Ausstellung ⁄ Nordrhein-Westfalen

Die Befreiung der Form

Barbara Hepworth – Meisterin der Abstraktion im Spiegel der Moderne von Jenny Berg

Barbara Hepworth war verärgert. Wie konnte William Gibson nur annehmen, dass ihr die Ideen ausgingen? Dass ihr die Inspiration fehlte?
Der schottische Kunsthistoriker, dessen Ausstellungskritik am 20. Mai 1943 im „The Listener“ erschien, hätte es doch besser wissen müssen. Sie hätte ihm sagen können, warum sie zur Zeit weniger Skulpturen schuf als sonst: wegen des Krieges, der derzeit über weiten Teilen der Welt wütete. Es war schwer, an Material heranzukommen. Wie Eleanor Clayton in der 2021 erschienenen Biografie über Hepworth schildert, machte es die private gesundheitliche und finanzielle Situation nicht gerade leichter.

Doch vor allem sah sich Hepworth in tradierte Geschlechterrollen zurückgeworfen, die sie in ihrer Freiheit als selbstbestimmte Künstlerin einschränkten: Während ihr Ehemann, der Künstler Ben Nicholson, auf Reisen war, übernahm sie an ihrem Lebensort in St. Ives die Verantwortung für die vier Kinder, war für den Haushalt zuständig, kochte und wusch die Wäsche. Dennoch ging sie täglich in ihr Atelier und arbeitete – und wenn es nur 30 Minuten waren, die ihr am Ende des Tages, nach Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, blieben. Immer wieder betont sie gegenüber ihrem Mann und ihren Freunden in Briefen aus dieser Zeit, wie wichtig ihr die kontinuierliche Arbeit an ihren Werken ist und vor welche Herausforderungen sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hierbei stellt.

Getrieben von einer Hingabe, einer Leidenschaft, von ihrer inneren Vision und einer nie enden wollenden Inspiration hatte die Bildhauerin ihre Karriere ebenso fest im Blick wie die finanzielle Existenz ihrer Familie und ließ sich selbst in schwierigen Zeiten nicht von ihrem unbändigen Arbeitsethos abbringen. Diese Disziplin hatte sie als Künstlerin schon früh verinnerlicht und sollte sie bis zum Ende ihres Lebens erfolgreich beibehalten.

Unter dem Titel „Die Befreiung der Form. Barbara Hepworth – Meisterin der Abstraktion im Spiegel der Moderne“ widmet das Lehmbruck Museum in Duisburg dem Leben und Werk dieser eindrucksvollen Künstlerin jetzt eine umfassende Ausstellung. Als eines von nur wenigen Museen weltweit liegt der Schwerpunkt des Lehmbruck Museums auf dem Sammeln und Ausstellen von internationaler Plastik und Skulptur und zeigt seit mehreren Jahrzehnten, welche besondere Qualität dieser Gattung zu Grunde liegt. Einen ­Fokus legt das Haus auf britische Künstlerinnen und Künstler der Moderne und Gegenwart, die der Kunst der Skulptur neue, entscheidende Impulse verliehen haben. Mit den zeichnerischen, plastischen und theoriebildenden Arbeiten Barbara Hepworths im Mittelpunkt möchte die u. a.von der Kulturstiftung der Länder geförderte Ausstellung das Schaffen der Künstlerin vor dem Hintergrund neuer Perspektiven vermitteln und die Verbindungen zu ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen und ihren Einfluss bis in die Gegenwart hinein nachzeichnen.

Am 10. Januar 1903 als Jocelyn Barbara Hepworth in Wakefield, West Yorkshire geboren, schrieb sich die junge Künstlerin 1920 in die Leeds School of Arts ein, bevor sie ein Jahr später an das Royal College of Art in London für ein Studium der Bildhauerei wechselte. Nach ihrem Studium unternahm Hepworth Reisen nach Paris, Florenz, Siena und Rom – teilweise auch längere Aufenthalte –, die sie nachhaltig prägten. Sie traf Künstler wie Constantin Brâncuşi, Pablo Picasso und Giovanni Ardini, sie studierte die Architektur der Romanik und der Renaissance vor Ort und lernte die Kunst der Marmorverarbeitung in Carrara kennen. In Florenz heiratete sie 1925 ihren ehemaligen Kommilitonen, den Künstler und Bildhauer John Skeaping. Nach ihrer Rückkehr 1926 versuchten die beiden, sich in London als Künstler einen Namen zu machen und arbeiteten jeweils an ihren Karrieren.

Mit den 1930er-Jahren löste sich Barbara Hepworth endgültig von der figurativen Darstellung. Der Übergang zu ihren ersten abstrakten Arbeiten offenbart sich am Beispiel der Skulpturen „Two Heads“ von 1932 und „Large and Small Form“ aus dem Jahr 1934. Die Abstraktion war für Barbara Hepworth der einzig folgerichtige Weg, der inneren, abstrakten Gedankenwelt authentisch und nachhaltig Ausdruck zu verleihen. Diesen Ansatz verbindet die britische Künstlerin mit dem Namensgeber des Duisburger Museums und Wegbereiter der modernen Skulptur Wilhelm Lehmbruck, dem es ebenfalls darum ging, die abstrakte Welt der Gedanken und Vorstellungen in seinen Werken zu visualisieren.

Und so führt mit den  „Liebenden Köpfen“ (1918) von Wilhelm Lehmbruck ein wichtiges Werk der Moderne gleich zu Beginn der Duisburger Ausstellung in das Thema der Abstraktion als Methode der Darstellung einer neuen Wirklichkeit ein. Hepworth hielt ihr Verständnis, ihr Konzept der Abstraktion in zahlreichen, durchaus programmatischen Schriften fest, stand dazu in regelmäßigem Austausch mit ihren Kollegen und Freunden – darunter ihr ehemaliger Kommilitone und ständiger Konkurrent Henry Moore, aber auch Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp sowie Piet Mon­drian oder Jean Hélion – und schloss sich verschiedenen Künstlergruppierungen wie der „Seven and Five Society“ an.

Große internationale Bekanntheit erlangte Hepworth mit ihren „Pierced Forms“, denen sie sich ab den 1930er-Jahren widmete. Während der Titel dieser Arbeiten von der körperlichen Kraft zeugt, mit der sie das Material bearbeitete, schnitzte oder haute, scheinen die durchdrungenen Formen selbst von einer organischen und plastischen Leichtigkeit. Sie erinnern an Steine oder Treibhölzer, die von feinsten Sandkörnern glattgeschliffen und vom Meer an den Strand gespült wurden.

Barbara Hepworth bearbeitete das Material immer direkt und unterschied sich damit von den Bildhauern älterer Generationen, die zunächst Ton- oder Gipsmodelle anfertigten. Sie empfand eine tiefe Verbundenheit mit dem jeweiligen Material, das sie wählte, verwendete und bearbeitete. Sie war davon überzeugt, dass es nicht darum ging, das Material zu beherrschen, sondern es zu verstehen. Zu Beginn ihrer Karriere arbeitete Hepworth vorrangig mit Stein, schon bald verwendete sie Holz, später schuf sie, mitunter im großen Format für den öffentlichen Raum, auch Skulpturen aus Bronze. Teilweise fasste sie die Hohlräume ihrer Skulpturen farbig. In ihren „String Pieces“ verwendete sie – wie bei der Skulptur „Orpheus (Maquette)“ – Baumwollschnüre, die sie über die breite Fläche der abstrakten Form, wie die Saiten eines Instruments, spannte. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass ihre Arbeiten immer auch im Bezug zum Raum zu verstehen sind: Die äußere und die innere Form, die positive und die negative Form ihrer Skulpturen sind untrennbar miteinander verbunden und geben der inneren Welt, der Welt des Geistigen eine neue, eigene Form. Schon zu Lebzeiten wurde Hepworth zu einer der führenden britischen Künstlerinnen ihrer Zeit. Sie stellte ihre Arbeiten in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen aus, 1955 und 1959 war sie sowohl auf der ersten und zweiten documenta in Deutschland vertreten.

In St. Ives, wo Barbara Hepworth nach ihrer Trennung von John Skeaping seit 1939 mit ihrem zweiten Ehemann Ben ­Nicholson und den vier Kindern lebte, hatte sie 1949 schließlich das große Glück, das sogenannte Trewyn Studio mit eigenem Garten beziehen zu können. Hier stellte sie ihre Arbeiten unter freiem Himmel auf und ließ sie in Beziehung zu ihrer Umgebung, ihrer Umwelt und zur Natur treten. Insbesondere ihre späteren, großformatigen Skulpturen schuf sie bevorzugt hier im Garten. Der Ort St. Ives in Cornwall galt nicht ohne Grund schon seit dem 19. Jahrhundert als Anziehungspunkt für Künstlerinnen und Künstler aus London, Paris, Antwerpen und der Bretagne. Für Barbara Hepworth waren die Landschaften von Cornwall und Yorkshire seit ihrer Kindheit prägend und eine wichtige ­Inspirationsquelle für ihre Arbeit.

Barbara Hepworth lebte und arbeitete in St. Ives bis zu ihrem Tod 1975. Bei einem Feuer in ihrem Atelier kam die gerade einmal 72-jährige Künstlerin ums Leben. Unwissend, welches tragische Schicksal sie ereilen würde, hatte Barbara Hepworth – professionell und umsichtig wie sie war – bereits zu Lebzeiten ihren künstlerischen Nachlass im Blick und war darum bemüht, ihre Arbeiten und das Trewyn Studio mit seinem Garten nach ihrem Tod der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Im Dialog mit wesentlichen Protagonisten der Abstraktion wie Henry Moore oder Hans Arp und zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern wie Tacita Dean, Nezaket Ekici oder Claudia Comte zeigt die Ausstellung in Duisburg, welche Rolle Barbara Hepworth als Schlüsselfigur der europäischen Avantgarde und als eine der wichtigsten Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts spielt und welchen Einfluss sie bis heute hat. Ihre Arbeit steht beispielhaft für die neuen Tendenzen der abstrakten Skulptur und für die Befreiung der Form im 20. Jahrhundert.

Jenny Berg ist Kunsthistorikerin und Referentin des Vorstands der Kulturstiftung der Länder.

 

Die Befreiung der Form. Barbara Hepworth – Meisterin der Abstraktion im Spiegel der Moderne
Lehmbruck Museum, Duisburg
bis 20. August 2023
www.lehmbruckmuseum.de

 

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