Stoffwechsel

Faden verloren

Mittelalterlicher Bildteppich mit der Sage von Herzog Ernst von Schwaben, 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts, 260 × 68 cm; Städtisches Museum Braunschweig; © Städtisches Museum Braunschweig / Foto: Dirk Scherer
Mittelalterlicher Bildteppich mit der Sage von Herzog Ernst von Schwaben, 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts, 260 × 68 cm; Städtisches Museum Braunschweig; © Städtisches Museum Braunschweig / Foto: Dirk Scherer

Die fabelhaften Abenteuer des Herzogs Ernst von Schwaben erfreuten sich im Mittelalter großer Beliebtheit: Um 1200 entstanden und in unterschiedlichen Fassungen verbreitet, kreist die unterhaltsame Erzählung um den damals brisanten Konflikt zwischen fürstlicher Landeshoheit und kaiserlicher Zentralgewalt – in der Dichtung verkörpert vom fiktiven Helden Ernst, Herzog über Bayern, und dessen Stiefvater König Otto. Wie ihre historischen Vorbilder Liudolf von Schwaben und Kaiser Otto II. – der Machtkampf zwischen Vater und Sohn eskalierte im Jahre 953 in einem Aufstand –, liegen auch Ernst und Otto in der anonym verfassten Erzählung im Clinch. Als Ernst im Kampf dem Stiefvater unterliegt, begibt er sich laut Dichtung mit seinem treuen Vasallen Graf Wetzel auf einen Kreuzzug in den Orient. Der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Braunschweig gefertigte Bildteppich verlebendigt diese Eskapade: Auf der 260 × 68 cm großen Wollstickerei treten die Protagonisten Herzog Ernst und Graf Wetzel zehn Mal in Folge auf. Die Szenen erzählen, wie sie vom König von Konstantinopel empfangen werden, dessen geraubte Braut bei der Hochzeit befreien, wie sie schließlich von einem Greif erbeutet werden, sich jedoch retten können und am Ende ihres Abenteuers heldenhaft einen Drachen töten. Die kurzen Fäden auf der Rückseite – charakteristisch für den sogenannten Klosterstich der Tapisserie – haben sich über die Jahrhunderte teilweise gelöst, statt von der ursprünglichen Farbenpracht ist die leinerne Vorderseite heute flächig von den Vorzeichnungen geprägt. Restauratoren haben flottierende Fäden fixiert, offenliegende Kanten gesichert und die vorhandene Stickerei substantiell stabilisiert: Mit Hilfe der Ernst von Siemens Kunststiftung kann der Herzog-Ernst-Teppich – seit 1872 im Städtischen Museum Braunschweig – Ende Oktober 2017 in einer Sonder­ausstellung wieder von den Abenteuern des Helden berichten.    Elisa Kaiser 

 

Andere Zeiten, andere Kleidung

Mit Scheibenwischerfüßen und Schleuder­beinen eroberte der Charleston in den 1920er-Jahren die Tanzböden der Welt. Die fliegenden Beine seiner Trägerinnen setzte das Charlestonkleid in Szene, seine paillettenbesetzen Fransen schwangen in atemberaubendem Tempo des Takts. Hier gingen Bewegung und Kleidung Hand in Hand. Eine Annahme, die sich als roter Faden auch durch das 2015 begonnene textil­wissen­schaft­liche Forschungsprojekt „Kleider in Bewegung“ zieht. Wissenschaftlerinnen der Universität Paderborn und des Historischen Museums in Frankfurt am Main befragen überwiegend großbürgerliche Frauenbe­kleidung der 1850er- bis 1930er-Jahre aus den Sammlungsbeständen des Hauses, wie Bewegungsmöglichkeiten in der Kleidung kreiert werden, wie sich Bewegungen im Tragen abzeichnen und welche Spuren das Tragen in der Kleidung hinterlässt. Neben weiteren Sammlungen webt das von der Volkswagenstiftung geförderte Projekt auch kulturgeschichtliche Dokumente in seine Forschungen ein. Gemeinsam zeigen die Artefakte, wie sich in einem jahrzehntelangen Wechselspiel von Verhüllung und Enthüllung raumgreifende Röcke zu Beweglichkeit versprechenden Kleidern wandelten und wie die Umhüllung aus engen Miedern und schweren Stoffen gesprengt wurde, um dem weiblichen Körper Raum zu schenken.    Antonia Kölbl 

 

Tote Hose?

1.000 v. Chr. am Südhang der Flammenden Berge, Region Turfan, China. Ein etwa 40-jähriger Mann wird mit Beigaben aus Bronze, Holz, Gold, Stein, Muschel, Leder und Wolle bestattet. Zaumzeug und typische Waffen lassen in Grab 21 einen Reiterkrieger vermuten. Hier im dürren Klima von Chinas äußerstem Westen, wo der Niederschlag im 30-jährigen Klimamittel geringer ist als die Verdunstung, wird die Mumie für die nächsten 3.000 Jahre bestens konserviert. Haut und Haare, aber auch die Kleidung kamen bei Ausgrabungen fast unversehrt zu Tage. Die Wissenschaftler einer deutsch-chinesischen Kooperation des Deutschen Archäo­logischen Instituts entschlüsseln im „Silk-Road-Fashion“-Projekt seit 2013 die Kommunikation durch Kleidung im 1. Jahrtausend v. Chr. in Ost­zentralasien. Welche Technik beherrschten die Kleidungshersteller, welche Sozialstrukturen bestimmten ihr Leben, welche Ressourcen waren verfügbar; Rückschlüsse auf die Wirtschaftsgeschichte und Handelsnetze sollen möglich werden. Was den Mann von Grab 21 allerdings weltbekannt machte, ist sein Beinkleid: Er trägt die älteste erhaltene Hose. Reiten über weite Strecken, Kämpfen auf dem Rücken der Pferde: Hosen als eine Art Uniform trug die sich formierende soziale Klasse der berittenen Krieger. Die Forscher des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts rekonstruierten das textile Meisterwerk im Labor: Bei den textiltechnischen Fertigkeiten galt die Aufmerksamkeit besonders Mustern auf Waden- und Kniehöhe. Die besondere Festigkeit dieser Stoffzonen und die ungewöhnliche Rückseite des Mäandermusters stellte die Wissenschaftler vor Rätsel: Keine Stickerei und kein Gewebe waren hier zu erkennen, sondern eine Technik des Zwirnbindens. Sie erinnert an textile Arbeiten der Maori in Neuseeland. Verschiedene Garne laufen parallel, die die Weber mit der Hand nicht nur um die Kettfäden schlingen, sondern nach jedem zweiten Kettfaden auf der Rückseite auch entweder halb oder ganz miteinander verzwirnen – ähnlich einer Methode des Korbflechtens.    Johannes Fellmann 

 

Kunst-Stoffe

Willi Baumeisters farbintensives Informel auf Leinen, Florales von Leo Wollner auf kräftiger Baumwolle: Stoffdessins von namhaften Künstlern und stilprägenden Designern verliehen der 1911 gegründeten Textilfabrik Pausa Weltruhm. Schon in den späten 1920er-Jahren knüpfte die bald ins schwäbische Mössingen umgesiedelte Pausa Kontakte zum Bauhaus, ließ sich von der Dessauer Bauhaus-Weberei mit Mustern für Stoffe versorgen – und bald auch mit einer neuen künstlerischen Leitung: Die Bauhaus-Weberin Ljuba Monastirskaja übernahm 1929 das Entwurfsbüro der Textilfabrik. Pausa-Stoffe begeisterten im Folgejahr in Museen in Paris und New York. Doch die „Arisierung“ des Betriebs während der NS-Zeit und die erzwungene Emigration der jüdischen Firmeneigentümer Löwenstein führten zum Bruch der Erfolgsgeschichte. Nach dem Krieg gelang dem künstlerischen Leiter Willy Häussler dann ein Wiederaufschwung: Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch räumlich expandierend, schuf der Architekt Manfred Lehmbruck – Sohn des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck – mit dem vom Bauhaus beeinflussten Firmengebäude den idealen Rahmen für die innovativen Druckmaschinen der Pausa. Und für die erfolgsträchtige Zusammenarbeit mit Künstlern wie Walter Matysiak, HAP Grieshaber, Willi Baumeister, Victor Vasarely und mit Designern wie Verner Panton, Leo Wollner, Anton Stankowski und Anneliese May. Die Stadt Mössingen erwarb 2006 das mittlerweile denkmal­geschützte Areal der wenige Jahre zuvor insolvent gewordenen Pausa-Fabrik mit allen darin enthaltenen Sammlungen: Die ca. 20.000 zum Teil unikalen Stoffmuster sind durch das von der Kulturstiftung der Länder und der Kulturstiftung des Bundes aufgelegte KUR-Programm zur Konservierung und Restaurierung von mobilem Kulturgut gesichert und konserviert worden. Im Anschluss förderte die Wüstenrot-Stiftung im Rahmen von „Kunst auf Lager“ die Dokumentation und Inventarisierung der Pausa-Bestände.    Elisa Kaiser 

 

Gut gerüstet

Meister der Schwertkunst, edle Krieger, hochrangige Kämpfer im Dienste adliger Herren – die Samurai. 700 Jahre beherrschten Japans Ritter das Land, und bis heute nährt ihr Ehrenkodex von Disziplin, Selbstaufgabe, Gehorsam und Treue bis in den Tod ihren Mythos, von dem auch das Prunkstück der Ethnologischen Sammlung des Freiburger Museums Natur und Mensch erzählt: die alt-japanische Samurai-Rüstung im tosei gosuku-Stil („moderne Rüstung“) vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Die vollständig erhaltene leichte Lamellenrüstung, die nicht nur zum Kampf, sondern auch zu zeremoniellen Anlässen getragen wurde, besteht aus dem Helm kabuto, dem Visier mit einer eisernen Schreckmaske menpo mit Bart und beweglich miteinander verbundenen lackierten Metallplatten als Schulterschutz sode. Auf grünem Stoff aufgenähte Metallstreifen und -ketten dienen als Armschienen kote, der Brustpanzer do aus Metallplatten als Oberkörperschutz. Auf seiner Vorderseite ist die Darstellung der Kriegsgöttin Marishiten auf einem Eber umgeben von Wolken zu sehen, den Rücken ziert ein Drache. Den Unterkörper schützen ein Schurz kusazuri aus auf blauem Stoff aufgenähten Ketten und Schienen sowie Oberschenkelschienen haidate und ein Beinschutz suneate. Die aus Metall, Leder, Bambus und Kordeln gefertigte Rüstung offenbart sich als perfektes System, das sich dem Körper optimal anpasst: Von Seidenschnüren gehaltene Lamellen und nur durch Bänder miteinander verbundene Rüstungsteile konnten sich bei jeder Bewegung übereinanderschieben und erlaubten dem Samurai den größtmöglichen Aktionsradius. Nachdem die ­Rüstung über viele Jahre im vormaligen Adelhausermuseum für Völkerkunde offen ausgestellt und danach im Depot eingelagert worden war, wurde sie jetzt im Rahmen des Bündnisses „Kunst auf Lager“ mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder restauriert und ist in der neuen interdisziplinären Dauerausstellung des Museums als zentrales Objekt zu sehen. Sie hat gute Chancen, ein Publikumsliebling zu werden.    Carolin Hilker-Möll 

 

Made in China!

Für die Mitarbeiter des Roemer- und Pelizaeus-Museums war es eine große Überraschung, als sie Anfang der 1990er-Jahre mehrere sicher im Depot verstaute, bis dahin fest verschlossene Kisten öffneten: Eine kostbare Sammlung prachtvoller chinesischer Gewänder trat zu Tage, an deren Existenz kaum noch jemand geglaubt hatte. 1944 wurde das wertvolle Konvolut gemeinsam mit Teilen der Hildesheimer Sammlung im Tresor des Domhofes in Sicherheit gebracht, ehe die Textilien 1948 in die Magazinräume des Museums ausgelagert wurden und dort über 45 Jahre unentdeckt blieben. Die prunkvollen Seidenroben aus dem 19. Jahrhundert – zum Teil mit Häutchengoldfäden gewebt, kunstvoll bestickt, mit Samt und tausenden feuervergoldeten Nieten besetzt – galten seitdem als Kriegsverlust. So groß die Freude über die verloren geglaubten Objekte war, so offenkundig war ihr konservatorisch kritischer Zustand: In die Kisten eingedrungene Feuchtigkeit hatte im Laufe der Zeit zu verschiedenen Schimmelarten, Korrosionen an den ver­arbeiteten Metallteilen sowie zu Ausblutungen von Rottönen auf hellere Farben geführt. Mit Unterstützung der Hermann Reemtsma ­Stiftung konnten nun gleich mehrere der seltenen Gewänder im Rahmen des Bündnisses „Kunst auf Lager“ restauriert und konserviert werden. Die wiederentdeckten Objekte bilden neben prächtigen Porzellanen aus der Zeit der Ming- und Qing-Dynastie sowie kostbaren Jade- und Cloisonné-Arbeiten einen weiteren Höhepunkt in der herausragenden Asien-Sammlung des Hildesheimer Museums. Diese geht in weiten Teilen auf den aus der Region Hildesheim stammenden Ernst Ohlmer (1847–1927) zurück, der sich zwischen 1868 und 1914 zunächst als Inspektor, später als Direktor des kaiser­lichen Seezollamtes in China einen Namen machte. Sei es die Parade-Uniform eines hochrangigen Generals aus dem frühen 19. Jahrhundert oder eine kaiserliche Robe mit Drachenstickerei: Dank der sorgfältigen Rettung können die textilen Kunstwerke nun endlich wieder der Öffentlichkeit präsentiert werden.    Jenny Berg