Mode als Wille und Weltgeschichte
Auf halber Strecke zwischen Hamburg und Berlin gibt es seit 10 Jahren ein Modemuseum von Rang. Es befindet sich auf Schloss Meyenburg in der Prignitz und stellt auf zwei Etagen vorwiegend deutsche Kleidungskultur seit 1900 aus. Die Sammlung verdankt sich der Modejournalistin und Designerin Josefine Edle von Krepl, die über 60 Jahre ein gigantisches Konvolut historischer Kleider und Accessoires vor dem Untergang bewahrte. Sie wurde bei Trödlern fündig und sprach als Redakteurin der DDR-Modezeitschrift „Für Dich“ auf Fototerminen überall im Land gezielt ältere Damen an, die oft bereit waren, sich von ihren Schätzen zu trennen. An die 3.000 Säcke und Hunderte von Kartons sollen so zusammengekommen sein. Die Hälfte davon wurde vor zwei Jahren von der Stadt Meyenburg u. a. mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder angekauft. Damit ist auch die Leitung des zunächst von Josefine von Krepl privat geführten Museums in öffentliche Hand übergegangen.
Die sich weit von den kosmopolitischen Standards reduzierter, galerietypischer Darbietung entfernende Ausstellungsästhetik trägt noch ihre Handschrift. Da der Meyenburger Museumsbetrieb durch Eintrittskarten finanziert wird, kommt es nicht auf wenige Connaisseure, sondern ein breites Publikum an. Und dem gefällt es offenbar, wenn den Sinnen möglichst viel geboten wird. So erhalten die Kleiderpuppen in und über den Vitrinen durch historische Fächer, Werbeplakate, Sonnenschirme, Radios, Stehlampen und aus Lautsprechern dröhnende Walzer Konkurrenz. Solche Milieuliebe und kulturgeschichtliche Überinformation macht es dem Besucher nicht immer leicht, die Exponate in ihrer schneiderischen und textilen Autonomie zu würdigen. Dabei haben sie das wirklich verdient.
In den ersten Jahrzehnten überwiegt das Spektakuläre großbürgerlichen Chics. Die späteren Dezennien, vor allem die 1960er- und 1970er-Jahre, sind durch Alltagsmode vertreten, die vielen Besuchern das Glück des Wiedererkennens beschert. Einige der Exponate können sogar an historischen Kleiderpuppen präsentiert werden. Für den frühesten Teil der Sammlung muss der Besucher in die Kellergewölbe hinabsteigen. Dort begrüßt ihn gleich unter der Treppe an Leinen aufgehängte 100 Jahre alte Unterwäsche, die in ihrer Voluminität schon auf den züchtigen Geist des Wilhelminismus vorausweist. Es folgen Promenadenkleider und Kostüme des Fin-de-Siècle, zahlreiche Tanzkleider aus den 20er-Jahren sowie eine Vitrine mit frühen Hochzeitskleidern. Es ist eindrucksvoll zu sehen, wie viel Qualität sich in den oft dörflichen Schränken verborgen hat. Vielleicht machte das utilitaristische, Statusträumen eher abgeneigte DDR-Regime es den Besitzerinnen leichter, sich von den so gänzlich aus der Zeit gefallenen Erbstücken zu lösen.
Nicht jede Braut wählte ein weißes Kleid, Schwarz war bei der Vermählung nicht weniger feierlich und ließ sich, leicht umfunktioniert, auch später noch tragen. Die Qualitätsmaterialien reichen von Seidenbatist und -damast bis zu pfirsichfarbener Atlasseide. Josefine von Krepl weiß zu ihren Entdeckungen viele Geschichten zu erzählen. So berichtete eine einstige Braut von ihrem im Warenhaus erworbenen ma-schinenbestickten Hochzeitskleid, dass sie es 1917 mit einem lindgrünen Unterkleid zur Verlobung trug. Zur Hochzeit kam es nicht, weil der Bräutigam schnell an der Front des Ersten Weltkriegs fiel. Die aus Krankheitsgründen an ihre Wohnung gefesselte Hannoveraner Besitzerin, die im späteren Leben auf jede weitere Liebesverbindung verzichtete, legte Frau von Krepl das in einem Rolltuch aufbewahrte Kleid „wie eine Tora“ vor.
Bemerkenswert ist auch ein elegantes, cremeweißes Hochzeitskleid aus stabilem, Stand verleihenden Wollkrepp, dessen Oberteil in seiner raffiniert-keuschen Gestaltung fast schon wieder anzüglich wirkt. Senkrechte Biesen bedecken die Brust in Form einer Korsage. Sie ist von kostbarer Klöppelspitze umrandet und an den Schultern durch eine in trachtenartige Falten gelegte Stoffpartie gehalten. Darunter eine hochgeschlossene Spitzenbluse. Nur ein vom schlichten, bodenlangen Rock hängendes lachsfarbenes Portemonnaie springt an diesem Ton-in-Ton-Meisterwerk ins Auge. Der Druckknopf am Jackensaum verrät den Zugang zu einer neuen technischen Errungenschaft.
Der Reifrock mit seiner pittoresken Gestaltung des weiblichen Unterleibs war schon Geschichte, als die ersten Meyenburger Kleider entstanden. Ihre Linie ist schlank, ja, im Sinne des Historismus fast gotisch, der Busenbereich durch Korsett und Unterfütterung zur Taubenbrust idealisiert. Preußischem Understatement entsprechend sind die Farben der großen Garderobe gedeckt, oft viktorianisch schwarz und Schwarz-auf-Schwarz mit Jetperlen, Stickereien, Spitze, Posamenten, Zierknöpfen und dem Militärischen entlehnten Kordeln, Quasten und Tressen geschmückt. Luxus wird konstatiert, ohne im geringsten aufmerksamkeitsheischend zu wirken. Optisch etwas mehr erlaubt sich ein braunes Samtkostüm, über dessen grauen Leinenrock sich der geraffte Samt wie eine Schleppe windet. Der Entwurf spielt mit der Anmutung, der Rock habe sich von seiner Jackenaufhängung gelöst und offenbare den Unterrock. Die Frivolität wird durch die stattliche Dekolletégestaltung noch erhöht. Der tiefe, pelzgesäumte Ausschnitt ist mit einem dem Hautton nahen Wollfilz ausgefüllt, dessen metallische Perlenstickerei an eine Tätowierung denken lässt. Der souveräne Umgang mit den Mitteln der Farbe und Schneiderkunst macht das Kostüm zu einer reizvollen Etüde viktorianischer Doppelmoral. Erwähnt sei auch ein matronenhaftes Matrosenkleid in Hellblau mit weißer Spitze, Renaissanceärmeln und lila Streifen, das auf den Enthusiasmus für Preußens Marine gemünzt sein dürfte.
Ein ganz anderes Bild bieten die 20er-Jahre. Das Korsett ist verschwunden, die weibliche Figur um ihre Stundenglasform gebracht. Diaphane Chiffon- und Seidenstoffe in Flieder, Meerschaumgrün und Erdbeerrot fallen bis zum Knöchel gerade, nur auf Hüfthöhe angedeutet tailliert. Der Arm ist entblößt, ein einfacher runder Ausschnitt legt den Hals frei. Der einzige Schmuck dieser Charlestonkleider sind Stickereien, oft dem Jugendstil entliehen. Ein schwarzes Kleid mit weiß-roten Stickereipaneelen sticht hervor. Die zeitgeistgemäße, konsequent flache, von weiblichen Formen abstrahierende Gestaltung machte seitlich eingesetzte Gehfalten nötig. Ein Schaustück auch der aus Rottönen von Wolle, Seide und Kunstseide in Gabelarbeit gehäkelte Mantel mit Polokragen, völlig gerade fallend, im Art déco-Stil. Fast vergeblich sucht man Beispiele für die Neue Sachlichkeit, eine Moderichtung, die sich von Pariser Vorgaben befreite und für die Berliner Mode der 20er-Jahre typisch war. Eine Ahnung von diesem reduzierten Bauhaus-Geist geben Tenniskleider, die vom damals virulenten Vorbild des American Sports Girl und jungen Champions wie Helen Wills inspiriert waren.
Die nächste denkwürdige Abteilung im sonnenhellen ersten Stock gilt den 40er-Jahren. Dort sieht man Kleider und Kombinationen, die Trachtenzitate ganz im Sinne des Nazi-Ideals mit militärischen Elementen aus dem Reservoir des BDM-Mädchens verbinden. All das – die hellen Leinen- und Baumwollstoffe im Verbund mit sparsamer folkloristischer Stickerei – ergibt einen durchaus singulären Stil. Ein Kleinod dieser Sektion ist ein wadenlanges Wickelkleid in pudrigem Russischgrün von 1942, dessen Kosakenstil durch Trachtenstickerei noch betont wird. Hier wird die Flapper-Flächigkeit durch optische Anlehnung an den Uniformjackenstil ins Militärische transformiert. Das Resultat ist eine Autorität ausstrahlende, gar nicht mehr mädchenhafte Weiblichkeit.
Daneben eine Phalanx von heute eher als bieder empfundenen Kleidern, die kaum einer Frauenfigur gerecht werden: An hoher Taille angesetzte, in Falten fallende Röcke ohne Stand. Sie sind der Verehrung der griechischen Antike in den 30ern geschuldet und zeugen auch von der fortwährenden Verlegenheit, den weiblichen Unterleib modisch zu gestalten. Ein ganz anderes Statement hinterlassen die Notkleider der 40er-Jahre und ihre dem Materialmangel in Kriegszeiten zu verdankende Zweitverwertung von bereits aufgetragener Garderobe. Hier werden, oft durch Anregung von Modejournalen, Muster- und Unistoffe geschickt neu zusammengesetzt. Man ist auf Kontrast bedacht, Patchwork wird zum ästhetischen Prinzip. In dieser Abteilung finden sich auch solche Coups der Do-it-Yourself-Virtuosität wie „Pelzmäntel“ aus Frottee und Damentaschen aus Pappe. Dieser Ökonomie machte Christian Diors New Look 1947 ein Ende. Im kriegszerstörten Deutschland wurde das Diktat der weiten, materialintensiven Röcke vorwiegend durch die Verwendung von Perlon und anderen synthetischen Stoffen umgesetzt. In den 50er-Jahren kam der Einfluss der amerikanischen Jugendkultur hinzu, man trug Petticoats unter Tellerröcken, die plakativ gemustert waren; ein Exponat ist mit LP-Motiven übersät, andere tragen touristische Motive. Jugendlichkeit, Heiterkeit, Unbeschwertheit war die Parole: Eine ganze Generation nahm Urlaub von der Weltgeschichte.
Ein raffiniert gerafftes Kattunkleid nach Diors ovaler Linie demonstriert die Wiedereroberung der Feminität in den 50er-Jahren – einer Feminität, die in der Stundenglasoptik des Fin-de-siècle erstmals Gestalt gewonnen hatte. Bald ist sie wieder verschwunden, nicht nur aus Gründen der Bequemlichkeit. In der Mode gehorcht die Form den Materialvorgaben, und nach dem Krieg wurden die militärischen Hightech-Entwicklungen zivil genutzt. Zunächst hatte man bei ihrer Verarbeitung noch auf damen- und mädchenhafte Schnitte zurückgegriffen, doch erst in den Hängerkleidern der 60er-Jahre fand das neue Material ganz zu sich. Futuristisch war nun nicht nur das Was, sondern auch das Wie. In Meyenburg lässt sich die radikale Vereinfachung der Damenmode studieren: Popfarben, Color-blocking, kindliche Muster. Die geheimnisvollen Details und sanften Rundungen sind verschwunden. Die Frau ist entzaubert, und es ist ihr gerade recht. Heute ist der Neuigkeitswert verflogen, was einmal revolutionär war, wirkt im Kontext früherer Stile uninspiriert. Das sogenannte Papierkleid aus Vlies brachte die ephemere Natur dieser Mode auf den Punkt: Sie war zum Wegwerfen gedacht.
Wie schwer es der Industrie fiel, die Natur dieser neuen Frau zu begreifen, zeigt eine wie ein Nähkörbchen gearbeitete Damentasche aus Kunststoff aus den späten 50er-Jahren, die noch von Handarbeiten und idyllischen Picknicks erzählt. 30 Jahre später hat Prada mit einem schwarzen Nylonrucksack einen Welterfolg. So lange brauchte es, bis das Accessoire-Design der Mentalität der Nachkriegsmoderne gewachsen war. Dazwischen liegen die hedonistischen 70er- und 80er-Jahre. Ein auf 1969 datiertes Hemdblusenkleid aus schwarzem Jersey von Louis Féraud kündigt sie an. Der spitze Barrymore-Kragen weist auf die Disco-Mode hin, die mit weißen Kamelen verzierten Borten auf den Safari-Stil der 70er-Jahre. Bodenlange Hippie-Kleider mit farbintensiven Op-Art-Mustern erzählen derweil von psychedelischen Träumen.
Einiges spräche dafür, in Meyenburg die frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in den ersten Stock wandern zu lassen. Das Sonnenlicht der Prachtetage ist ihnen zu gönnen. Die Mode nach der Mode seit den 60ern, von der es im Museum nur so wimmelt, wäre in den Kellergewölben gut aufgehoben. Atmosphärisch sind sie der Nachtklubkultur verwandt, die mit den Jazzkellern der 50er Jahre ihren Anfang nahm und für den Sex-Appeal dieser Jugendmode ein wichtiger Einfluss war.
Die Vielfalt und konzeptuelle Vagheit der Meyenburger Sammlung hat durchaus ihre Vorteile. Denn die besonderen Einzelstücke werden keiner ausschließlich thematischen Linie geopfert. Sehr reizvoll ist in dieser Hinsicht ein um 1900 datiertes Teilstück der Bückeburger Tracht. Dabei handelt es sich um ein bodenlanges, in weite Falten fallendes Cape aus schwarzem Woll-Seidengemisch, dessen Volumen durch aufgestickte winzige rosa Blüten noch unterstrichen wird. Das Cape krönt ein grandioser breiter Kragen aus dicht gerüschten Stoffrosetten. Dank der Dramatik der Konzeption und ihrer geschmackvollen Gestaltung hält dieses Trachtenelement mühelos neben den zeitgenössischen modischen Exponaten stand und könnte leicht der Hand eines führenden Pariser Couturiers zugerechnet werden. Ganz nebenbei gibt es Thorstein Veblens 1899 erschienener „Theorie der feinen Leute“ recht, einem Schlüsselwerk der Konsumwissenschaft. Die ästhetische Überlegenheit von Trachten gegenüber der Mode begründet Veblen mit den sekundären, von der Geltungssucht diktierten Motiven des Modekonsums. Ländliche Kleidung hingegen werde über lange Zeiträume perfektioniert und biete bei geringer Mobilität und großer wechselseitiger Vertrautheit mit den Verhältnissen der Träger kaum einen Anreiz, sich durch kostspielige Exzentrizitäten imaginäre Bedeutung zu verschaffen. Meyenburg zeigt alle Seiten, den diskreten Charme der besseren Kreise, die seit den 20ern selbstbewusst auftrumpfende Jugend, die politisch linientreue Garderobe eines in ideologische Haft genommenen Staates und die Euphorie der ihm Entkommenen. Im Zentrum jedoch steht die Befreiung der Frau aus ihren Jahrhunderte währenden Fesseln.
Die meisten Exponate stammen vermutlich nicht aus Schneiderhand. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Konfektionsmode weit verbreitet. Und doch lässt sie sich qualitativ mit der industriellen Produktion der 70er kaum vergleichen. Die Kleider der Jahrhundertwende wurden, wenn auch seriell, so doch nach strikten Qualitätsstandards und oft in Heimarbeit gefertigt. Man sieht und spürt die fertigende Hand. Es wurde nicht an Säumen gespart, und die Modelle wurden den Maßen der Trägerin gemäß gefertigt. Diese Würde des Individuums geht modisch im Laufe des Jahrhunderts verloren. Obwohl man mit der Leichtigkeit sympathisiert, die der Frau dieselbe Beweglichkeit wie dem Mann schenkt, kann man doch nicht umhin zu bedauern, dass die Mode ihr nicht mehr dieselbe Phantasie und Aufmerksamkeit schenkt. Was die Sorgfalt der Schnitte, Qualität der Stoffe und die individuelle Ausführung betrifft, sind wir im Wegwerfzeitalter weit hinter die geretteten Exponate des frühen letzten Jahrhunderts zurückgefallen. Was sich in den Jahrzehnten der Jugendbewegung andeutete, ist heute zur geballten Krise einer Modeindustrie geworden, die verzweifelt nach einer neuen, den Konsumenten überzeugenden Formel sucht. Orte wie Meyenburg können eine Ahnung davon geben, was die Frau in der Mode vermisst.
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Land Brandenburg, Ostdeutsche Sparkassenstiftung, Sparkasse Prignitz