„So ist meine Kunst nur Natur“

Da steht er. Dick eingepackt und an eine Birke gelehnt, malt Karl Hagemeister (1848 –1933) eine Landschaft. Pinselkorb und Leinwand sind einfach im Schnee abgestellt. Kälte hielt den brandenburgischen Maler nie davon ab, in der Natur zu malen. Denn die Natur war sein Atelier. Ein anderes hatte er nicht, und ein anderes brauchte er nicht. Direkt in der Natur entstanden die Bilder der brandenburgischen Seen und Wälder, die Gemälde der Ostseewellen auf der Insel Rügen und die Bilder mit selbstgetötetem Wild, denn der Maler verdiente sein Geld auch als Jäger und Fischer.

Karl Hagemeister, Am Schwielowsee im Winter, um 1895, 73 × 119 cm; Bröhan-Museum, Berlin
Karl Hagemeister, Am Schwielowsee im Winter, um 1895, 73 × 119 cm; Bröhan-Museum, Berlin

Im Archiv des Berliner Bröhan-Museums liegt ein kleines Nachlass-Konvolut, zu dem dieses Winterfoto gehört. Darunter ist auch eine Autobiografie, in der der Künstler auf wenigen Seiten, präzise, schnörkellos und unprätentiös sein Leben beschreibt. „In Werder a/H. bei Berlin wurde ich als Sohn eines Obstzüchters im Jahre 1848 am 12.ten März geboren. Ich wollte nicht Obstzüchter werden, sondern Lehrer oder Maler.“ Obstzüchter wurde er nicht, Lehrer auch nicht, dafür Jäger und Maler. „Da ich Jäger war wie Courbet, so malte ich viel Wild, aber immer naturgroß, so wie ich es nach dem Schuss gefunden habe. Ja, ich lebte sogar von der Jagd, denn solche Bilder kaufte niemand“, schrieb Hagemeister rückblickend über sein Leben. Zuvor war ihm gelungen – zumindest auf Zeit –, was dem Künstlerkollegen Vincent van Gogh so gründlich misslang: eine Künstlergemeinschaft. Gemeinsam mit dem österreichischen Malerfreund Carl Schuch verbrachte Hagemeister seine Studienjahre in Bayern, Italien, Frankreich und in der brandenburgischen Heimat.

„Für mich ist die Zeit, in der ich mit Schuch nach neuen Wahrheiten suchte, die glücklichste meines Lebens, an die ich mich stets erinnere“, schrieb er 1913, als die Künstlerfreundschaft längst zerbrochen und Schuch schon seit zehn Jahren tot war. Denn nachdem Schuch erkannte, dass sich die Kunst seines Malerfreundes weit von der eigenen entfernte und besser als die eigene wurde, kündigte er ihm die Freundschaft. In Hagemeisters autobiografischer Skizze klingt das so: „1883 war ich mit Schuch in Paris und ich erkannte, daß nicht die Tonigkeit die Hauptsache für die Bilder sei, sondern das Licht, das ewig wechselt.“

Das störte den Malerfreund gewaltig, und er warf Hagemeister aus seinem Pariser Atelier. Hagemeister kehrte nach diesem Bruch für immer zurück in die Heimat, malte und experimentierte und wurde bekannt. Vor allem Privatsammler liebten seine stimmungsvollen, pointiert mit Licht durchfluteten Landschaftsausschnitte und kauften sie gern. So gern, dass er während der Weltwirtschaftskrise mehr als eine halbe Million Reichsmark verlieren konnte. Mit steigendem Alter wuchs auch die Bekanntheit unter den Künstlerkollegen. 1898 gründete Hagemeister die Berliner Secession mit, hatte einige erfolgreiche Ausstellungen und wurde 1923 Mitglied der Berliner Akademie der Künste. Siegwart Sprotte wurde 1929 sein Meister­schüler, zuvor schon lernte Prinz Friedrich Leopold von Preußen eine Zeit lang bei ihm. Doch weder steigende Bekanntheit noch Erfolg lockten Karl Hagemeister weg aus der ländlichen Heimat rund um Werder.

Das verwirrte vor allem die Berliner Kunstkritiker. Denn für sie musste ein bedeutender, wichtiger ­Künstler in Berlin leben. In ihrer Vorstellung nahm er dort mindestens so intensiv wie Lovis Corinth am gesellschaftlichen Leben teil, hatte eine Villa wie Max Liebermann oder malte Berliner Seen wie Walter Leistikow. Nicht so Karl Hagemeister. In den Beschreibungen seines einfachen Hauses und seiner bäuerlichen Kleidung klingt es, als würden die Herren aus Berlin einen exotischen Art brut-Künstler besuchen. Ihr schönes, sauberes Bild vom Künstlerdasein wurde durch ihn gründlich erschüttert.  Anja Möller zitiert in ihrem sehr informativen Hagemeister-Büchlein („Karl Hagemeister – von Werder bis Lohme“) Max Osborn, den Kritiker der Vossischen Zeitung, mit einer exemplarisch-staunenden Beschreibung von Hagemeisters Wohnung: „Ein Malerhaus in Werder – darunter stellt man sich vielleicht etwas Villenähnliches vor, sicher mit einem Garten. […] Ein Wohnraum und ein Schlafraum, mit Urväterhausrat vollgestopft und noch eine Kammer und eine ­Küche, und ein Höfchen mit einem Karnickel- und Ziegenstall – das ist die Villa.“

Ein Heimatkünstler war Karl Hagemeister deshalb nicht, sondern einer der Wegbereiter der modernen Landschaftsmalerei in Deutschland. Jedenfalls sagen das die, die ihn kennen. Philipp Demandt, Leiter der Alten Nationalgalerie in Berlin, die heute allein 17 Gemälde – von ursprünglich 20 – besitzt, erklärt die Bedeutung des Künstlers so: „Hagemeister hat, ähnlich wie Walter Leistikow, eine Kunst hervorgebracht, die ihre Kraft aus der Natur einer spezifischen Umgebung schöpft, in seinem Fall die Landschaft um das brandenburgische Werder. Kein Wunder, dass Hagemeister besonders in dieser Region nahezu wortlos verstanden – und geliebt – wird. Er hat mit seinen Bildern eine Welt, Stimmungen, Farben eingefangen, welche das hiesige Publikum immer wieder tief berührt.“

Es sind viele, die berührt werden, aber doch nicht so viele, dass Karl Hagemeister zu den weithin bekannten deutschen Malern gehört. Er ist noch immer ein Geheimtipp, obwohl die Zahl der Fälschungen deutlich zugenommen hat – was immer ein Indiz für steigende Beliebtheit und größeren Marktwert ist, wie Kunsthistorikerin Henrikje Warmt sagt. Sie stellte in den vergangenen acht Jahren das Werkverzeichnis der Hagemeister-Gemälde zusammen. Es wurde eine so langwierige Arbeit, weil Hagemeister seine Werke weder nummerierte noch inventarisierte. Gefunden und aufgelistet hat Warmt nun 573 Gemälde, die meisten befinden sich in Privatbesitz. Bei 20 Prozent ist der Verbleib unbekannt. Die Papierarbeiten harren noch immer einer Katalogisierung. In diesem Jahr wird das Werkverzeichnis erscheinen, und damit schließt sich eine Lücke in der deutschen Kunstgeschichte.

Denn auch wenn längst bekannt ist, dass es einen speziellen deutschen Impressionismus gab, gelten doch meist nur Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt als Maler dieser Richtung. Spätestens aber seit 2009, als die Kunsthalle Bielefeld eine große Ausstellung zum „Deutschen Impressionismus“ zeigte, hat sich das Wissen um diese speziell deutsche, vielfältige und regional sehr unterschiedliche Ausprägung des Impressionismus mit ihren zahlreichen Vertretern deutlich vergrößert. Dass Karl Hagemeister zu ihnen gehört, stand auch für die Bielefelder Ausstellungsmacher außer Frage. Wie eigenständig und experimentell seine Kunst ist, lässt sich vor allem im Berliner Bröhan-Museum bestaunen, das die größte Sammlung seiner Werke und auch Teile seines Nachlasses besitzt. Dort ist von den frühen Dorfansichten über die kleinteiligen Landschaftsausschnitte bis hin zu den großflächig und kraftvoll nebeneinander gesetzten Farbclustern der Spätzeit alles zu sehen. Insgesamt besitzt das Museum 61 Gemälde, 19 Pastelle und 46 Zeichnungen. Eine  Überblicksausstellung ist gerade zu Ende gegangen, doch die Dauerausstellung zeigt immer eine Auswahl seiner Arbeiten. Ingeborg Becker, ehemalige Direktorin des Bröhan-Museums, bewundert Hagemeister vor allem für seine „Konsequenz und Radikalität. Er ist ein ganz großartiger Landschafter, der seine Region bildwürdig gemacht hat“, sagt Becker.

Versucht man, Hagemeisters Motive in dieser Region wiederzufinden, so kommt man zwangsläufig auch nach Ferch, an das Hagemeister sich so erinnerte: „Das Dorf war damals weltabgeschieden, unbekannt und wegen der Armut seiner Bewohner in verwahrlostem Zustand. Die Häuser mit Rohr gedeckt, vielfach zerfallen und wegen des hügeligen Terrains viel zusammengepfercht.“ Die Armut und der Zerfall störten ihn jedoch überhaupt nicht, denn ihn interessierte die Landschaft drumherum.

Das Ferch von heute ist ein Ort der nagelneuen Einfamilienhäuser, der Freizeit­segler und Wochenendausflügler. Mit der Stille und Abgeschiedenheit zur Zeit Hagemeisters ist das rege Treiben am Schwielowsee nicht mehr zu vergleichen. Die stillen Winkel am See, die Wälder, das Erglühen einer Baumgruppe im tief stehenden Sonnenlicht gibt es noch immer – wenn man ein bisschen danach sucht. Und Hagemeister ist auch noch da: Im „Museum der Havelländischen Malerkolonie“ hat seine Biografie ihren Platz neben der von Carl Schuch. Ein Hagemeister-Original besitzt das kleine, feine Museum auch – eine Pastellzeichnung mit Schwielowsee und Geltower Kirche. Von Mai bis September 2013 wird es nun eine Hagemeister-Ausstellung zum Früh- und Spätwerk geben. Dann werden in Ferch etwa 25 sonst nie ausgestellte Werke aus Privatbesitz zu sehen sein. Ludwig Justi, Direktor der Berliner Nationalgalerie und Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin und einer der frühen Bewunderer Karl Hagemeisters, schwärmte von den Entdeckungen, die er im Keller des Werderschen Häuschens gemacht hatte. Dort bewahrte der Künstler seine Bilder auf. 1923 zeigte Justi Hagemeisters Wellenbilder und beschreibt die Ausstellung selbst so: „Zu Hagemeisters 75. Geburtstag, 1923, hatte ich den größten Saal der Nationalgalerie ausgeräumt und die langen Wände mit einer durchlaufenden Reihe solcher Wellenbilder behängt, die ich aus Hagemeisters Vorrat geholt hatte; es ergab sich eine Wirkung sondergleichen.“ Auch Hagemeister war überrascht beim grandiosen Anblick der eigenen Bilder, die er nie als Serie nebeneinander gesehen hatte.

Karl Hagemeister, Mohn, um 1905, 70 × 105 cm; Alte Nationalgalerie, Berlin
Karl Hagemeister, Mohn, um 1905, 70 × 105 cm; Alte Nationalgalerie, Berlin

Hagemeister war kein Mann der großen Worte, doch was er über Malerei wusste, ist angewandte Kunsttheorie und Sehanleitung zugleich. „Die Landschaft ist still, anmutig und eigentlich nur durch die Stimmung, die ich immer mehr in letzter Zeit liebte. Die Stimmung ist die Trägerin des seelischen Elements der Landschaft, und da ich seelische Erlebnisse ausdrücken musste, musste ich die Stimmungen besonders studieren. […] Wenn ich mich seelisch ausdrücken wollte, zerlegte ich den Stimmungston in zwei Töne, den Licht- und den Schattenton. Diese strich ich über die ganze Leinwand und entwickelte nun aus diesem großen Stimmungston alle anderen Dinge in ihren besonderen Tönen. Auf diese Weise wurde das Kolorit meiner Bilder organisch und nicht bloß geschmackvoll zusammengestimmt.“ Über das Sehen und seine Kunst hat er viel geschrieben, über sich selbst nur sehr wenig. Deshalb weiß man über den Menschen Karl Hagemeister nicht allzu viel. Verheiratet war er nie, über Freundschaften – außer zu Carl Schuch, dessen Leben und Werk er in einem viel beachteten Buch ein Denkmal setzte – ist wenig bekannt. Manchmal tauschte er Bilder gegen Lebensmittel. Das klingt nach der üblichen Legende, die über arme Künstler gern erzählt wird und meistens gar nicht stimmt. Werkverzeichnis-Autorin Henrikje Warmt traf während ihrer Recherchen immerhin einen ehemaligen Bäcker, mit dem der Künstler Bilder gegen Brot tauschte. Karl Hagemeister war und ist kein verkanntes Genie, auch wenn er (noch) nicht zu den ganz Großen gezählt wird. Fest aber steht schon jetzt, was Hage­meister über seine Kunst schrieb: „Wenn ich nun mein Lebenswerk betrachte, bin ich still zufrieden. Denn ich habe keine Akademie besucht, kein Vorbild gehabt, keine Richtung verfolgt, sondern mich nur durch die Naturstudien weiterentwickelt. So ist meine Kunst nur Natur und Hagemeister wird die Zeiten überdauern.“