Nähe und Einigkeit

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Hans-Georg Moek hat in Moskau mit Zelfira Tregulova, der Generaldirektorin der Tretjakow-Galerie, über die große Anzahl an Berührungspunkten zwischen deutscher und russischer Kunst gesprochen

Hans-Georg Moek: Frau Tregulova, wie würden Sie einem Menschen, der in der russischen Museumslandschaft nicht wirklich zu Hause ist, die Tretjakow-Galerie – den größten Museumskomplex russischer Kunst – erklären? Welchen Sammlungsbestand besitzt sie und welche Rolle hat sie in der internationalen Museumswelt?

Zelfira Tregulova: Die Tretjakow-Galerie ist vielleicht das demokratischste aller großen Kunstmuseen in Russland und es ist das einzige Museum unter allen bedeutenden russischen Museen, das weder von einem Staat, noch von einem Herrscher gegründet wurde, sondern von einer Privatperson, nämlich dem Moskauer Kaufmann Pawel Tretjakow. Tretjakow hat sich von Anfang an die Aufgabe gestellt, keine eigene persönliche Sammlung zu schaffen, sondern seine Mission war es, das erste nationale Kunstmuseum in Russland zu schaffen, das die nationale Schule zeigt.

Ich denke, dass es das Demokratische an dem Museum ist, zu dem wir jetzt zurückkehren: Wir versuchen, die Besucherinnen und Besucher in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu stellen. Und Projekte zu machen, die es dem Betrachter ermöglichen, tief einzutauchen in die russische Kunst und in den entsprechenden Kontext jener historischen Epoche, deren Kunst sie betrachten. Wir versuchen, modern zu sein, ohne oberflächlich zu werden.

Man kann im Grunde sagen: Wer sich mit russischer Kunst befassen möchte, von der Ikonenmalerei bis in die Gegenwart, der muss hierherkommen?

Ja natürlich! Unsere Sammlung hier in der Tretjakow-Galerie ist mit der Sammlung des Russischen Museums vergleichbar. Wir haben hier die größte Sammlung russischer Kunst in der russischen Museumswelt. Und im riesigen Gebäude der neuen Tretjakow-Galerie am Krimwall zeigen wir die größte Ausstellung russischer Kunst des 20. Jahrhunderts, angefangen vom Schwarzen Quadrat von Malewitsch bis hin zu den modernen Künstlern, die heute prägend sind für die Weiterentwicklung der Kunst in unserem Land.

Zu unserer Rolle in der internatio­nalen Zusammenarbeit: Ich bin der Meinung, dass die russische Kunst in der Welt verkannt wird. Als ich vor viereinhalb Jahren Direktorin der Tretjakow-Galerie wurde, habe ich mir zum Ziel gesetzt, mehr von der russischen Kunst in der Welt und in Europa zu zeigen. Wir sehen jetzt die Ergebnisse davon. Inzwischen werden wir nicht mehr nur wegen der Kunst der Avantgarde oder des Schwarzen Quadrats, Chagall oder Kandinsky kontaktiert. Heute haben wir auch Anfragen wegen Werken der russischen Ikonenmalerei und der Malerei der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Ich denke, die Unkenntnis über die russische Kunst und die Unfähigkeit, sie zu bewerten – was viel damit zu tun hat, dass es in den europäischen und amerikanischen Kunstsammlungen einfach keine  russische  Kunst  gibt  –,  gehören langsam der Vergangenheit an. Wir unternehmen viel für die Verwirklichung von Ausstellungsideen, die ausländische Museen und große Galerien uns vorschlagen. So zum Beispiel die Ausstellung zu Repin, die jetzt in Paris und in Helsinki gezeigt wird. Oder eine Ausstellung, die der deutschen und russischen Romantik gewidmet ist und sowohl in der neuen Tretjakow-Galerie als auch in Dresden gezeigt werden wird.

Seitdem Sie hier am Museum sind, ist die Tretjakow-Galerie eines der führenden Häuser in dem Bemühen, russische Kunst im Ausland zu zeigen. Was ist Ihre Motivation, welche Vision steckt dahinter?

Nun, ich denke, die erste Motivation war, dass ich mich sehr gut erinnere, wie beispiellos in den 90er-Jahren und zu Beginn der 2000er-Jahre der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen russischen Museen und Deutschland waren.

In dieser Zeit wurde eine große Anzahl von Ausstellungen veranstaltet, die zu Legenden und Mythen wurden und in die Geschichte der Kunstausstellungen eingingen. Wie zum Beispiel die „Große Utopie“ in der Frankfurter Schirn oder „Berlin-Moskau Moskau-Berlin 1950 –2000“ im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Dann begann eine Zeit, in der diese Kontakte stark abnahmen. Und da ich seinerzeit an fast allen Projekten für Deutschland gearbeitet habe, wollte ich diese Kontakte erneuern, als ich Direktorin wurde.

Zu diesem Zweck bin ich nach Berlin gefahren und traf mich unter anderem mit Frau Dr. Kaiser-Schuster, der Projektleiterin „Deutsch-Russischer Museumsdialog“ bei der Kulturstiftung der Länder, und der Geschäftsführung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Ich hatte auch Gespräche mit der Nationalgalerie in Berlin. Und dann, als Marion Ackermann Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden wurde, haben wir mit ihr über eine gemeinsame Ausstellung nachgedacht, die in Dresden und Moskau gezeigt werden sollte. Die Ausstellung sollte aber nichts mit den Themen zu tun haben, die bereits in den großen Ausstellungen gezeigt worden sind. Und so kam es, dass wir uns dem 19. Jahrhundert zuwandten, der Epoche der Romantik. Zumal Dresden das wichtigste Zentrum für die Entwicklung der deutschen Romantik ist, sich die herausragende Kunstsammlung der Romantik im Albertinum in Dresden findet und zudem unsere eigene Sammlung wahrscheinlich eine der besten Sammlungen der russischen Romantik ist. Auch für mich selbst ist die Kunst der deutschen Romantik von großem Interesse. Ich habe mich während meines Studiums damit beschäftigt und meine Dissertation über die deutsche Romantik geschrieben.

Niemals zuvor wurden Kunstwerke der deutschen und der russischen Romantik zusammen gezeigt, zumal bereits genügend Zeit vergangen ist seit der Epoche der Romantik. Und so, nach einer grundlegenden Zäsur des allgemeinen Interesses an der Romantik, dachten wir, dass es hochaktuell sein würde, diese Kunst einmal mit dem Blick der heutigen Zeit zu betrachten. Daher soll jeder Ausstellungsabschnitt mit einer zeitgenössischen Äußerung zu Themen, die die Künstler der Romantik beschäftigten enden, einem Zitat oder einer Aussage eines deutschen oder eines russischen Künstlers. Das zeigt, wie außerordentlich aktuell die Kunst der Romantik heute ist und wir beginnen zu verstehen, dass das, was heute in der modernen Kunst als metaphysisch, absolut und universell gilt, eigentlich auf jene Ideen zurückgeht, die in der Zeit der Romantik entstanden sind.

Im Oktober 2020 werden hier in der Tretjakow-Galerie romantische Maler hängen, nicht nur aus Dresden, sondern auch aus anderen deutschen Häusern und im Jahr 2021 dann in Dresden. Diese Kooperation kam auch durch die Beratungsleistung der Kulturstiftung der Länder zustande – die Initiative ging von Ihnen aus. Warum dieses Interesse an Deutschland, an deutschen Museen, an einer Kooperation mit deutschen Häusern?

Zum einen ist es die unglaubliche Effektivität und Produktivität der Kontakte, die wir schon in den 90ern und zu Beginn der 2000er-Jahre aufgebaut hatten. Auf der anderen Seite ist die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts ein sehr interessantes Phänomen, das in Russland völlig unbekannt ist, mit Ausnahme der Werke von Caspar David Friedrich, die von Wassili A. Schukowski für den Zaren erworben worden waren und die derzeit in der Eremitage gezeigt werden.

Auch die russische Kunst der Romantik ist für eine gewisse Zeit aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwunden. Ich bin der Meinung, dass dies eine absolut goldene Epoche in der Entwicklung der russischen Kunst war, die in Europa gänzlich verkannt und völlig unbekannt ist. Es ist eine wunderbare Möglichkeit, hier in Russland eine der großartigsten Epochen in der Entwicklung der deutschen Kultur vorzustellen, die einen außerordentlich starken Einfluss auf die Entwicklung der russischen Kunst hatte. Und in diesem bedeutenden Dresdener Museum die Kunst großartiger russischer Künstler zu zeigen. Wie zum Beispiel Alexander Iwanow, Orest Kiprenski, Alexei Wenezianow – Künstler, die keiner geringeren Aufmerksamkeit würdig sind und die für die Entwicklung des Selbstverständnisses der Kunst des 19. Jahrhunderts nicht weniger getan haben als ihre Zeitgenossen in Frankreich. Wiederum hat die deutsche Kunst der Romantik enorm viel dafür getan, dass die Kunst deutscher Künstler wie Anselm Kiefer, Gerhard Richter, Georg Baselitz in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangten.

Warum denken Sie, sollten die Deutschen sich mit russischen Romantikern beschäftigen, russische Kunst kennen lernen und umgekehrt? Welchen gesell­schaftlichen Wert hat diese Vermittlung von Kunst?

Die deutsche Philosophie und die Philosophie der Epoche der Romantik und die Philosophie der Kunst der Epoche der Romantik hatten einen enormen Einfluss auf die russische Kunst. Die deutsche Kunst war vor allem jenen russischen Künstlern bekannt, die in Rom lebten und arbeiteten, denn dort arbeiteten auch viele deutsche Künstler. Sie alle suchten Inspiration bei den gleichen Quellen.

Im Zeitalter der Romantik war in Russland die Neogotik in Mode, die auch mit Deutschland assoziiert wurde. Es existierte eine Mode für altertümliche deutsche Mythen und mittelalterliche Literatur. Die Kunst der russischen und der deutschen Romantik nebeneinander zu präsentieren, veranschaulicht, dass diese zwei Länder, die sich im 19. Jahrhundert in gewisser Weise an einer Peripherie künstlerischer Entwicklung befanden, im Unterschied zu Frankreich, sich ein außerordentliches Interesse für den Sinn, den Wesenskern und den Inhalt bewahrt haben. Dies zu zeigen, ist unwahrscheinlich interessant, da sich die Leute heute beim Analysieren von Kunst sehr häufig auf formale Aspekte fokussieren und weniger über das sprechen, was in der Kunst wirklich das Wesentliche ist, nämlich ihr Wesenskern,  ihre  spirituelle  Botschaft,  ihr Inhalt.

Wir möchten zeigen, dass die Kunst der deutschen und der russischen Romantik nicht einfach nur historisches Interesse ist. Das, was diese Künstler schufen, ist für uns heute enorm wichtig. Wir, die danach streben, den Wesenskern freizulegen und die universelle große Idee, unter deren Einfluss wir stehen, zu erfassen und zu verstehen. Die Kunst der Romantik ist der Versuch, diese großen Auffassungen und Ideen visuell mitzu­teilen und weiterzugeben, die auf dem Reichtum der weltweiten Kunst basieren.

Die deutsche Romantik ist eine der deutschesten Entwicklungen der Kunst in Deutschland. Und die russische Romantik ist die goldene Epoche der Entwicklung der russischen Kunst. Wenn wir über die ‚Deutschheit’ der deutschen Kunst und die ‚Russischheit‘ der russischen Kunst sprechen, dann ist das in erster Linie die Epoche der Romantik. Und die nationale Identität hat sich in dieser Epoche enorm stark manifestiert. Zudem haben beide Künste an universelle, wesentliche, allgemeingültige Ideen appelliert. Und diese ungewöhn­liche Kombination einer nationalen Herangehensweise, einer nationalen Idee mit dem Versuch, jene Fragen zu stellen, die die ganze Menschheit beschäftigt, ist das, was heute unwahrscheinlich aktuell ist an der Kunst der Romantik in Russland und auch in Deutschland.

Also ist diese Kooperation mit Dresden auch ein Kind des Deutsch-Russischen Museumsdialoges, der das mit auf den Weg gebracht hat. Wie wichtig ist dieser deutsch-russische Museumsdialog in Ihren Augen und haben Sie möglicherweise auch An­liegen oder Wünsche an den Deutsch-Russischen Museumsdialog mit neuen Projekten oder weiteren Initiativen?

Ich glaube, dass die Herangehensweisen der russischen und deutschen Künstler sehr ähnlich sind. Außerdem gab es zwischen unseren Ländern über einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten sehr enge Interaktionen.

Es gab eine große Anzahl an Berührungspunkten. Und, ich bin der Meinung, dass gerade jetzt, wo die politischen  Beziehungen  zwischen  den Ländern höchstwahrscheinlich weniger günstig sind als vor einigen Jahrzehnten, die Rückkehr zu diesem künstlerischen Dialog und zur Diskussion über Kunst eine außergewöhnliche Nähe und Einigkeit innerer Positionen in der deutschen Kunst und in der russischen Kunst demonstriert. Die Kunst der Romantik ist ein erstaunliches Beispiel für die Kombination der Bewusstwerdung mächtiger nationaler Identität und dem Versuch wesentliche globale Fragen zu stellen und zu lösen, die die Menschheit damals interessierten und die uns auch heute noch interessiert.

Vielen Dank für das Gespräch!