre ruht die Korrespondenz. Dann, am 23. Juni 1903 macht Rilke von ihrem Angebot Gebrauch und bittet um ein Treffen. Sie wehrt ab, man möge sich „zunächst schriftlich wiedersehn“. Rilke antwortet mit einem siebenseitigen Brief, in dem er offen über seine problematische Ehe mit Clara Westhoff und über sein unglückliches Leben in Paris berichtet. Lou Andreas-Salomé ermuntert ihn, Genaueres zu schreiben. Darauf schildert er auf 20 Seiten detailliert Szenen der Trostlosigkeit, die ihn in der Großstadt Paris nachhaltig verstörten. In diesem Brief erkennt sie begeistert einen neuen Schreibstil, eine „Klarheit der Einsicht“, frei von „Selbsttäuschungen“, und spürbar erleichtert ermuntert sie ihn: „Nun ist Dir’s gekommen: der Dichter in Dir dichtet aus des Menschen Ängsten.“ Das war es, was Rilke hören wollte. Sein Erzählbrief war ein Versuchsballon: „D i r konnte ich schreiben davon weil ich voller Sehnsucht bin, mich vor Dir auszubreiten, damit Du mich überschauest; aber es war nur ein Brief. Und noch ist nichts gebildet daraus, noch ist kein Ding da, das für mich Zeugnis giebt: wird es denn kommen?“ Einige Jahre später gehen ganze Passagen aus seinem Brief in die „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ ein. Auch dieses Werk, das man heute zu den Höhepunkten der Prosakunst im 20. Jahrhundert zählt, wäre ohne ihren Zuspruch kaum geschrieben worden.
Die Lebensumstände von Lou Andreas-Salomé kommen im Briefwechsel kaum zu Sprache, das Hauptthema ist Rilke, seine Ängste und Nöte, seine Ansichten und Werke. Er schreibt in der Rolle des Autors, sie in der seiner ersten Leserin. Sie tritt als einzige maßgebliche Instanz an die Stelle eines anonymen Publikums, das aus vielen, einander widersprechenden Beobachtern besteht. Auch darum idealisiert er sie als gottähnliches Wesen, weil er ihr seine Identität als Autor verdankt. Allein die Tatsache, dass sein Buch über den Bildhauer Auguste Rodin ihr „unglaublich lieb“ ist, dürfte ihn darin bestärkt haben, jene Poetik der Dinge, die ihm an den Skulpturen aufgegangen war, in Gedichtzyklen wie dem „Buch der Bilder“ oder den „Neuen Gedichten“ weiterzuentwickeln. Zu wissen, dass sie das von ihm Geschriebene lesen und begutachten würde, bedeute „unendlich viel“ für ihn: „Dir auch das Tägliche sagen zu dürfen, das immer lauter verwirrendes für mich hat, weil ich es nicht überschaue, vor Dir ordnet es sich und wird ein anderes Ding. Und daß ich das weiß, das hilft mir mehr als ich sagen kann.“ Als Rilke erwägt, erneut in Deutschland zu studieren und als Möglichkeit auch die Universitätsstadt Göttingen nennt, wo Lou Andreas-Salomé inzwischen wohnt, erteilt sie ihm eine Absage. Von seltenen Begegnungen abgesehen, beschränkt sich ihre Beziehung nach ihrem Willen bis zum Ende seines Lebens auf den schriftlichen Austausch, der dadurch freilich an Intensität und Dynamik gewinnt und der Nachwelt einzigartige Einblicke in das Leben und Werk Rilkes ermöglicht. Kontinuierlich berichtet er von seiner krisenreichen literarischen Arbeit und schickt seine Werke oft schon als Entwürfe. Niemandem sonst schreibt er so rückhaltlos persönliche Beichten, Hilferufe und Jubelgesänge. Von seinem letzten Wohnort, dem einsamen Turm im schweizerischen Muzot, meldet Rilke im Februar 1922 voller Freude die Vollendung jener „Duineser Elegien“, deren erste Ansätze seine Leserin bereits Jahre zuvor kennengelernt hatte: „Lou, liebe Lou, also: in diesem Augenblick, diesem, Samstag, den elften Februar um 6, leg ich die Feder fort, hinter der letzten vollendeten Elegie, der zehnten. Jener (auch damals schon war sie bestimmt, die letzte zu werden), zu dem schon in Duino geschriebenen Anfang: ‚Dass ich dereinst am Ausgang der grimmigen Einsicht | Jubel und Ruhm aufsinge zu-stimmenden Engeln …‘ Soviel davon da war, las ich Dir, aber es sind nur eben die ersten zwölf Zeilen geblieben, alles übrige ist neu und: ja, sehr sehr, sehr herrlich!“
Im Deutschen Literaturarchiv Marbach stehen der Forschung nun insgesamt 103 Briefe (554 Seiten), 21 Karten und vier Telegramme von Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé zur Verfügung, nachdem sie unlängst aus Privatbesitz erworben werden konnten. Zusammen mit den vorhandenen Autographen verfügt das DLA damit über den umfangreichsten öffentlichen Bestand an Handschriften Rilkes.