Ausstellung ⁄ Nordrhein-Westfalen

Verzaubernde Verwandlungen

Eine Pandora für unsere Zeit: Das individualmythologische Werk der Kölner Surrealistin URSULA wird mit einer überragenden Retrospektive im Kölner Museum Ludwig wiederentdeckt

So viel Wirbel um die Retrospektive einer zu Lebzeiten zwar erfolgreichen, aber inzwischen kaum mehr präsenten Künstlerin, das gab es im Kunstbetrieb lange nicht mehr. So wies gar die „New York Times“ noch vor Eröffnung der Ausstellung im Kölner Museum Ludwig ausführlich auf deren Bedeutung hin. Enorm ist auch das deutsche Medienecho. Und all das zu Recht. Eine überwältigende Ausstellung ist es, die gegenwärtig am Rhein unter dem Titel „Ursula – Das bin ich. Na und?“ zu bestaunen ist.

Dabei handelt es sich nicht nur um eine mit 230 Werken äußerst umfassende, die maximale Ausstellungsfläche bespielende Inszenierung der surrealen Traumbilder und halluzinativen Installationen Ursula Schultze-Bluhms, sondern um ein mit der vollen Wucht und Autorität der Kölner Institution bewusst gesetztes Statement. Hier wird ein Name im Kunstbetrieb (re-)installiert. Wer in Zukunft an Max Ernst oder Meret Oppenheim denkt, wird auch an URSULA – so die Eigenbezeichnung der Künstlerin – denken müssen. Die Wahlverwandtschaft mit Max Ernst kommt besonders klar in einer direkten Hommage zum Ausdruck, aber auch in einem Bild wie „Vogel Phönix“ (1989), auf dem sich das Ungeheuer aus Max Ernsts „Triumph des Surrealismus“ (1937) davonzustehlen scheint. Das Gemälde „Schneebaum, Eiskristalle und Vogel“ (1954) wiederum spiegelt Ernsts Interesse am mikroskopischen Blick.

Doch die Bezüge in Ursulas aufregendem Œuvre reichen viel weiter, bis zu Giuseppe Arcimboldo und zu mittelalterlichen Bildtopoi. Dass so gut wie alle der in Köln ausgestellten Bilder, sofern sie Museumsbeständen entstammen, seit Jahren ein trauriges Dasein in Depots fristeten, ist mehr als verwunderlich. Das Museum Ludwig war geradezu in der Pflicht zu einer solchen Wiederentdeckung von Ursula Schultze-Bluhm, schließlich liegt hier ein großer Teil des Nachlasses. Kulturpolitisch reiht sich die Ausstellung ein in das überfällige Bemühen, der anderen, der weiblichen Moderne in der Kunst, die bei der Kanonisierung oft nur spärlich Berücksichtigung fand, endlich die gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Der Direktor des Ludwig-Museums, Yilmaz Dziewior, wirkt beim Rundgang regelrecht aufgekratzt. „Eine kleine Sensation“ sei da geglückt. Die Arbeiten Ursulas, die man mitunter für Positionen junger Gegenwartskünstlerinnen halten könne, seien auf vielen Ebenen aktuell. Und es gebe so viel zu entdecken, etwa stilistisch-strukturelle Parallelen zum weltberühmten Werk von Yayoi Kusama. Kuratiert wurde die Kölner Ausstellung von Stephan Diederich und Helena Kuhlmann; zu den Förderern gehört neben dem Landschaftsverband Rheinland, der Karin und Uwe Hollweg Stiftung, den Freunden des Wallraff-Richartz-Museum und Museum Ludwig e.V. und der Peter und Irene Ludwig Stiftung auch die Kulturstiftung der Länder.

 

 

Dem Erlebnis der faszinierend vielgestaltigen Bildwelt Ursulas mit ihren organisch überbordenden Strukturen, rauschhaften Farben und allgegenwärtigen Metamorphosen kommt vielleicht nur die Verzauberung gleich, die einen beim Eintauchen in ein Korallenriff erfasst. Die Kölner Ausstellung versetzt die Besucherinnen und Besucher in einen ähnlichen Schwebezustand, zumal es beim Eintauchen ins Ursula-Riff sogar einige Stufen hinabzusteigen gibt. Sogleich nehmen einen die Arbeiten aus den fünfziger Jahren, der künstlerischen Findungsphase, gefangen. Die Bilder zeigen surreale Gestalten („Polypen unter sich“, 1959), biegsame Dämonen, Gespenster in Netzstrukturen, in Verwandlung begriffene Frauen („La belle et la bête“, 1955), aber auch durchaus traditionelle Figuren. Hier und da ist das noch flächig gemalt, weist aber oft auch schon die für Ursula typischen feinen Punktmuster, verzahnten Strichelstrukturen und rhizomatisch wuchernden Tentakel auf.

Auch thematisch sind in der Frühphase bereits die meisten späteren Motive vorgeprägt: das ambivalent Märchenhafte, die Beziehungsgeflechte, das Augenmotiv (Grenze von Innen- und Außenwelt) oder das Spiel mit dem Mythos, hier mittelalterlich gewendet („Mädchen und Einhorn“, 1957). Aufgrund der Konstanz der Motive in Ursulas Gesamtwerk sei die Ausstellung im Weiteren nicht chronologisch aufgebaut, erklärt Stephan Diederich. Sie folgt eher intuitiven Kapiteln wie „Nacht-Mahre“, „Mit Augenfühlern“ oder „Vögel im Paradiesgarten“. Die oft über den Bildrand hinauswachsenden Motive verweben die Gemälde, wie in der Zusammenschau sehr schön sichtbar wird, zu einer einzigen großen Textur. Es geht also weniger um das abgeschlossene Sujet als um das Entstehen einer ganzen Gegenwelt der individuellen Phantasie, einer Seelenlandschaft.

Geboren 1921 in der Mark Brandenburg, in Mittenwalde, lebte Ursula Bluhm als junge Frau in Berlin-Lichtenrade; diesen Erinnerungen verdankt sich ihre Fabelfigur des „Lirad“. In der NS-Zeit wurde Ursula zu Bürotätigkeiten dienstverpflichtet. Über die Schrecken der Kriegszeit hat sie nur in Andeutungen gesprochen, aber ausgedrückt hat sie diese Erfahrungen gleichwohl: Hinter den farbenfrohen Motiven ihrer Bilder lauert mitunter Gewaltsames. Nach Kriegsende war sie eine Weile für die Kulturabteilung des Amerika-Hauses tätig. Um 1950 herum begann Ursula, die keine formale Kunstausbildung besaß, selbst zu zeichnen und zu malen.

An Selbstbewusstsein mangelte es ihr nie. Es wuchs mit der Zeit noch, wie die späten Arbeiten zeigen, eine sehr starke „Eva“ (1982) neben einem primitiven „Adam“ (1982) etwa oder das hinreißende, titelgebende Selbstporträt „Das bin ich. Na und?“ (1995). Bereits Mitte der fünfziger Jahre nahm Jean Dubuffet, den die Künstlerin in Paris kennengelernt hatte, einige ihrer Werke in sein auf autodidaktische Werke jenseits der Tradition ausgerichtetes Art-Brut-Museum auf. In diese Zeit fiel auch Ursulas Heirat mit dem Künstler Bernard Schultze (1915 – 2005), einem führenden Vertreter der gestisch-abstrakten Kunst. Bis zu ihrem Tod am 9. April 1999 teilten die beiden sich ein Atelier und schärften ihre Stile aneinander. Seit 1968 lebten sie in Köln.

In der Kölner Kunstszene des späten zwanzigsten Jahrhunderts war Ursula eine feste Größe. Sie hat der Stadt 1972 eine der schönsten Stadtansichten vermacht, ein regelrechtes Tafelbild (Öl und Blattgold auf Holz), das Köln ganz vom Rhein her entwirft. Und doch geriet Ursula – ein Künstlerinnenschicksal – posthum sehr schnell in Vergessenheit, ganz anders als ihr Mann, und das wohl nicht nur wegen der formalen Ausbildung, die ihn enger mit dem Betrieb verband. Schon zu Lebzeiten gab es da schließlich eine Asymmetrie der Rezeption. Noch im Katalog zur letzten großen Ursula-Retrospektive, die 1992/1993 in Wuppertal, Köln und Bremen stattfand, nähern sich gleich mehrere Beiträge dieser so eigensinnigen Künstlerin über Gemälde und Bemerkungen Bernard Schultzes an.

Erst mit der großen Werkbiographie von Evelyn Weiss (2007) änderte sich diese Perspektive allmählich. In der Kölner Ausstellung nun kommt dem Gatten allenfalls eine Rolle am Rand zu. Die Werke Ursulas stehen hier ganz für sich. Das liegt auch an einem Wandel des Kunstbegriffs: Zugänglichkeit gilt nicht mehr per se als suspekt. Das nämlich ist das Wundersame an diesen Bildern, dass sie nicht nur die Kunstkritik zu oft poetisch eingefärbten Analysen animieren (der schöne Katalog zur Ausstellung gibt davon Zeugnis), sondern zugleich und im Unterschied zu den oft schwer deutbaren Informel-Gemälden Bernards ohne alle Scheu die Hand zum Publikum ausstrecken. Mit Bildwitz und Übermut treibt Ursula die Abstraktion so weit, bis wieder Konkretes, Figürliches daraus erwächst, das auf einer kollektiv inneren Bühne direkt zu den Betrachtern zu sprechen scheint.

Und doch befinden wir uns stets ganz in Ursulas Gedankenwelt: „Das bin ich“ trifft tatsächlich auf diesen gesamten Kosmos zu. Auch wenn sich einige Schreckensgestalten darin austoben, strahlt das Werk insgesamt einen unwiderstehlichen Optimismus aus, eine höchst lebendige Lebensfreude. Auch die Kunsthistorikerin Chus Martínez hebt in einem Beitrag zur Ausstellung darauf ab, dass Ursula eine „Welt voller Wunder“ zeige, statt nach surrealistischer Tradition mit dem Unheimlichen zu spielen: Hoffnung, Fürsorge und Empathie sprächen aus ihren Bildern.

Lange als „naiv“ qualifiziert, repräsentieren die Werke Ursulas vielmehr eine ureigene Spielart des Surrealismus. Sie atmen Freiheit in jedem Sinne, ganz zentral auch eine Freiheit von den Konventionen, Schulen und Regeln der akademischen Kunst. Offen zeigte sich die Künstlerin ebenso gegenüber den Materialien, ohne diese Offenheit programmatisch zu überhöhen. Sie bemalte Wächterfiguren aus Holz, kreierte einen Mann-Stuhl (1990) wie einen Frau-Stuhl (1990/91), die bei allen Geschlechterklischees doch wie ein Team wirken, nicht wie Gegner. Unermüdlich bemalte und dekorierte sie verlockende Wunderschränke, benannt nach Pandora, jener aus Lehm geformten Frau, die als Inkarnation der Unwägbarkeit der Zukunft zu Ursulas Leitmotiv wurde. Die Schränke erinnern an aufklappbare Puppentheater, bilden Pforten ins Innenreich der Phantasie. Pandoras Büchse ist damit kein Menetekel mehr, sondern eine bewohnbare Wunderkammer vor aller Trennung von Hoffnung und Verzweiflung.

Souverän integrierte die Künstlerin Textilien in ihre Gemälde, besonders gern arbeitete sie – heute fast anstößig – mit Pelzen. Diederich vermutet angesichts der sonst kaum zu bewältigenden Kosten, sie müsse Kürschner-Restbestände aufgekauft haben. Unschuldig sind die Pelzarrangements indes nicht, immer wieder hat Ursula Rasierklingen eingenäht. Eines der zentralen Stücke der Ausstellung ist das „Ursula-Pelz-Haus“ (1970), eine atmosphärische Installation mit ethnographischen Obertönen, die an eine nomadische Behausung ebenso denken lässt wie an ein hierarchisches, möglicherweise koloniales Setting, denn umringt respektive bewacht wird das Haus von einer ganzen Schar bunt bemalter Styroporköpfe mit aufgestecktem Federschmuck. Klar unterscheidbar aber ist auch hier das Indigene nicht vom Exogenen. Beides kommt quasi als Endogenes zusammen, denn das Pelz-Haus ist bis in seine Details eben auch Ausfluss der träumerischen Phantasie der weitgereisten Künstlerin und damit so etwas wie ihre persönliche Metamorphose, ein Alter Ego als schwereloses Haus oder groteskes Tier.

Dass Ursula über Jahrzehnte einen verwobenen Kosmos erschaffen hat, kommt den heute – Stichworte Klimawandel oder One Health – immer deutlicher werdenden Mikrointerdependenzen in der Natur erstaunlich nah. Man kann dieses Œuvre auch als Kommentar zum naturwissenschaftlichen Blick begreifen, so fungiert die Metamorphose auch bei Ursula als Zentralprinzip, aber anders als in der Evolution ohne alle Teleologie. Es ist ein eher kreisförmiges Verwandlungsgeschehen, womit gleich alle Auffassungen von höher oder niedriger entwickelten Kulturen hinfällig werden. Vom „Höhlen-Ballett“ (1967) über „Bei den Phäakern“ (1974) bis zu „Vögel im Paradiesgarten“ (1987) scheint man einer fröhlich mutierenden Natur zuzusehen, die nicht nur die sogenannte Zivilisation, sondern gleich auch alles Phylogenetische hinter sich gelassen hat. Jede Art ist bloß ein Übergang. Alles fließt ineinander, Abgrenzungen lösen sich auf. Das öffnet das Werk Ursulas für zeitgenössische Diskurse.

Helena Kuhlmann betont beim Rundgang durch die Ausstellung, wie anschlussfähig eine solch fluide, entgrenzte Möglichkeitswelt heute ist. Schließlich würden inzwischen viele traditionelle Dualismen hinterfragt. Bei Ursula spielt hingegen die Binarität der Geschlechter oder die Frage, wo Leben beginnt und endet, keine Rolle. Man müsse sich aber immer bewusst machen, dass es sich hier um herangetragene Perspektiven handele: „Wir möchten Ursula nicht als Aktivistin darstellen, die vorausschauend heutige Debatten vorweggenommen hat“.

Tatsächlich sucht man eindeutige gesellschaftskritische Aussagen in dieser Ausstellung vergeblich, ein wohltuender Unterschied zu großen Teilen der Gegenwartskunst. Eine Ausnahme gibt es, sie betrifft das Frauen einengende Rollenbild, das Ursula am eigenen Leib erfahren hat. Den männlichen Blick lässt sie in mehreren Bildern auflaufen. Die nackte Europa auf dem Stier (1987) erinnert sogar mehr an eine sexuelle Misshandlung denn an das willige Sich-Ergeben in die Verführung. Und doch scheint selbst hier Hoffnung zu bestehen: auf eine Metamorphose auch der Geschlechter. Ursulas Œuvre, das zeigt diese furiose Ausstellung, steht für den Triumph der Phantasie und des Eigensinns (sogar über den Surrealismus).

Und es lehrt uns viel über das Sehen. Das geschieht auf dezidierte Weise, wenn das Augenspiel in vielen selbstbezüglichen Arbeiten thematisiert wird, beispielsweise in den promenierenden roten Spiegeln von 1962, auf den „Stufen zum Innern des Kopfes“ (1992) oder in der unübertrefflich allegorischen Szene „ein mensch sitzt am tisch und isst sein auge“ (1966/69). Es geschieht aber noch subtiler durch die Ab- und Umlenkung der Betrachterblicke, die auf diesen Bildern, die erst nach und nach preisgeben, was da eigentlich zu sehen ist, ins Kreisen, Trudeln und Suchen geraten. Idealtypisch geschieht das etwa in den „Erinnerungen eines Schmetterlings“ (1962), die selbst wieder verpuppt und schmetterlingshaft sind. Ein ganzes Universum steckt allein in diesem Bild. Und kaum glaubt man, eine fragile, poetische, mit Facettenaugen gesehene Wahrheit erkannt zu haben, hat sie sich schon wieder verwandelt.

Oliver Jungen ist freier Journalist in Köln und schreibt u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Ursula – Das bin ich. Na und?
Museum Ludwig, Köln
bis 23.7.2023
www.museum-ludwig.de

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