Tidenhub und Springflut
Das scheinbar simple Phänomen von Ebbe und Flut ist bei genauerem Hinsehen äußerst komplex. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten Mathematiker eine verlässliche Methode zur genauen Vorhersage der Gezeiten. Allerdings erforderte sie einen hohen Rechenaufwand. Auf geniale Weise erkannte jedoch William Thomson, der spätere Lord Kelvin (1824 – 1907), dass sich die arbeitsintensive Berechnung der Gezeitenkurve für jeden Ort auch durch eine analoge Rechenmaschine – also einen mechanischen Computer – durchführen lässt. Den ersten Prototypen eines solchen Computers konstruierte Thomson mit Hilfe seines Bruders 1872.
In Deutschland behielt man an der Deutschen Seewarte zunächst die klassische, manuelle Berechnungsmethode bei, wohl vor allem aus Kostengründen. Einige „junge Mädchen“ rechnen zu lassen, so suggeriert ein Dokument, war preiswerter als eine hochkomplexe und präzise Maschine zu konstruieren.
Das änderte sich schlagartig mit Beginn des Ersten Weltkriegs. Bereits im Oktober 1914 wurde an der Seewarte vermerkt: „Der gegenwärtige Kriegszustand hat erkennen lassen, daß die Nachteile eines internationalen Austausches der Gezeitenvorausberechnungen größer sind, wie man […] glaubte annehmen zu müssen. Auf Grund dieser Erfahrung erscheint es danach richtiger zu sein, sich bei den Vorausberechnungen unabhängig vom Auslande zu machen. […] Die Bewältigung dieser Arbeitslast erfordert ungewöhnlich viel Zeit und ein umfangreiches Personal. Deshalb erscheint es geboten, jetzt der Frage der Aufstellung einer Maschine für die Vorausberechnungen der erforderlichen Gezeiten-Erscheinungen […] näher zu treten.“
Nur ein Jahr später war die gewünschte, ästhetisch bis heute ansprechende Maschine betriebsfähig. Ihr Bau ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass ihre Konstrukteure in Potsdam sich wegen des Kriegs nur an veröffentlichten Berichten über andere Maschinen orientieren konnten.
Leider ist kein einziges Dokument in Bezug auf technische Erwägungen bei der Konstruktion erhalten geblieben – die Maschine selbst jedoch ist vollständig intakt bewahrt und beruht eindeutig auf Kelvins Prinzip. Nachdem sie in den 1930ern mit einem elektrischen Druckwerk erweitert wurde – auch hierzu fehlen genaue Dokumente –, scheint sie im Zweiten Weltkrieg nach Greifswald ausgelagert gewesen zu sein, von wo aus sie an das Deutsche Hydrographische Institut in Hamburg gelangte. Von Hamburg wurde sie 1975 an das neu gegründete Deutsche Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven gebracht, wo sie seitdem in der Ausstellung zu sehen ist.
Seit der Eröffnung eines Erweiterungsbaus des Museums im Jahr 2000 wird die Maschine von 1915 neben einer weiteren, 1955 in der DDR gebauten Gezeitenrechenmaschine ausgestellt. Dies ist nicht nur deshalb besonders, weil insgesamt nur drei solcher Maschinen überhaupt in Deutschland gebaut wurden, sondern auch weil weltweit weniger als dreißig stationäre Gezeitenrechner jemals konstruiert worden sind. Nur wenige davon sind erhalten und für die Öffentlichkeit zugänglich, seltene Ausnahmen bilden dabei Museen in München und Liverpool.
Zur Eröffnung des Erweiterungsbaus war ursprünglich eine vollständige Restaurierung des ersten Gezeitenrechners vorgesehen, sie konnte jedoch nur in Teilen verwirklicht werden. Aus Budgetgründen wurde der Fokus auf die gut sichtbare Vorder- und Rückseite der Maschine gelegt. Dabei wurden die Messing- und die vernickelten Komponenten gereinigt.
Für eine weitere Restaurierung der Maschine müssten zunächst alle Komponenten im Inneren gründlich gereinigt werden. Im Zuge dieser Reinigung können wir dann durch eine genauere Analyse des Materials der Einzelteile mehr über die präzise Funktionsweise und mögliche Anpassungen der Maschine im Laufe ihrer Geschichte erfahren und die Erkenntnisse dokumentieren. Damit wäre auch die Grundlage geschaffen für einen detaillierten Vergleich mit anderen Gezeitenrechnern – wie dem DDR-Rechner oder den Rechnern in Liverpool.
Die deutsche Gezeitenrechenmaschine von 1915 ist von immensem technik- und wissenschaftshistorischen Wert, allein schon in Bezug auf die Entwicklung von Rechenhilfen, aber auch weil sie die Besonderheiten des häufig kriegsbedingten Einsatzes von Technik in Deutschland im 20. Jahrhundert widerspiegelt. Unser langfristiges Ziel ist es, sie wieder funktionsfähig zu machen. Und wir wären Ihnen, liebe Arsprototo-Leserinnen und -Leser, sehr dankbar, wenn Sie uns dabei unterstützen würden!
Wir bitten Sie herzlich, liebe Leserin und lieber Leser, um Unterstützung für das Deutsche Schiffahrtsmuseum. Spenden Sie für die Restaurierung der ersten deutschen Gezeitenrechenmaschine und überweisen Sie unter dem Stichwort „Deutsches Schiffahrtsmuseum“ auf eines der Konten der Kulturstiftung der Länder. Vielen Dank!
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