Schöner Wohnen
Mit dem Masterplan „Kosmos Weimar“ hat die Klassik Stiftung 2008 eine Zukunftsperspektive vorgestellt, die neben der Epoche um Goethe, Schiller, Wieland und Herder mit ihren Dichterhäusern, Schlössern und Parkanlagen nun auch die Moderne mit Nietzsche, van de Velde und dem Bauhaus verstärkt in den Fokus rückt. Grundlage hierfür waren die vom Bundestag und der Thüringer Landesregierung bewilligten Baumittel in Höhe von 80 Millionen Euro, nicht zuletzt aber auch der Paradigmenwechsel der Klassik Stiftung nach der Fusion mit den Kunstsammlungen zu Weimar im Jahr 2003. Hier war neben dem bedeutenden Weimarer Kunstbesitz zudem das Bauhaus verortet mit seiner exklusiven historischen Sammlung, die Walter Gropius (1883 –1969) dem Schlossmuseum 1925 übergeben hatte. Zugleich war seit 1993 der Bestand an Arbeiten Henry van de Veldes kontinuierlich ausgebaut worden.
Nach der erfolgreichen Ausstellung zum 150. Geburtstag van de Veldes, die in Weimar und Brüssel 2013 mehr als 150.000 Besucher anzog und deren Kataloge sich in mehreren Auflagen über 30.000 Mal verkauften, reifte im Zuge der Planungen zum „neuen bauhaus museum“ der Gedanke an eine weitere Dauerpräsentation, die sich der Vorgeschichte der Weimarer Moderne mit Friedrich Nietzsche, dem Kreis um Harry Graf Kessler und Henry van de Velde sowie den fortschrittlichen Ansätzen der Weimarer Kunsthochschule seit 1860 widmen wird. In unmittelbarer Nähe zum „neuen bauhaus museum“ gelegen, bot sich das Neue Museum als Standort förmlich an. Zusammen mit der Dauerausstellung der Stiftung Buchenwald im ebenfalls benachbarten Gauforum zur Problematik der Zwangsarbeit im Dritten Reich wird in den nächsten Jahren ein zweites Museumsquartier entstehen, das im Zuge der „Topographie der Moderne“ außerdem das Stadtmuseum und das „Haus der Weimarer Republik“ in diesen Parcours einbeziehen wird.
Den Weimarer Sammlungen hingegen mangelte es für dieses ambitionierte Vorhaben – trotz der umfangreichen Bestände an Möbeln van de Veldes – an Frühwerken des Künstlers; vor allem fehlten Silberarbeiten, Keramiken, Porzellan und Schmuck. Mit dem Œuvre van de Veldes seit Anfang der 1980er-Jahre eng vertraut und Initiator seines Werkverzeichnisses in sechs Bänden, steht der Verfasser mit nahezu allen Sammlern weltweit in engem Kontakt. Die ersten Gespräche führten allerdings zu keinen Ergebnissen oder scheiterten an überzogenen Preisvorstellungen. Allein Dr. Helmut Reuter signalisierte Interesse, obwohl er über Jahrzehnte mit Möbeln Henry van de Veldes und Ludwig Mies van der Rohes eingerichtet war. Hätte er in früheren Jahren allenfalls Doubletten abgegeben oder getauscht, zeigte er sich vor dem Hintergrund der Neukonzeption aufgeschlossen und unterstützte unsere Bemühungen, aus seiner van de Velde-Sammlung die museal bedeutendsten Stücke auszuwählen. Diese Haltung beruhte vor allem auf der Perspektive, dass die Klassik Stiftung mit dem „neuen bauhaus-museum“ und seinem Pendant zur frühen Moderne im Neuen Museum eine Planung verfolgt, beide Sammlungskomplexe inhaltlich eng aufeinander abzustimmen und in den benachbarten Häusern die moderne Lebenswelt und Wohnkultur als Leitthemen zu präsentieren. Diese museale Setzung stellt ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal für Weimar dar, nicht nur im Bauhaus-Kontext in Hinsicht auf die Partnerinstitute in Dessau und Berlin, sondern vielmehr in Bezug auf einen gesamteuropäischen Zusammenhang. Dieser Aspekt stand für Helmut Reuter als entscheidendes Kriterium im Vordergrund, uns seine in Jahrzehnten gewachsene Sammlung exklusiv anzubieten, die zudem eine Reihe großzügiger Schenkungen beinhaltet.
Mit der Befürwortung drei herausragender Ankaufsvorhaben durch unseren Stiftungsrat fanden sich 2017 die Kulturstiftung der Länder, die Ernst von Siemens Kunststiftung sowie der Freistaat Thüringen einvernehmlich zusammen und haben diesen für Weimar so wichtigen Ankauf in kurzer Zeit zum Abschluss gebracht. Die Klassik Stiftung ist allen Beteiligten herzlich zu Dank verpflichtet und das Ergebnis wird das Publikum bei der Eröffnung beider Museen am 5. April 2019 sicherlich gleichermaßen überzeugen, wie sich unsere Begeisterung auf die Zuwendungsgeber hatte übertragen lassen. Henry van de Velde hat seinen hohen Rang als Erneuerer der Kunst in Weimar längst wieder gewonnen und als „Hebamme des Bauhauses“ wird er künftig sicher noch stärker im Blickpunkt stehen, schlug er doch bereits 1915 den noch jungen Architekten Walter Gropius als seinen Nachfolger in der Direktion der Kunstgewerbeschule vor. Dieser konnte dann ab 1919 auf den innovativen Lehrmethoden seines Vorgängers aufbauen und mit dem Staatlichen Bauhaus Weimar eine Institution begründen, die heute als „Marke“ weltweit bekannter ist als manch etablierter Klassiker der beschaulichen Residenzstadt.
Wenden wir uns nun konkret der Sammlung Reuter zu, so fällt als erstes ins Auge, dass wir – abgesehen von zwei Keramiken – von allen Stücken die belegten Provenienzen kennen. Neben einer exzellenten Erhaltung war dem Sammler bei jeder Erwerbung dieser Aspekt von Bedeutung, kommen doch ansonsten im Handel immer wieder Verdachtsmomente ins Spiel, es könnte sich bei den angebotenen Werken um Fälschungen oder Nachahmungen handeln, die in größerer Zahl vor allem von Hauptwerken der Jahre um 1900 angefertigt wurden. Eine nachweisbare Provenienz tilgt darüber hinaus jegliche Zweifel, es könnte sich um Raubkunst handeln.
Das Gros der erworbenen Stücke stammt aus dem Erbe des Textilindustriellen Herbert Esche (1874 –1962), der van de Velde 1902 als erster Kunde in Deutschland mit dem Bau seiner Villa in Chemnitz betraute, nachdem der Belgier 1899 bereits dessen Wohnung eingerichtet hatte. Dies betrifft sowohl sämtliche Schmuckstücke, Porzellane und die beiden Besteckserien als auch eine Reihe von Möbeln, die zumeist für Esches Wohnung von 1899 gefertigt wurden. Weitere Möbel kommen aus dem Besitz der Berliner Bankiers Karl Alexander (1871–1946) und Paul Millington-Herrmann (1858 –1935) sowie von Karl Ernst Osthaus (1874 –1921) in Hagen und aus der mit ihm verwandten Familie von Hermann Harkort (1875 –1917) in Wetter an der Ruhr.
Als wertvollstes und zugleich frühestes Möbel der Sammlung ist der unikale Schreibtisch anzusprechen, den van de Velde 1897 für seinen Freund und Hausarzt Dr. Hubert Clerckx (?–1903) in Uccle bei Brüssel entworfen hatte. Allein auf Form und Funktion reduziert, weist der für eine freie Aufstellung im Raum konzipierte Schreibtisch lediglich auf der Rückseite ein dezentes Spannungselement auf, das mittig den Schwung zwischen den Seitenkompartimenten vermittelt. Im Vergleich mit van de Veldes wohl berühmtestem Möbel, dem „Secessionsschreibtisch“ von 1899, liegt hier eine weitaus funktionalere Lösung vor, die das Möbel als Hauptwerk der ersten Epoche in van de Veldes Œuvre ausweist. Dies zeigt deutlich ein Vergleich mit dem zierlichen und ungleich verspielteren Beistellschränkchen aus exotischem Padoukholz, das der Berliner Maler Curt Herrmann (1854 –1929), van de Veldes erster deutscher Kunde, 1897 in Auftrag gab. Hier gibt sich der Künstler wieder dem „Dämon“ seiner Linie hin und betont zentrale Verbindungspunkte mit ornamental ausgebildeten Knoten. Ein weiteres Hauptwerk stellt der elegante Armlehnstuhl dar, ebenfalls von 1898, der sich ursprünglich im Berliner Arbeitszimmer der Gräfin Helene von Harrach (1877–1961) befand. Wir finden hier erneut van de Veldes Credo „Die Linie ist eine Kraft“ in den an- und abschwellenden Schwüngen von Rücken- und Armlehnen umgesetzt. Diese eher sanfte Formgebung weisen auch die beiden Frisierstühle für Hanni Esche (1879 –1911) auf. Kraftvoller gestaltet sind dem gegenüber die Armlehnstühle für Herbert Esche aus demselben Jahr, die zwar der geschilderten Dynamik folgen, gleichwohl mit mehr Volumen auftreten. Als herausragend zu nennen ist außerdem das zeitgenössisch als „Bibliotheks- und Nippesschrank“ beschriebene Möbel aus Esches erster Wohnung von 1899, das nur in zwei weiteren Exemplaren überliefert ist. Bereits auf das Bauhaus verweist ein zugleich schlichter wie eleganter Schrank von 1910, ebenfalls aus Esches Villa in Chemnitz.
Als besonderer Glücksfall ist zu werten, dass die Sammlung Reuter mit den beiden vielteiligen Meißener Servicen in Blau und Gold auch zwei zugehörige Besteckserien der Modelle 1 und 3 von 1903 bzw. 1910 enthält. Ein geschlossener Zusammenhang der Überlieferung aus einer Provenienz (Esche) ist im musealen Kontext bislang einmalig und wird die Klassik Stiftung in die Lage versetzen, die Tafelkultur der Zeit in Opulenz zu präsentieren.
Die fünf Schmuckstücke aus der Familie Esche stellen als Unikate ebenso einzigartige Rarissima dar wie das formschöne Schreibzeug von 1905/06.
An Keramiken, von denen die Klassik Stiftung bislang über nur wenige Stücke verfügen konnte, enthält die Sammlung Reuter fünf charakteristische Exemplare mit besonders eindrucksvollen Glasuren.
Der Erwerb der Sammlung Reuter zum Œuvre Henry van de Veldes kann und muss als einmalige Sternstunde für die Klassik Stiftung Weimar hervorgehoben werden. Unser Dank gilt dem Freund und Weggefährten Helmut Reuter, der sich nicht nur von seinen in Jahrzehnten zusammengetragenen Schätzen getrennt hat, sondern der uns diese zu Preisen angeboten hat, die weit unter denjenigen liegen, die er im Handel oder auf einer Auktion hätte erzielen können.
Im gleichen Jahr kam mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder ein weiterer herausragender Ankauf für das Museum für Angewandte Kunst in Köln zustande. Es handelt sich um eine frühe Jardinière Henry van de Veldes, 1903 gefertigt von Theodor Müller, van de Veldes bevorzugtem Silberschmied in Weimar. Die Jardinière gehörte zu einer (leider nicht mehr erhaltenen) Silberausstattung von mehr als 500 Teilen, die als „Brautgeschenk“ der Thüringer Beamtenschaft Großherzog Wilhelm Ernst überreicht worden war. Van de Velde entwarf hierfür außerdem die Besteckserie des Modells 1. Zur gleichen Zeit oder nur wenig später ließ er die Silberarbeit ein weiteres Mal für seine Schwester Jeanne Biart (1859 –1907) fertigen. Über ihre Tochter ging sie 1942 an Louise Thewys (1912 –2012) über, deren Eltern 1913 van de Veldes erstes Eigenhaus „Bloemenwerf“ in Uccle bei Brüssel erworben hatten.
Waren die ersten Silberarbeiten van de Veldes von 1902 noch merklich der Formensprache des Art Nouveau verpflichtet, so gewinnt die ebenfalls unikale Jardinière in ihrer nunmehr gestrafften Disziplin skulpturale Qualität. Der Corpus besteht nur noch aus Form und „Linie“ und erfährt lediglich durch die Einkerbungen an den Umrisskonturen sowie an den Griffmulden eine ebenso dezente wie raffinierte Betonung, die allerdings die hohe Eleganz des Entwurfs umso stärker unterstreicht.
Zwei wichtige deutsche Museen konnten um herausragende Exponate bereichert werden. In den letzten Jahren haben sich vermehrt amerikanische wie japanische Sammler und Museen um Arbeiten van de Veldes bemüht, was den merklichen Anstieg der Preise erklären mag. Es bleibt zu hoffen, dass Belgien den Rang eines seiner wichtigsten Künstler endlich ebenso würdigt wie van de Veldes zeitweilige Wahlheimat Deutschland. Der Erfolg unserer gemeinsamen Ausstellung war 2013 auf diesem Weg ein Neubeginn, dem hoffentlich weitere Aktivitäten folgen werden.
Förderer der Erwerbung Sammlung Reuter, Klassik Stiftung Weimar: Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunststiftung, Land Thüringen Förderer der Erwerbung Silber-Jardinière, Museum für Angewandte Kunst Köln: Kulturstiftung der Länder, Stadt Köln