Pompeji gerettet

Als Sohn des Berliner Hofmalers und Akademieprofessors Carl Joseph Begas d. Ä. war Oscar Begas (1828 –1883) das künstlerische Talent in die Wiege gelegt worden: Für eine Karriere als Maler prädestiniert, betätigte er sich schon als Kind aktiv im väterlichen Atelier. Ab 1847 besuchte er regelmäßig die Akt- und Malklassen der Akademie. Gemeinsam mit seinem Vater unternahm er 1847 eine Reise nach Venedig und Mailand. Rom, den Sehnsuchtsort und Anziehungspunkt für deutsche Künstler des 19. Jahrhunderts, hatte der Vater bereits besucht – der Filius kam zunächst nicht in den Genuss.

Als 1852 von der Königlich Preußischen Akademie der Künste der Staatspreis für Geschichtsmaler ausgeschrieben wurde, der dem Gewinner ein dreijähriges Romstipendium in Aussicht stellte, witterte der 24-Jährige seine Chance und bewarb sich. Insgesamt zehn Konkurrenten, Künstler die nicht älter als dreißig Jahre sein und an den Akademien in Berlin, Düsseldorf oder Königsberg ausgebildet sein mussten, wurden zu dem streng reglementierten Wettbewerbsverfahren zugelassen. Die Teilnehmer mussten zunächst innerhalb von zwölf Stunden eine Kompositionsskizze zu einem gesetzten Thema entwerfen und hatten anschließend sechs Tage Zeit, um einen gemalten Akt anzufertigen. In der zweiten Runde – für die sich fünf Teilnehmer qualifizierten – wurde die Hauptaufgabe gestellt: Zunächst sollte eine Modellskizze, dann eine großformatige, in Öl ausgeführte Komposition zum Thema „Flucht aus Pompeji“ produziert werden. Begas brannte für den Stoff: Schon als Kind hatte er sich für Pompeji interessiert und Edward Bulwer-Lyttons historischen Roman „The Last Days of Pompeii“ aus dem Englischen übersetzt. Das Thema bot zudem Gelegenheit, seine künstlerischen Fähigkeiten anhand einer dynamischen Komposition optimal zu präsentieren. Innerhalb der nächsten dreizehn Wochen arbeitete er fieberhaft hinter verschlossenen Türen in einem von der Akademie zur Verfügung gestellten Atelier an einem Gemälde, das all seine früher entstandenen Werke in den Schatten stellen sollte. Der Bildaufbau war gewollt kompliziert und vereinte sämtliche potenziellen Fallstricke für Maler, die Begas gekonnt umschiffte: Körperverdrehungen und perspektivische Verkürzungen, ein großes Spektrum an Posen und exaltierter Mimik der Protagonisten, flatternde Draperien verschiedener Texturen und ein komplexes Spiel von Hell und Dunkel mit dem lavaspeienden Vulkan als bildmächtigem Eyecatcher – das alles löste der junge Künstler mit Bravour und technischer Finesse.

Die Entwürfe der Konkurrenten sind nicht überliefert, aber mit zehn von siebzehn gültigen Stimmen der Senatsmitglieder für das Gemälde mit der unten prominent aufgetragenen Startnummer Sieben ging Begas souverän als Sieger aus dem Wettbewerb hervor. Die Kunstsammlung der Akademie der Künste übernahm das Gemälde in ihre Sammlung – und am 15. Oktober, dem Geburtstag des Königs, wurde Begas der begehrte Preis verliehen. Bald darauf brach er in Richtung Italien auf. Zwar war das Stipendium prestigeträchtig, aber mit 500 Talern pro Jahr nur mäßig vergütet – ehemalige Pensionäre hatten sich bereits bei der Akademie beschwert, dass von der Summe „Wohnung, Unterhalt und Modellkosten“ nicht zu bestreiten wären. In Abwesenheit von Oscar engagierte sich Begas senior, der sich während der Konkurrenz dezent im Hintergrund gehalten halten hatte, aktiv für die Belange seines Sohnes und erwirkte schließlich eine Verkürzung der Aufenthaltsdauer auf zwei Jahre bei gleichhoher Zuwendung. Die Akademie erwartete von ihren Stipendiaten, dass diese die Zeit in Italien „gewissenhaft“ nutzten und nicht nur fleißig an eigenen Werken arbeiten, sondern auch die Schöpfungen der Antike und der alten Meister studierten und Skizzen anfertigten, die nach ihrer Rückkehr in die Heimat als Inspirationsquellen dienen konnten.

In Oscars Werken ist die Auseinandersetzung mit italienischen Vorbildern evident. Bald zeigte sich zudem, wie sehr er sich für die auch bei den kunstaffinen Berlinern beliebten italienischen Sujets begeisterte. Für die Akademieausstellung 1854 sandte er drei Gemälde aus Rom nach Berlin: Ein Mädchen mit Orangen, Landsleute aus der Gegend von Albano (Berlin, Alte Nationalgalerie) und eine heute verschollene, wahrscheinlich im Krieg zerstörte Kreuzabnahme, die Publikum und Jury begeisterte, dem Künstler die goldene Preismedaille einbrachte und seinen Erfolg manifestierte. Begas nutzte den Italienaufenthalt auch, um sich selbst vor Ort ein Bild von Pompeji und den Ausgrabungen zu machen. In einem Brief an seine Verlobte Marie-Elise Beerend, der sich als Depositum im Begas-Haus in Heinsberg erhalten hat, beschreibt Begas seine Eindrücke: „Es hat einen eigenthümlichen Reiz, so klar in die jahrhunderte alte Vergangenheit zu blicken, den alten Römern so in das Innere ihrer Häuser zu gucken. Etwas Spielzeug artig kam mir doch die ganze Stadt vor, alles ist so klein eingerichtet, Straßen, Läden, selbst Tempel, daß es kaum aussieht wie für ausgewachsene Menschen berechnet. Ich nun ganz besonders hätte nicht in Pompeji wohnen dürfen, ich hätte mir an jedem Thürbalken den Kopf gestoßen.“

Das Gewinnerbild überdauerte die nächsten Jahrzehnte in der Akademie, wo es anderen Künstlern zu Studienzwecken zur Verfügung stand. 1926 entlieh die unter Raumnot leidende Akademie der Künste zwei repräsentative Gemälde – neben Begas’ Flucht aus Pompeji auch die großformatige Komposition „Achilles’ Trauer um Patroklos“, mit der Franz Heynacher 1878 den Rompreis gewonnen hatte – an die Berliner Staatsbibliothek als Wandschmuck für die Dienstwohnung des Generaldirektors. Während des Zweiten Weltkriegs wurden diese Werke nicht zusammen mit den Beständen der akademischen Kunstsammlung ausgelagert. Sie verblieben in der Staatsbibliothek, bis sie 1963 als Depositum an die Alte Nationalgalerie überwiesen wurden. Da die Gemälde durch Kriegseinwirkung und Verlagerung schwer beschädigt waren, konnten sie nicht öffentlich präsentiert werden, sondern verschwanden für weitere vierzig Jahre im Depot. Erst 2008 kehrten die beiden invaliden Werke in die Akademie zurück. Eine erste Gelegenheit, Begas’ Gemälde nach 90 Jahren wieder öffentlich zu zeigen, bot sich 2018 im Rahmen der Ausstellung „Entfesselte Natur“ in der Hamburger Kunsthalle. Neben weiteren eindrucksvollen Darstellungen von Vulkanausbrüchen und anderen (Natur-)Katastrophen wurde das Gemälde ohne Rahmen, unrestauriert, also mit Löchern, Kratzern, Farbverlusten und Sicherungspflastern, präsentiert. In der Ausstellung wirkte es als Sinnbild einer doppelten Katastrophe – der thematisch im Bild präsenten und, sinnbildlich, der des Krieges.

Eine Zuwendung des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder ermöglichte es, das Gemälde im Anschluss an die Ausstellung durch Barbara Haussmann restaurieren zu lassen. Die Restaurierung gestaltete sich aufgrund der vielfältigen und gravierenden Schadbilder äußerst komplex und ging mit einer detaillierten technischen Analyse und Dokumentation einher. Auch gelang es mit Hilfe von Olaf Lemke, einen passenden antiken Rahmen für das Gemälde zu finden, der, von ihm selbst restauriert, das Werk perfekt ergänzt. Ende September konnte das konservierte Gemälde im Rahmen einer Abendveranstaltung am Pariser Platz mit einem Vortrag des Begas-Experten Wolfgang Cortjaens erstmals im restaurierten Zustand öffentlich präsentiert werden. Für die Kunstsammlung der Akademie ist mit der Restaurierung nicht nur ein bedeutendes Werk, sondern auch ein anschauliches Stück Akademiegeschichte zurückgekehrt: Sie hat ein Werk zurückerhalten, das exemplarisch ein eindrucksvolles Schlaglicht auf die „Concurrenz“ des Jahres 1852 wirft und die Praxis der Romwettbewerbe vor Augen führt. Archivalien und Fotografien aus dem Historischen Archiv der Akademie und der Archivabteilung Bildende Kunst verorten das Werk in der Biografie des Künstlers, in der Akademiegeschichte und der Kunstszene des preußischen Berlins. Die dramatische Historie des Begas-Werkes fand somit ein Happy End. Der Achill auf Heynachers preisgekröntem Gemälde von 1787 wird bis auf weiteres im Depot trauern müssen – ebenfalls in einem doppelten Sinn: Denn wie so viele im Krieg stark beschädigte Werke, die noch heute in deutschen Museen eingelagert sind, wartet das Gemälde darauf, mithilfe einer Restaurierung zu neuer Schönheit erweckt und der Öffentlichkeit zurückgegeben zu werden.