Sehnsucht und Synergie

Als Marianne von Werefkin 1938 in Ascona 78-jährig stirbt, malt Alexej von Jawlensky (1860 – 1938) fast zeitgleich sein letztes Selbstbildnis. „Ich bin mit ihr auseinander wegen Lebensnot […]. Aber ich als Künstler bin ihr sehr verpflichtet“, beklagt er nur ein Jahr zuvor in einem Brief an die Kunstsammlerin Galka Scheyer. Zu diesem Zeitpunkt ist der in Wiesbaden sesshaft gewordene Maler, der mit seinen „Ab­stra­kten Köpfen“ Maßstäbe in der modernen Malerei setzte, nicht nur etliche Kilometer von seiner früheren Lehrerin Werefkin entfernt, sie haben sich auch seit etwa zwei Jahrzehnten weder geschrieben noch gesprochen. Und dennoch verweisen Jawlenskys Spätwerke, seine Köpfe und Variationen, mögen sie sich in ihrem reduzierten Formkanon, in ihrer strikten Linienführung und der dezent pastellenen Farbgebung noch so sehr von Werefkins dynamischen und farbintensiven Gemälden unterscheiden, auf die gemeinsame Vergangenheit – die glanzvollen Jahre, die sie unzertrennlich zwischen der Kunstmetropole München, ihren unzähligen Reisen und schließlich im Schweizer Exil verbrachten.

Nur vier Jahre bevor sie nach München umziehen, lernen sich die Künstlerin und ihr Protegé 1892 in Sankt Petersburg kennen. Durch den Tod des Vaters, eines hohen Generals unter dem Zaren, erhält Werefkin eine stattliche Pension. Sie ermöglicht ihr ein Leben à la bohème – unverheiratet, intellektuell und selbstbestimmt. Jawlensky findet erst durch diese Begegnung, in der Kunst, die Befreiung aus dem Offiziersdasein und in Werefkin seine bedingungslose Förderin. Von Ilja Repin wird die Künstlerin bereits als „russischer Rembrandt“ gepriesen. Doch entgegen der frühen Einschätzung ihres Lehrers revolutioniert Werefkin mit ihrem Weggefährten Jawlensky nicht die naturalistische Malerei, sondern die expressionistische Landschaftsmalerei in Deutschland. Sie formuliert schon um 1905 eine Theorie, welche die Losgelöstheit der Farbe von der abgebildeten Form und damit einhergehend das Abrücken von einer realitätsstiftenden Perspektive propagiert. Ihre vorausschauenden Aufzeichnungen setzen sich bald in Wassily Kandinskys Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ (1912) fort. Gemeinsam mit der Initiierung der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ im Jahr 1911 bringen sie bahnbrechende Neuerungen der malerischen Abstraktion mit sich.

Auch die innovativen Porträtdarstellungen Jawlenskys, die das menschliche Vorbild fast bis ins Unkenntliche verfremden, dabei geschlechtliche Zuweisungen gänzlich zurückweisen, formieren sich als Idee bereits in diesem ersten Jahrzehnt, in dem er und Werefkin den Höhepunkt ihrer Schaffensphase er­reichen und in dem Tänzer Alexander Sacharoff ihre gemeinsame Muse finden. In der Münchener Zeit stellt Werefkin ihre Kunstpraxis für fast zehn Jahre ein, macht es sich stattdessen zur Aufgabe, Jawlensky in seinem Bestreben zu unterstützen. Sie sieht in ihm das Potenzial einer künstlerischen Karriere verwirklicht, das ihr als Frau verwehrt bleibt. In ihren Tagebucheinträgen, die sie als „Briefe an einen Unbekannten“ (Lettres à un Inconnu) betitelt und die ihr die postume Würdigung als Spiritus rector der Münchener Avantgarde verliehen haben, schreibt sie: „Das Vertrauen hat mir gefehlt. Die Gewohnheit, sich auf den zweiten Platz zu stellen, hat den Rest gegeben. Bin ich eine wahre Künstlerin? Ja, ja, ja. Bin ich Frau? Ach, ja, ja, ja. Können die beiden gemeinsam marschieren? Nein, nein, nein.“

Kreativen Stillstand bedeutet das für die begabte, aber zweifelnde Malerin in keiner Hinsicht. Glaubt man den Worten des Kunsthistorikers Gustav Pauli, so verstrahlte Marianne von Werefkin „Kraftwellen fast physisch spürbar“, wenn sie in ihrem „rosafarbenen Salon“ in der Giselastraße über Kunst philosophierte. In seiner Wohnung im Künstlerviertel Schwabing schart das Paar Kreative und Intellektuelle um sich, verwandelt so das gemeinsame Wohnzimmer in den Hotspot der deutsch­sprachigen und russischen Avantgarde. Igor Grabar, das Ehepaar Marc und Kandinsky sind dabei nur einige einschlägige Namen unter den vielen Persönlichkeiten, die im Salon Werefkin ein- und ausgehen.

Während eines Aufenthalts in Murnau 1908 beginnt Werefkin nach langjähriger Abstinenz wieder zu malen. Hier in der Peripherie gelangt sie – mit Jawlensky, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky – zu einer gänzlich neuen Nutzung von Farbigkeit in der Landschaftsmalerei. Kräftige Farben, ein präzise-pointilistischer Stil prägen ihre Tempera-Malereien, die stets eine Geschichte erzählen; gar zu diesem Zeitpunkt schon das tragische Auseinanderleben mit ihrem künstlerischen Partner erahnen lassen. Jawlensky misst dieser Reise in seinen Memoiren eine außerordentliche Stellung zu, die zu einem Durchbruch in seiner Kunst geführt habe. Seine Malereien aus Murnau bestechen durch leuchtende Farben und einen flächigen Auftrag in intuitiv-impulsivem Duktus.

Doch sind es besonders zwei Porträts Alexander Sacharoffs, die fast zeitgleich, kurz nach der höchst produktiven Zeit in Murnau entstehen, die auf überaus unterschiedliche Ansätze verweisen, die Jawlenskys und Werefkin in ihrer Kunst verfolgen. Zugleich handelt es sich nur um eine von vielen Differenzen, die schließlich zum unausweichlichen Bruch des synergetischen Duos führen. Rückt Jawlensky in seinem Gemälde die durchaus androgyne Erscheinung Sacharoffs in den Fokus und lässt sein Gesicht schemenhaft zur Maske werden, die mit eindringlichem Blick und knallroten Lippen auf den Betrachter gerichtet ist, dominiert in Werefkins Malerei vor allem eine Art Theatralik, die Sacharoffs Augen, seine Wangen und Lippen subtil mit dem Farbton jener Blüte verknüpft, die er grazil zwischen seinen Fingerspitzen hält. Versunken blickt der Tänzer hier zur Seite; die Blüte belebt das blasse Antlitz der Muse und lässt sie zugleich aus dem schwungvoll blau gemalten Hintergrund hervortreten. Die abstrakte Formreduzierung und verstärkte Symmetrisierung, die Jawlensky schließlich zu seinen „Abstrakten Köpfen“ führt, steht der emotional aufgeladenen Symbolik gegenüber, die nicht nur Werefkins künstlerisches Werk, sondern auch ihr Privatleben durchzieht.

„Die Liebe ist eine gefährliche Sache, besonders in den Händen Jawlenskys“, schreibt Werefkin und deutet mit diesem kurzen Satz auf den Kosmos des sich immer weiter zuspitzenden Beziehungsdramas hin, das den gemeinsamen Werdegang stets begleitet. Denn Helene Nesnakomoff, Werefkins Hausmädchen, mit dem sie bereits den Umzug nach München begehen, erwartete bald darauf Jawlenskys Kind. Der tiefe Rückschlag lässt Werefkin erkennen, dass nicht die Liebesbeziehung zu Jawlensky im Fokus ihres Zusammenseins steht, mindert aber nicht ihre Verletztheit. Es ist ihre über die persönliche Ebene hinausgehende, kreative Verbindung, welche beide noch weit über ein Jahrzehnt zusammenhält. Auch der Ausbruch des Ersten Welt­krieges  schweißt  die  ungewöhnliche Familie, bestehend aus Jawlensky, Nes­nakomoff, dem gemeinsamen Sohn Andreas und Werefkin, zusammen. Den russischen Staatsbürgern wird der Aufenthalt in München verwehrt. Ihren Hausstand müssen sie so zügig räumen, dass es ihnen nicht möglich ist, Mobiliar und größere Besitzstücke mitzunehmen. Wie der Zufall will, sollen sie nicht die einzigen sein, die im Schweizer Exil eine lebenswerte Freistätte finden.

Ein Großteil der Münchener Kunstszene, so auch Sacharoff, findet Zuflucht und einen neuen kulturellen Kulmina­tionspunkt in Zürich, wo DADA im Cabaret Voltaire seinen künstlerischen Höhepunkt erreichen soll. Den jungen Avantgardisten wohlgesonnen, verkehren Jawlensky und Werefkin mit Persönlichkeiten wie Hans Arp, Hugo Ball, Else Lasker-Schüler und Tristan Tzara – und einer langen Liste weiterer Bekanntschaften. Doch ein weiterer Schicksalsschlag bahnt sich an: War Werefkin Zeit ihres Schaffens an sozialkritischen Themen interessiert und bildete in unzähligen Werken die verschiedensten Arten von Arbeit und Arbeitenden ab, sollte sich mit  der  Revolution  in  Russland  1917 der Klassenunterschied offenbaren und Werefkin selbst in die Armut treiben. Der erfolgreiche Sturz des Zaren führte zur sofortigen Einstellung der Waisenrente der russischen Aristokratin. In dieser Zeit klafft die Beziehung zwischen Jawlensky und Werefkin zunehmend auseinander. So sucht der Familienvater bereits in den frühen Kriegsjahren eine Wohnung für sich und Andreas, ehelicht alsbald Helene Nesnakomoff, um seinen Erben zu legitimieren und zieht mit seiner Familie nach Wiesbaden. Die Zuspitzung des Verhältnisses führt schließlich zum vollständigen Kontaktabbruch zwischen Jawlensky und seiner einstigen Mentorin. Werefkin bleibt in Ascona und baut sich dort ein neues Leben auf.

Im Kunstbau des Münchener Lenbachhauses widmet sich die Ausstellung „Lebensmenschen“ nun der vielschich­tigen Künstlerpartnerschaft Jawlensky – Werefkin. Nicht nur die überaus komplexe gemeinsame Lebens- und Schaffensphase steht im Zentrum, sondern auch die Aufenthaltsorte des Paares – in einer Zeit, geprägt von der rasanten Zunahme an Mobilität, deren schneller Zäsur durch das Ausbrechen des Ersten Weltkrieges und dem gleichzeitigen Aufbrechen der Avantgarde in die Abstraktion. Die bereisten und belebten Ortschaften verdeutlichen den bewegten Lebensweg der beiden, der als gemein­samer im Schweizer Exil endet.

Die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Ausstellung im Kunstbau findet in Zusammenarbeit mit dem Museum Wiesbaden sowie der Fondazione Marianne Werefkin in Ascona, Gemeinde des Schweizer Kantons Tessin, statt. Beide Institutionen werden im nächsten Jahr ebenfalls Ausstellungen zu den „Lebensmenschen“ Jawlensky und Werefkin zeigen.

„Das Lenbachhaus hat schon mehrere Ausstellungen zu den Künstlerfreundschaften der Avantgarde umgesetzt, so auch zu Kandinsky und Klee, Macke und Marc“, erklärt Annegret Hoberg, Kuratorin der Münchener Ausstellung. „Durch die großen Werkblöcke, die sich sowohl im Besitz des Lenbachhauses als auch des Museum Wiesbaden von beiden Künstlern befinden, war es uns ein großes Anliegen, ihnen eine gemeinsame Schau zu widmen“, führt sie fort. Doch die Künstlerfreundschaft zwischen Jawlensky und Werefkin war, verglichen mit denen ihrer Zeitgenossen, nicht nur dynamischer, sondern auch durchaus konfliktreich – vielleicht liegt gerade darin die große Anziehungskraft, die beide auf ihr Umfeld hatten und die sie Zeit ihres Lebens in den Mittelpunkt des pulsierenden künstlerischen Geschehens rückte.