Schreiben als Antwort auf die Welt

Begonnen hat Peter Handke (*1942) sein umfangreichstes Werk im Jahr 1975. Bis 2015 ist es auf mehr als 33.000 Seiten angewachsen, ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. Die Rede ist von seinen Notizbüchern. Obwohl der Autor Auszüge aus seinen inzwischen mehr als 219 Notizbüchern bereits in sechs Bänden publiziert hat – der letzte erschien unter dem Titel Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007– 2015 –, ist der größte Teil bis heute unveröffentlicht. Seit kurzem können die in den Jahren 2007 und 2017 erworbenen Notizbücher im Deutschen Literaturarchiv Marbach eingesehen werden.

Ihr Umfang schwankt zwischen 40 und 300 Seiten; ihr Format ist niemals größer als DIN A6, so dass sie bequem in eine Jackentasche passen. Das äußere Erscheinungsbild wechselt von Buch zu Buch: Neben Pappeinbänden gibt es solche aus Leinen oder Leder, gelegentlich benutzte der Autor auch Spiralblöcke oder Vokabelhefte; in einigen Fällen ist der Einband mit Postkarten beklebt, mit geprägten Initialen versehen oder mit Ölfarben übermalt. Handke schreibt seine Notizbücher oft im Freien, unterwegs oder im eigenen Garten. In den letzten Jahren hat er zusätzlich zu dem üblichen Notizbuch oft noch ein kleinformatiges bei sich, in das er ausschließlich aphorismenartige Merksätze einträgt.

Wer erwartet, in den Aufzeichnungen von Peter Handke spektakuläre Aufschlüsse über sein Privatleben oder die Begleitumstände seines Lebens als öffentliche Person zu finden, wird enttäuscht. Anders als jene Tagebuchschreiber, die als Hilfe für die eigene Erinnerung, zur späteren Analyse oder zur Hebung des Selbstwertgefühls ihr Intimleben ausbreiten, Vorgänge der Politik oder des Literaturbetriebs kommentieren und von Begegnungen mit prominenten Zeitgenossen berichten, spart Handke diese Themenbereiche nicht erst im Druck, sondern bereits in seinen handschrift­lichen Aufzeichnungen nicht vollständig, aber doch sehr weitgehend aus. Er notiert nur, was ihm literarisch formulierbar  und  gegebenenfalls  auch  publizierbar erschien. Dabei folgt er keinem Plan, das Schreiben soll ihn vielmehr für die Zufälle des Tages öffnen: „Nichts mehr erwarten, nur noch möglichst aufmerksam die Tage verbringen.“ Das Training der Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit wird zum Hauptzweck. „Es handelt sich nicht darum, ein Erlebnis zu speichern, für später, sondern allein, die Tage zu verbringen (carpe diem).“ Im Vorwort des ersten veröffentlichten „Journals“ nennt er seine Aufzeichnungen „Reportagen“ von „Sprachreflexen“ auf bestimmte „Bewusstseins-Ereignisse“, die durch ihre Auswahl und durch die objek­tivierende Reflexionsform von „jeder Privatheit befreit und allgemein“ geworden seien. Demnach geht es nicht um die bloße Wiedergabe des täglichen Bewusstseinsstroms, vielmehr um Momentaufnahmen, die poetische Gültigkeit beanspruchen können. Dabei sind die Themen weit gefächert: Neben Protokollen von Tagesereignissen und Träumen finden sich Bildbeschreibungen und Naturbeobachtungen, Notizen zu Reisen und Vokabellisten, aber auch Aufzeichnungen zu Büchern und Stücken, an denen er parallel arbeitet. Ihre Vielfalt und Fülle machen die Notizbücher für jede Beschäftigung mit seinem Werk und seiner Person zu ebenso unerlässlichen wie unerschöpflichen Quellen.

Handke schreibt in seine Notizbücher durchweg mit der Hand. An zahlreichen Stellen wird der Text durch Zeichnungen unterbrochen: Zu sehen sind Personen, Landschaften, Steine, Pflanzen und Tiere, Gebrauchsgegenstände und Gebäude, aber auch Schriftzeichen und Ornamente. Gelegentlich finden sich zwischen den Seiten auch eingelegte Pflanzen, Pilze oder Vogelfedern. Auch von Vogelspuren zeigt sich Handke immer wieder fasziniert. Im Juni 1980 zeichnet er die „Schrift der Vogelspuren“ am Boden einer Pfütze auf einem Feldweg im Morzger Wald bei Salzburg. Als natürliche Zeichen laden Fußabdrücke zur Deutung ein, man fühlt sich herausgefordert, durch geduldiges Betrachten eine Vorstellung davon zu gewinnen, wer oder was sich wo und auf welche Weise bewegt hat. Handkes Abbildungen sind Zeichen solcher Zeichen. Ihm geht es aber offensichtlich nicht darum, ihre Bedeutung zu entschlüsseln. Gerade weil er auf jegliche Interpretation verzichtet, wirken die Spuren umso authentischer und rätselhafter. So wie Schrift­zeichen wirken können, wenn man sie nicht „auto­matisch“ liest, sondern behutsam entziffert und dabei immer neue Beziehungen zwischen wahrnehmbaren Zeichenkörpern, Vorstellungen und Wirklichkeiten entdeckt. Diese Art des Entzifferns ist ein Ideal des Autors Handke, der sich in diesem Sinn immer in erster Linie auch als Leser versteht.

So wundert es nicht, dass sich Vogelspuren auch auf dem Schutzumschlag eines der wichtigsten Bücher von Peter Handke finden. Den Entwurf dazu zeichnet er im Mai 1994 unmittelbar nachdem er das Manuskript zu Mein Jahr in der Niemandsbucht abgeschlossen hatte, in sein Notizbuch. Seine Aufmerksamkeit gilt jenen Ereignissen, die im Schatten der großen Welt­geschichte meist übersehen werden. Beim Warten im Busbahnhof von Bratunac an der Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien zeichnet er im Februar 2003 Spuren von Tauben und Spatzen, die sich im Schnee mit Schuhspuren kreuzen.

Eine Bestätigung dafür, dass sich das normalerweise Unbeachtete als das Wesentliche erweisen kann, fand Handke beim Kunstwissenschaftler Kurt Badt, der darauf hinwies, wie wichtig die „Schattenbahnen“ in den Bildern Cézannes sind. Auch die „Blöcke von Piran“, die Handke im Juni 1993 an der slowenischen Küste skizziert, wären ohne die Schatten nicht sichtbar.

Die Tatsache, dass Handke auch seine jüngsten Notizbücher bereits dem Archiv übergeben hat, zeigt, dass  er  sie  –  anders  als  andere  Autoren  –  nicht  mehr benötigt, dass er offenbar auch nicht mehr den Wunsch hat, sie wieder zu lesen. Sie haben bereits beim Schreiben oder Zeichnen ihre Funktion erfüllt. Seine Notizbücher dienen Handke als Hilfsmittel einer auf das Schreiben ausgerichteten experimentierenden Lebensführung, als Mittel, auf die Welt zu antworten, sie und sich selbst zu realisieren und auf diese Weise jenen mit Freude verbundenen poetischen Wachzustand zu er­reichen, bei dem es – nach Handkes Sprachgebrauch – erst wirklich Tag wird.

Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Hubert Burda Stiftung