Viel Vinyl

Wer  im  Bremer  Weserburg-Museum den Fahrstuhl benutzt, bekommt es schon zu hören, das „Ja Ja Ja Nee Nee Nee“ von Joseph Beuys, den Mitschnitt eines Fluxus-Konzerts, das dieser mit zwei Mitstreitern 1970 in der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf veranstaltet hat. In einer Auflage von 500 Exemplaren erschien diese Beuys-Aktion auf Vinyl, und eines dieser Exemplare ist Bestandteil der „Sound Collection Guy Schraenen“. Zu Beginn dieses Jahres wurde die umfangreiche Sammlung mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Karin und Uwe Hollweg Stiftung angekauft und dem „Zentrum für Künstlerpubli­kationen“ in der Weserburg (Museum für moderne Kunst) übergeben.

Joseph Beuys: Ja Ja Ja Nee Nee Nee, Gabriele Mazzotta Editore, Milano, 1970; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Robert Ashley: Private Parts. The Park The Backyard, Lovely Music Ltd., New York, 1977; © Robert Ashley / Foto: Bettina Brach / Zentrum für Künstlerpublikationen, Bremen
Joseph Beuys: Ja Ja Ja Nee Nee Nee, Gabriele Mazzotta Editore, Milano, 1970; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Robert Ashley: Private Parts. The Park The Backyard, Lovely Music Ltd., New York, 1977; © Robert Ashley / Foto: Bettina Brach / Zentrum für Künstlerpublikationen, Bremen

Allerdings war die Sound Collection schon seit Jahren vor Ort – als Dauerleihgabe des Privatsammlers Guy Schraenen, der die 1974 begonnene Sammlung bereits 2003 an das von ihm gegründete Zentrum für Künstlerpublikationen der Weserburg gab. Seitdem wurde die Sammlung dort konservatorisch betreut und für die wissenschaftliche Arbeit genutzt, aber erst jetzt ist klar, dass dieser Kunstschatz  der  besonderen  Art  in Bremen bleibt. „Die international bedeutendste und umfangreichste Sammlung zur Sound Art bleibt in Deutschland“, freut sich Anne Thurmann-Jajes, Leiterin des Zentrums für Künstlerpublikationen in der Weserburg.

Der  in  London  geborene  Guy Schraenen war von 1966 bis 1978 Galerist in Antwerpen und gründete dort 1974 das „Archive for Small Press & Communication“. Später arbeitete er als Radioproduzent, Filmemacher, Verleger und freiberuflicher Kurator in Belgien und Spanien, bevor er 1989 das Zen­trum für Künstlerpublikationen am Bremer Weserburg-Museum gründete.

Das Hauptinteresse Guy Schraenens als Sammler von Klangkunst galt der Verbindung von visuellen mit akustischen Werken im Bereich der bildenden Kunst, wobei der Schwerpunkt auf Vinylschallplatten und ihren Covers liegt: Es geht in erster Linie um Langspielplatten und ihre Hüllen, aber es gibt auch Künstlerkassetten, Graphiken, Zeichnungen, Plakate und Objekte sowie eine umfangreiche Spezialbibliothek mit Büchern und Partituren, die ebenfalls für Forschungszwecke zur Verfügung steht. Dabei berücksichtigt Guy Schraenens Sound Collection mit mehr als 1.000 Objekten alle künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts vom Futurismus und Dadaismus über die klassische Moderne bis zum Minimalismus, der Konzeptkunst und Klangpoesie, bis hin zu Fluxus, Pop Art und Neuer Musik.

„Vinyl / Records and Covers by Artists“ hieß eine von Guy Schraenen für das Weserburg-Museum (damals „Neues Museum Weserburg Bremen“) 2005 kuratierte, vielbeachtete Ausstellung, die einen Teil der Sammlung zeigte – immerhin mehr als ein Drittel des Bestands. Diese Ausstellung war anschließend  in  Barcelona,  Porto, ­Paris und Moskau zu sehen  –  und zu ­HÖREN. Schließlich geht es um Sound Art, und so gab es in allen Ausstellungen auch die Möglichkeit, das zu hören, was in den künstlerisch gestalteten Hüllen auf Tonträgern festgehalten ist. Von der Möglichkeit des Hörens wird intensiv Gebrauch gemacht, weiß Kuratorin Bettina Brach zu berichten, die sich jetzt weiterhin um die Erschließung, Digitalisierung und Präsentation von Werken der Sound Collection kümmert. Ermöglicht durch die Karin und Uwe Hollweg Stiftung, wird seit dem Festakt anlässlich des Ankaufs am 6. April 2018 jeden Tag ein Stück aus der Sammlung online gestellt und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Sound-Arbeiten werden dafür inhaltlich aufgear­beitet, so dass neben Abbildung und Hörbeispiel auch spezifische Informationen über das Werk und dessen Urheber im Netz zu finden sind.

Schon jetzt ist der Umfang der online präsentierten Werke beachtlich und eignet sich ganz vortrefflich zum Stöbern. Durch die Erfindung des Tonbands und der Kassette wurde es bildenden Künstlern möglich, frei von den traditionellen Regeln der Musikwelt Klang und Stimmklang aufzuzeichnen und auf Vinylplatten zu vervielfältigen. Jean Dubuffets Cover seiner 1961 erschienenen LP „Musical Expériences“ ist ein frühes Beispiel für diese Entwicklung. Roman Opalka spricht 1965 seine Zahlenreihen auf einer LP ein und gestaltet selbst die Hülle dazu. Aus dem Jahr 1966 kommt eine LP mit der verblüffenden Lecture „How to Make a Happening“ des amerikanischen Künstlers Allan Kaprow, für die Sol Goldberg das Coverfoto gemacht hat. Auch Salvador Dalí hat sich auf Vinyl verewigt, und zwar mit der „Ouverture Et Première Entrée“ aus seinem Opus „Etre Dieu“, für das er (in Zusammenarbeit mit Federico Garcia Lorca) das Libretto schrieb und selbst als einer der Performer auftrat. Das Cover dieser drei Vinylscheiben in einer Box (1974) wurde von Dalí persönlich gestaltet.

Einige der von Schraenen gesammelten Langspielplatten finden sich bestimmt in so manch privatem Plattenschrank, beispielsweise das weiße Album der Beatles oder die berühmte Banane, die Andy Warhol 1971 für das Cover von „The Velvet Underground & Nico“ entwarf (auch Warhols Entwürfe zu den LPs von Aretha Franklin und John Lennon sind in Bremen), die Debut-LP „Kollaps“ der Einstürzenden Neubauten aus dem Jahr 1981 oder die Scheiben von Kraftwerk sowie Laurie Andersons „Big Science“ oder Peter Brötzmanns „Machine Gun“, ein Freejazz-Tondokument, das 1968 im Bremer Club „Lila Eule“ festgehalten wurde.

Es gibt allerdings auch etliche Sammlungsstücke, die einen hohen Seltenheitswert besitzen, was sich besonders deutlich an den gesammelten Stimmaufnahmen zeigt: „Otto Dix spricht über Kunst Religion Krieg“, und Antonin Artaud ist mit „Pour en finir avec le Jugement de Dieu“ in einer Aufnahme aus dem Jahr 1946 zu hören, die erst vierzig Jahre später auf Vinyl veröffentlicht wurde – mit einem Foto von Man Ray auf dem Cover. Kurt Schwitters ist zugegen mit dem ersten Teil seiner Ursonate, „John Cage speaks Mureau“ auf einer Kassette aus dem Jahr 1972, und Henri Chopin ist mit seiner „Poésie sonore“ und den „Audiopoems 1969“ vertreten, William S. Burroughs mit der LP „Call Me Burroughs“ sowie Allen Ginsberg mit „Howl and other poems“ und John Giorno mit „Raspberry – Pornographic Poem“. Ernst Jandl rezitiert „Laut und Luise“ sowie „Hosi + anna“, Raoul Hausmann seine „Poèmes Phonétiques Complètes“. Meret Oppenheim findet sich mit „Man könnte sagen etwas stimme nicht“ (Gedichte 1933 –1969) auf einer Kassette von 1972. Carlfriedrich Claus wird hörbar mit seiner „Bewusstseinstätigkeit im Schlaf“ aus dem Jahr 1981, zu finden auf der LP „Lautpoesie“, auf der die Stimmen von ins­gesamt elf Künstlern zu erleben sind, darunter Oskar Pastior, Josef Anton Riedl und Gerhard Rühm. Und Georg Baselitz hält mit Richard Stokes einen Vortrag mit dem Titel „Das Rüstzeug der Maler“, festgehalten auf Vinyl 1987.

Nicht nur das Tonband, die Kassette und  Vinylschallplatten  inspirierten Künstlerinnen und Künstler aller Sparten zu neuen Kunstformen, sondern auch das Telefon! Und auch das wird in Guy Schraenens Sound Collection dokumentiert: 1969 kuratierte David H. Katzive für das Museum of Contemporary Art in Chicago eine Ausstellung mit dem Titel „Art by Telephone“, die John Cage und Marcel Duchamp gewidmet war. Er bat 37 Künstler um Telefonkunstwerke, die auf Vinyl hörbar gemacht wurden und so den auf Papier gedruckten Ausstellungskatalog ersetzen sollten. Unter den Künstlern waren so renommierte Namen wie George Brecht, John Giorno, Richard Hamilton, Dick Higgins, Sol LeWitt, Claes Oldenburg, Richard Serra, Guenther Uecker und Wolf Vostell, was allerdings die Leitung des Museums nach der Ausstellung nicht davon abhielt, die restlichen klingenden Ausstellungskataloge zu vernichten oder zu entsorgen. In Bremens Weserburg-Museum gibt es nun eines der raren Exemplare – und noch ein weiteres Beispiel, das sich der Telefonkunst widmet: die CD „Pièces pour standards et répondeurs téléphoniques“ mit Beiträgen von u. a. Paul Lovens, Christian Marclay, Le Quan Ninh, Heiner Goebbels, Nicolas Collins und Jerome Noetinger. Das Cover ist gestaltet von Christian Marclay.

John Cage speaks Mureau (Audio-Kassette), Edition S Press, Hattingen, 1972; © John Cage
John Cage speaks Mureau (Audio-Kassette), Edition S Press, Hattingen, 1972; © John Cage

Nicht nur die Vielzahl der gesammelten Objekte, sondern auch ihre Unterschiedlichkeit weckt diverse Ideen für verschiedenste Ausstellungsthemen, die in der Zukunft in Bremen realisiert werden können. Und bis dahin besteht ja schon jetzt die Möglichkeit, sich online an der so bunten wie schrillen Sound Collection Guy Schraenen zu erfreuen. Unter radioasart.net/Sound-Collection öffnet sich für jeden und jede die Tür zu einem erstaunlichen Fundus, der täglich um ein klingendes Sammlungsstück erweitert wird.

Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, Karin und Uwe Hollweg Stiftung