Fall 62: Die Wiedergeburt des Baccio Bandinelli
von Hans-Georg Moek mit Anastasia Yurchenko
Die Sonne steht schon tief an diesem Freitagnachmittag im November 2015, als im Büro von Anastasia Yurchenko das Telefon klingelt. In einem kurzen Gespräch bestätigt ihr Wassili Rastorguew aus dem 1.800 Kilometer entfernten Puschkin-Museum in Moskau, was sie zuvor nur zu hoffen gewagt hatte: Sie hat nicht nur einen weiteren Fall gelöst, ihren 62. Es ist womöglich der bedeutendste in ihrer beruflichen Laufbahn; bis heute. Sie klappt ihren Laptop zu und verlässt das Büro. Beim Italiener ganz nah am Sitz der Kulturstiftung der Länder bestellt sie einen Prosecco, ganz allein mit sich und dem Gefühl, das sie erfasst hat, weil ihr Bemühen und eine glückliche Hand sich zu diesem unerwarteten und unerwartet bedeutenden Erfolg gefügt haben.
Ihre Arbeit vergleicht Anastasia Yurchenko bisweilen mit der eines Profilers, eines jener kriminalistischen Fallanalytiker, die anhand von Spuren auf das Motiv und im Idealfall auf die Identität eines Täters schließen. So wie ein Profiler im wesentlichen Akten studiert, sichtet auch Yurchenko Akten und gleicht sie mit anderen Akten ab. Wenn die Indizien sich zu einer Hypothese verdichten, setzt sie sich mit den Beweisstücken auseinander. Seit mittlerweile zehn Jahren sucht die Kunsthistorikerin nach verlorenen Schätzen deutscher Museen, seit sechs Jahren nach Skulpturen und byzantinischer Kunst, die das Bode-Museum verlassen haben, als es noch Kaiser-Friedrich-Museum hieß. Darunter ein Bildnis aus der Hochrenaissance von keinem geringeren als Baccio Bandinelli (1488 –1560), dem bedeutendsten Bildhauer seiner Zeit in Rom und Florenz neben Michelangelo, von seinem Sohn Clemente Bandinelli (1534 –1555) erschaffen. Die Spuren des 1882 in Florenz erworbenen Terrakotta-Reliefs hatten sich 1945 im Berliner Friedrichshain verloren.
Nach dem Angriff der königlich-britischen Luftwaffe auf Berlin Ende August 1940 hatte Adolf Hitler persönlich den Bau von sechs Flakbunkern in der Hauptstadt angeordnet. Doch dienten die schon kurz nach ihrer Fertigstellung nicht mehr nur der Luftverteidigung. Als vom Herbst 1941 an die Berliner Museen ihre Bestände in Schlössern, Kellern oder Bergwerken auslagern, wandern zahlreiche Sammlungen in die Flakbunker am Zoo und im Friedrichshain. Anfang 1945 lagern im Friedrichshain Bestände der Gemäldegalerie, der Skulpturensammlung, der Antikensammlung, der Nationalgalerie, des Ägyptischen Museums, der Ethnographischen Sammlung, der numismatischen Sammlung, der Islamischen und der Byzantinischen Sammlung, aus der Kunstbibliothek, dem Schlossmuseum und dem Kupferstichkabinett. Um sie vor dem Zugriff der roten Armee zu schützen, hatte noch im März 1945 die Reichskanzlei angeordnet, die Flaktürme zu räumen. Dutzende Lastzüge hatten daraufhin – beladen mit Kunstgütern – Berlin in Richtung Süden verlassen. Zahlreiche Kunstschätze bleiben am Ende in Berlin zurück, so auch das Bandinelli-Relief.
Der Artilleriebeschuss des Flakturmes im Friedrichshain beginnt am 25. April 1945. Die ersten Verluste erleidet die Glasgemäldesammlung des Kunstgewerbemuseums, die durch eine in den ersten Stock abgefeuerte Granate fast komplett zerstört wird. Als am 2. Mai 1945 die Verteidigung des Flakbunkers aufgegeben wird, fällt er an die Rote Armee. Vieles von dem, was sich in den darauffolgenden Tagen dort abspielt, ist bis heute nicht aufgeklärt. Zwischen dem 5. und 18. Mai brennt es in dem Bunker zweimal, Teile der Decke stürzen herab. Zahlreiche Kunstwerke werden durch das Feuer verkohlt, verformt, zerbrochen, verglüht oder zerstört. Wie viele Kunstwerke aus dem unbewachten Bunker in diesen Tagen geraubt werden, kann nicht mehr rekonstruiert werden.
Dass das Relief von Baccio Bandinelli seinerzeit zerbrochen sein könnte und Teile davon im Depot in Berlin lagern, liest Anastasia Yurchenko im September des Jahres 2015 in der sowjetischen Transportliste 1338. Der Eintrag datiert auf den 14. August 1946, der Tag, an dem Mitarbeiter der Staatlichen Eremitage in Leningrad eine von 1593 Kisten öffnen und deren Inhalt dokumentieren, angekommen mit dem Militärzug 178/4090 – 4091 aus Berlin. Darin heißt es: „Selbstporträt des Baccio Bandinelli. – Terrakotta-Relief. Fragment. Im Gesicht die Lippen und ein Teil des Barts verbrannt. Italienische Schule des XVI. Jahrhunderts.“
Bereits ab 1943 plante die UdSSR, systematisch Kunstwerke aus Deutschland abzutransportieren – als Ausgleich für die durch die Wehrmacht in der Heimat vernichteten, verschleppten und verschwundenen Kulturgüter. Dafür werden eigens Kunsttrophäenbrigaden gebildet, Einheiten der sowjetischen Armee unter der Leitung von Kunsthistorikern und Altertumswissenschaftlern in Uniformen, ausgestattet mit Militärrang. Im Zusammenhang mit dem Einsatz dieser Brigaden werden in den Folgejahren über 20 Militärzüge mit Kulturgütern aus deutschen Städten in die UdSSR rollen. Hinzu kommen mehrere Zulieferungen zu weiteren Zügen und zwei Transportflüge aus Leipzig und Danzig. Ein gewaltiger logistischer Aufwand; am Ende werden rund 2,5 Millionen Werke Deutschland verlassen. Zuvor hatte das Kunstkomitee der Sowjetunion ebenfalls im Jahr 1943 mit der Erstellung sogenannter Äquivalentenlisten begonnen. Darin aufgeführt waren Kulturgüter aus den Sammlungen Deutschlands und seiner Verbündeten, ein vermeintlicher Gegenwert für die in der UdSSR zerstörte oder verschwundene Kunst. In der Liste „Besonders erforderliche Kunstwerke aus den Berliner Museen“ findet sich auf Position 33 – in der „ersten Linie westeuropäischer Bildwerke“, so später der damalige Direktor der Staatlichen Eremitage Joseph Orbeli (1887–1961) – zwischen Objekten von Michelangelo und Sansovino ein Werk, das von sowjetischer Seite als von besonderem Wert eingestuft und für die Sammlungen des Museums der Bildenden Künste in Moskau angefordert wird: das Relief des Baccio Bandinelli aus dem Kaiser-Friedrich-Museum.
Als Anfang Juli 1945 eine Trophäenbrigade den Flakbunker im Friedrichshain in Augenschein nimmt, notieren der Archäologe Vladimir Blavatzki und der Restaurator Michail Iwanow-Tschuronow: „Der von der Decke und den Wänden gefallene Putz hatte eine Schicht von 50-80 cm Dicke auf dem Boden gebildet. In manchen Räumen war der Boden mit einer 90 cm dicken Schicht brüchiger, weißer Asche bedeckt. In verschiedenen Räumen lagen oben auf diesen Haufen Porzellanstatuetten. Mit Hilfe der Soldaten haben wir sie alle zusammengelegt, konnten sie aber nicht einpacken, da wir keine Kisten hatten. Dann fingen der Archäologe und ich an, den Mörtelstaub bis zu einer Tiefe von zwanzig bis dreißig Zentimeter wegzukratzen. Wir fanden einige Statuen aus Ton. Der Archäologe bezeichnete sie als Terrakotten. Da es immer spannender wurde, begannen wir, uns in die Tiefen der Mörtelschicht vorzuarbeiten, und fanden kleine Scherben mit interessanten, in Schwarz und Braun gehaltenen Verzierungen. Mit dem typischen Archäologen-Instinkt griff Blavatzki in einen Spalt zwischen den Putzhaufen und fischte ein Tongefäß mit einer langen Tülle heraus. Er nahm es in beide Hände und fragte: ,Wissen Sie, wie alt dieser Topf ist?‘. ,Nein‘, antwortete ich. ,Dieser Topf wurde 2000 Jahre vor unserer Zeit angefertigt.‘ Mit der Entdeckung des Gefäßes war unsere Arbeit für diesen Tag beendet. Zwei Tage später kamen der Archäologe und ich mit Kisten und Arbeitern zurück und organisierten die eigentlichen Ausgrabungen. An diesem Tag holten wir circa fünfzehn Kisten mit antiken Gegenständen, mit Scherben von Gefäßen, Skulpturen und Traufen aus den Stucktrümmern.“
„In der dritten Etage befanden sich Skulpturen der Neuzeit aus Stein und Holz. […] Bei der Untersuchung wurde aus dem Bauschutt eine große Anzahl von Denkmälern der Antiken Kunst, vor allem der Zypriotischen, herausgenommen: Terrakottastatuetten, Protomen, Masken, kleine Altäre und Architekturteile, Tonvasen: einfache, bemalte und figurative, Gefäße aus farblosem und halbdurchsichtigem farbigen Glas, Bronzestatuetten, Geschirr, Gebrauchsgegenstände und Werke der neuen Skulptur. Ihre Gesamtzahl betrug bis zu 1.500 Gegenstände (40 Kisten). Eine genaue Anzahl der Gegenstände kann angesichts dessen, dass ein bedeutender Teil nur in Fragmenten, die ohne genaue Untersuchung schwer zu zählen sind, sowie vor allem verklebt vorliegen, nicht genannt werden.“
Die Bergungsarbeiten im Flakbunker Friedrichshain, regelrechte archäologische Ausgrabungen, beginnen jedoch erst im Dezember 1945. Zunächst war der Zoo-Bunker mit höchster Priorität und in aller Eile zwischen dem 13. Mai und 8. Juni 1945 ausgeräumt worden. Er lag im vorgesehenen britischen Sektor Berlins und wurde Anfang Juli 1945 leergeräumt der britischen Militärregierung überlassen. Was schließlich in der ersten Jahreshälfte 1946 im Friedrichshain geborgen und auf Militärzüge Richtung Sowjetunion verladen wird, sind vor allem brandgeschädigte oder fragmentierte Kunstwerke.
Im Dezember 1945 schreiben Andrej Belokopytow und Vladimir Blavatski über die bevorstehenden Arbeiten: „Die Untersuchung zeigte, dass es notwendig ist, die gesamte Brandstätte auseinanderzunehmen, wofür wir um Ihre Anweisung bitten. Die Fläche der bevorstehenden Ausgrabungen ist sehr groß: 500 – 600 m², die Sichtung des Mülls und die Entnahme der Gegenstände müssen sehr langsam vorgenommen werden. Da die Durchführung aller Arbeiten viel Zeit in Anspruch nehmen wird (einige Monate) erscheint es uns wünschenswert, dass zwei Archäologen zu dieser Arbeit herangezogen und zehn Mann als Arbeitskräfte vor Ort abgeordnet werden.“ Nach der Beendigung der Arbeiten fasst Blavatski zusammen, er habe mit seinem Kollegen um die 10.000 Gegenstände der antiken, westeuropäischen und angewandten Kunst gefunden und in 117 Kisten verpackt. Zusammen mit den Ausgrabungen vom Sommer 1945 sind es rund 11.500 Fundstücke und 157 Kisten, die aus dem Friedrichshain in die UdSSR abtransportiert wurden.
Der Verbleib des Bandinelli-Meisterwerkes war schon vorher von den Mitarbeitern des Bode-Museums nüchtern, aber eindeutig dokumentiert worden: In der Liste „der im Bunker Friedrichshain verbrannten Kunstwerke“, die sie noch 1945 verfasst haben.
2014 begibt sich Anastasia Yurchenko im Rahmen des Forschungsprojektes „Kriegsverluste deutscher Museen“, einer Initiative des Deutsch-Russischen Museumsdialogs, auf die Fährte der verlorenen Objekte aus dem Bode-Museum. In den kommenden Jahren wird sie eine von sechs Forscherinnen und Forschern sein, die sich mit den ungelösten Fällen deutscher Museen beschäftigen. Das Ziel: Klarheit über die Schicksale der als verloren geltenden Kunstwerke zu schaffen. Bis heute hat sie rund 550 Werke aus der byzantinischen Sammlung und 130 aus der Skulpturensammlung identifiziert.
Die Arbeit gleicht einem Memoryspiel mit zusammengehörigen, aber ungleichen Bildern. Allein bei der Skulpturensammlung geht es darum, den knapp 2.000 Kunstwerke umfassenden Verlustkatalog, die Bestandslisten des Hauses von vor dem Krieg und die aktuellen Bestandskataloge mit den Informationen über die in die UdSSR abtransportierten Kunstwerke abzugleichen: Abertausende von Werken auf „Transportlisten“, die in Moskau oder Leningrad verfasst wurden beim Auspacken von Tausenden von Kisten mit teilweise in viele Bruchteile zerstückelten Kunstobjekten. Dazu kommen Sitzungsprotokolle über die Weiterverteilung und andere Dokumente. „Bisweilen geht es darum, eine Phantasie dafür zu entwickeln, was der Kollege vor 70 Jahren gemeint haben könnte“, sagt Yurchenko. Anders als die Berliner Kataloge enthalten die sowjetischen Transportlisten keine Fotos. „Die Beschreibungen sind manchmal schlecht lesbar, subjektiv, uneindeutig oder fehlerhaft. Ich sehe diese Dokumente als Botschaften, die damals für mich aufgeschrieben wurden und die ich nur verstehe, wenn ich mich jeweils in die Welt des damaligen Betrachters hineinversetze, ein Rätsel löse. Oft war ein Kunstwerk beschädigt oder fragmentiert. In den kriegszerstörten sowjetischen Museen mangelte es drastisch an Zeit, Raum und primär an Personal. Der Verfasser hat vor 70 Jahren beschrieben, was er persönlich, subjektiv gefärbt, in dem Objekt sah.“
Einmal hat sie eine ins Puschkin-Museum in Moskau transportierte Grabstele identifiziert, die folgendermaßen dokumentiert worden war: „Darstellung einer weiblichen Figur in Orantenhaltung und Darstellung zweier Fische auf hohen Sockeln an den Seiten – Madonna freut sich über zwei Fische“ (Abb. S. 37). Nachdem sie zuvor immer wieder die Fotos der vermissten Kunstwerke durchgegangen war, konnte sie die Darstellung als Gottesmutter mit Kerzenleuchtern identifizieren, jenes Relief, das von dem deutschen Diplomaten Gustav Travers (1839 –1892) einst in Kairo gekauft worden und das dann in die Ägyptische Abteilung des Kaiser-Friedrich-Museums gewandert war. Der Mitarbeiter im Puschkin-Museum hatte die Kerzen mit Fischen verwechselt, die dreifüßigen Kerzenständer offenbar für Fischschwänze und die kleinen Vögel auf beiden Seiten für Fischköpfe gehalten.
Bei dem genannten Vermerk in der Akte 1338 sowjetischer Provenienz, der sie auf die Spur von Baccio Bandinelli führte und in dem fälschlicherweise von einem „Selbstbildnis“ die Rede ist, handelte es sich, so vermutete sie, um Teile des im Verlustkatalog des Bode-Museums dokumentierten „Bildnis Baccio Bandinelli (Relief), Clemente Bandinelli, Florenz, Mitte 16. Jahrhundert, gebrannter Ton, H.74, B.47“, das 1958 aus der Sowjetunion an die Skulpturensammlung zurückgegeben worden war.
Rund 1,5 Millionen der aus Deutschland abtransportierten Kunstwerke hatte Moskau in den 50er-Jahren an die DDR zurückgegeben. So waren mit dem Pergamon-Altar, der Dresdner Gemäldegalerie und dem Grünen Gewölbe auch Bestände des Bode-Museums nach Deutschland zurückgekehrt. Darunter unversehrte Kunstwerke, aber auch Teile von Kunstwerken – Scherben oder Fragmente –, die bei Transport oder Kriegshandlungen Schaden genommen hatten.
Ihre Entscheidung, es mit der Zerstörung des Reliefs von Baccio Bandinelli nicht auf sich beruhen zu lassen und sich auf die Suche nach den fehlenden Teilen zu machen, erklärt Yurchenko mit der von ihr vermuteten guten Erkennbarkeit des Motivs und der Größe der Stücke: Es wäre ein vergleichsweise leicht zusammensetzbares Puzzle, vorausgesetzt, die restlichen Teile würden noch existieren und ließen sich finden. Die Teile, die noch fehlen, sind die Schulter und der Rest des Gesichts mit der Stirnpartie, weiß sie, zumal sie das unversehrte Kunstwerk aus der Verlustdokumentation des Bode-Museums kennt. Die Hoffnung, ein Meisterwerk rekonstruieren und zusammenzufügen zu können, hat sie damals beflügelt.
Anastasia Yurchenko begibt sich auf die Suche nach den Puzzlestücken – ins Depot des Bode-Museums. Für Yurchenko ist es so etwas wie ein feierlicher Akt, dort mit weißen Handschuhen die beiden Fragmente in die Hand zu nehmen. Sie wurden einst im Friedrichshain in eine Kiste gepackt mit einem Sack mit Beinen, Flügeln und Fingern aus Marmor und weiteren nicht erkennbaren Fragmenten, die noch immer auf ihre Identifizierung warten. Mit ihrem Handy fotografiert sie die beschädigten Stücke. Ihre Mail an die Staatliche Eremitage in St. Petersburg ist nur insofern erfolgreich, als dass man ihr mitteilt: Es handelt sich um die restitutierten Objekte, weitere Teile lassen sich jedoch bei flüchtiger Prüfung nicht finden.
Aus ihrer Erfahrung in dem Forschungsprojekt weiß Anastasia Yurchenko, dass es durchaus vorkommen konnte, dass Fragmente ein und desselben Werkes in unterschiedliche Museen transportiert wurden, wo sie sich teilweise noch heute befinden. Die Dauer der Ausgrabungsarbeiten im Friedrichshain, die Unmöglichkeit, verteilte Stücke gedanklich zu einem Gesamtbildwerk zusammenzufügen, der Wechsel von Archäologen und Restauratoren während der monatelangen Bergung könnten Gründe dafür sein. Die Teile des Bandinelli-Reliefs könnten durch die Explosion im Flakbunker Friedrichshain im Raum verteilt worden sein, und während der regelrecht archäologischen Ausgrabung erst zu verschiedenen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Schichten gefunden worden sein. Die Transporte aus dem Friedrichshain, auch das weiß Yurchenko, hatten in der Regel zwei Destinationen: die Eremitage und das Puschkin-Museum in Moskau.
An jenem Freitag im November 2015 verzichtet Anastasia Yurchenko auf eine Mail. Sie schickt das eilig im Depot mit dem Handy geknipste Foto an Wassili Rastorguew, den Kunsthistoriker am Puschkin-Museum. Dann telefoniert sie hinterher. Zusammen mit ihrem Gegenüber in dem Forschungsprojekt hatte sie gerade begonnen, einen Vortrag zu erarbeiten über die ersten Erfolge der gemeinsamen Arbeit, die bald in der Akademie der Künste in Berlin vorgestellt werden sollten.
Am 27. September 1946, so der Aktenvermerk, den Yurchenko ihrem Kollegen telefonisch durchgibt, hatten Mitarbeiter des Puschkin-Museums eine Kiste aus Deutschland mit „musealen Wertgegenständen“ entpackt und schriftlich festgehalten: „Tafel mit Reliefbrustdarstellung eines Mannes; Puschkin-Museum, Verwaltungsnummer .8371; fragmentierter Zustand, in 6 Teile zerbrochen, außerdem fehlen einige Teile, brandgeschädigt.“ Der Mitarbeiter des Puschkin-Museums, der die Fragmente 1946 entpackt hat, die mit den Funden im Depot des Bode-Museums das Relief wieder komplettieren würden, konnte sie offenbar nicht dem italienischen Meister zuordnen.
Yurchenko bittet Rastorguew, im Depot nachzuschauen, ob es sich um die passenden, fehlenden Fragmente des Bildnisses Baccio Bandinellis handeln könnte. Der Rückruf erfolgt noch am Nachmittag um kurz nach Vier.