Die Linie ist eine Kraft

Am 3. April 1863 wurde Henry Clemens van de Velde in Antwerpen geboren, 1957 starb er nach einem langen arbeitsreichen und kreativen Leben hochbetagt in Zürich. Sein Lebensweg, der ihn durch zahlreiche Länder Europas geführt hatte, zeichnet auch die Kunst- und Stilbewegung des 20. Jahrhunderts nach.

„Ein Gefühl von Unruhe und mangelnder Befriedigung beherrschte uns um 1890 so allgemein“, beschrieb van de Velde 1902 in seinem Buch „Kunstgewerbliche Laienpredigten“ die Zäsur seiner Laufbahn, als eine künstlerische Sinnkrise den bereits als neo-impressio­nistisch bekannten Maler zur angewandten Kunst hinführte. Das Postulat des englischen Arts & Crafts-Künstlers und Sozialreformers William Morris (1834 –1896), der Kunst ihren elitären Charakter abzusprechen und die angewandte Kunst der Malerei vorzuziehen, hatte auf van de Velde in dieser Zeit einen fundamen­talen Eindruck gemacht. 1892 entstand van de Veldes erste Arbeit in dieser neuen Sparte, der Bildteppich „Engelwache“.

Henry van de Velde, Wandteppich „Die Engelwache“, 1893, 140 x 233 cm; Museum für Gestaltung Zürich; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Foto: Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung, ZHdK
Henry van de Velde, Wandteppich „Die Engelwache“, 1893, 140 x 233 cm; Museum für Gestaltung Zürich; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Foto: Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung, ZHdK

Mit seiner „Bekehrung“ zum Kunstgewerbe war er um 1900 nicht allein. Die Objektkunst rückte inter­national in den allgemeinen Fokus, die Malerei verlor zeitweilig den Vorrang, den sie in der herkömmlichen Hierarchie der Künste eingenommen hatte. Viele Künstler, die ursprünglich als Maler begonnen hatten, wandten sich von der Bildkunst ab. Sie wurden als Entwerfer für eine neuartige Architektur und Innenausstattung tätig, kreierten aber auch Dinge des täglichen Gebrauchs aus Porzellan, Glas, Keramik und Textil sowie Möbel und Metallarbeiten im neuen Stil.

 

Jene „Unruhe“, die van de Velde konstatierte, hatte zu einer gesamteuropäischen Stilbewegung geführt, die sich an der Schnittstelle vom 19. zum 20. Jahrhundert manifestierte und unter dem Rubrum „Jugendstil“, „Art Nouveau“, „Secessionsstil“ oder „Modernismus“ als Epochenbegriff Eingang in die Kunstgeschichte und auch in den allgemeinen Sprachgebrauch fand.

Die neue Stilkunst zeigte eine eigentümliche Ambivalenz und Ambiguität. Janusköpfig, durchaus noch rückwärts dem 19. Jahrhundert zugewandt, gleichzeitig jedoch schon die Spannung und Dynamik des 20. Jahrhunderts widerspiegelnd, reflektierte Art Nouveau Phänomene eines an sich kurzen Übergangsstils, der aus vielfältigen Strömungen gespeist wurde.

So wurden Elemente der Gotik wie die dynamische vertikale Linie und auch die skelettartige Konstruktion für Jugendstil-Architektur und Möbel übernommen, ebenso erwiesen sich die verspielten eleganten Linienschwünge des Rokoko als kompatibel.

Als ganz besonders einflussreich stellte sich aber die zunehmende Kenntnis der japanischen Kunst heraus. Die daraufhin grassierende Japan-Begeisterung traf im zeitlichen Zwischenbereich von Historismus und Jugendstil in Europa ein. Charakteristika wie Stilisierung, Abstraktion und Flächigkeit in der Darstellung besonders von Flora und Fauna ermöglichten neue Sehweisen, und das traditionelle japanische Kunstgewerbe – von exklusivem Material und ästhetischer Raffinesse – faszinierte, da es den industriellen Massenerzeug­nissen Europas diametral gegenüberstand.

Josef Hoffmann, Liegefauteuil „Sitzmaschine“, 1895-1915, 110 x 80 cm; Bröhan-Museum Berlin; © MAK / Foto: Georg Mayer
Josef Hoffmann, Liegefauteuil „Sitzmaschine“, 1895-1915, 110 x 80 cm; Bröhan-Museum Berlin; © MAK / Foto: Georg Mayer

„Was wir wollen ist das, was der Japaner immer getan hat. Wer würde sich irgendein Werk japanischen Kunstgewerbes maschinell hergestellt vorstellen können?“, schrieb Josef Hoffmann 1903 im Manifest der Wiener Werkstätte, und van de Velde sah die „japanische Linie“ gar als „heilbringend“ an.

Zudem fand jedes Land eine eigene, individuelle künstlerische Ausprägung. Der frühe Art Nouveau ist mit der figürlichen, hauptsächlich floralen, meist symbolistisch konnotierten Dekorkunst des französischen Fin de Siècle verbunden. England, besonders Schottland, vertrat eine sachlich-geometrische, abstrahierende Formensprache, die zum modernen Funktionalismus führte. Beide Länder stehen zeitgleich, bereits vor 1900, für den Beginn einer neuen Stilkunst und reklamieren, bei  aller  Divergenz,  Erfinder  des  neuen  Stils  zu  sein. Die  K.-u.-k.-Monarchie  Österreichs  war  mit  ihren Kronländern Ungarn und Tschechien vertreten und der etwas spätere, sogenannte Wiener Secessionsstil bezog sich wiederum auf das Vorbild der funktionalen schottischen Arts & Crafts-­Bewegung. Das verbindende Element dieser heterogenen Ausprägungen des neuen Stils war die Sehnsucht nach Erneuerung. Es zeigte sich, dass Art Nouveau weit über einen reinen Kunststil hinausging und als Reformbewegung auch ein neues Lebensgefühl anstrebte.

Eine dominierende Rolle im Spektrum der europäischen Stilbewegungen nahm Belgien ein, ein junger Staat, der erst 1831 als eine selbstständige, allerdings von großen sozialen Spannungen bestimmte Nation auftreten konnte. Brüssel als Hauptstadt zeigte sehr schnell den modernen Stil, besonders in der Architektur der neuen Metropole, die von Paul Hankar und Victor Horta geschaffen wurde und das Stadtbild um 1900 prägte. Als herausragend erwies sich aber Henry van de Velde, der 1895 – als Autodidakt zwar – zunächst nur ein privates Wohnhaus geschaffen hatte, aber fast schlagartig zur Speerspitze der Reformbewegung avancieren sollte. Sein Haus „Bloemenwerf“ in Uccle bei Brüssel erwies sich als Grundstein zu seinem internationalen Ruhm, da es sofort von Kennern als programmatische Verwirklichung einer ästhe­tischen Autarkie empfunden wurde.

Beispielhaft zeigte sich, dass Haus und Interieur zum originären, zum eigentlichen Kunstwerk des Jugendstils werden sollten. Die Priorität des indivi­du­ellen Interieurs, der Zusammenklang von Innen und Außen, von Architektur, Dekoration, Mobiliar, Beleuchtung, von Kleidung und Lebensstil der Be­wohner ließ eine neue, vorbildhafte kulturelle Identität entstehen.

Aus Deutschland kamen prominente Besucher, um das Haus „Bloemenwerf“ zu besichtigen, wie etwa der Mäzen und Kunstliebhaber Harry Graf Kessler, der einflussreiche Kunstkritiker Julius Meier-Graefe und Eberhard von Bodenhausen, Unternehmer und Bewunderer der modernen Stilkunst: ein Triumvirat, das für van de Veldes weiteren Weg entscheidend werden sollte und das als mäzenatischer Auftraggeber seinen künst­lerischen Erfolg, vornehmlich in Deutschland, erst ermöglichte. So erwies sich van de Veldes Wohnungseinrichtung für Harry Graf Kessler in Berlin 1897/98 als Initialzündung für eine Reihe von bedeutenden Aufträgen, die seinen Ruhm weiter verbreiteten.

Die Intention zum Gesamtkunstwerk zeigte sich in dem für ihn charakteristischen gespannten, ornamentlosen Liniengefüge, das dem Raum ebenso wie allen Einrichtungsgegenständen Gestalt gab. Für van de Velde war die Dynamik der Linie alleinbestimmend, sein Credo „Eine Linie ist eine Kraft […] sie entlehnt ihre Kraft der Energie dessen, der sie gezogen hat“, zeigte sich beispielhaft in seinen frühen Arbeiten: Die Linie wurde zum elementaren plastischen Ausdrucksträger.

1900 erfolgte auf Betreiben seiner Freunde und Verehrer die Übersiedlung van de Veldes und seiner Familie nach Berlin. Es war der Beginn einer lebens­langen Wanderschaft, sein Haus „Bloemenwerf“ in Uccle sah er niemals wieder.

Durch die Vermittlung Kesslers hatte van de Velde nicht nur vermehrt künstlerische Arbeiten für Raum­gestaltungen ausgeführt, sondern auch seine Vortrags­tätigkeit, sein „Apostolat“ in Berlin begonnen. Mit missionarischem Eifer versuchte er, seine Überzeugungen vom „neuen Stil“ und der Kraft der Linie einem meist gesellschaftlich elitären Zirkel nahezubringen. Diese Vorträge wurden in den Folgejahren publiziert und geben einen einzigartigen emotionalen und intellektuellen Einblick in seine Kunstphilosophie.

Die für van de Velde erfolgreiche und glückliche Berliner Zeit setzte sich nach nur zwei Jahren durch seine Berufung als künstlerischer Berater des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach mit der Übersiedlung in die Residenzstadt Weimar zunächst fort.

Henry van de Velde, Haus Hohe Pappeln, Weimar; rekonstruiertes Arbeitszimmer in Teakholz mit Möbeln aus der Sammlung Reuter; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Klassik Stiftung Weimar, Werkverzeichnis Henry van de Velde / Foto: Alexander Burzik
Henry van de Velde, Haus Hohe Pappeln, Weimar; rekonstruiertes Arbeitszimmer in Teakholz mit Möbeln aus der Sammlung Reuter; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Klassik Stiftung Weimar, Werkverzeichnis Henry van de Velde / Foto: Alexander Burzik

Van de Veldes Auftrag sah vor, generell das regionale Gewerbe zu fördern und zu modernisieren. Bereits 1902, gleich nach seiner Ankunft, gründete er in Weimar als Annex der Großherzoglichen Kunstschule das Kunstgewerbliche Seminar, 1907 wurde die Kunstgewerbeschule eröffnet. Mit der Weimarer Zeit klang auch seine expressive Linienkunst aus und eine mehr klassisch-moderne Formen­sprache nahm ihren Anfang.

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte van de Velde die Möglichkeit, ein außergewöhnlich reiches Werk an Architektur, Raumkunst und Objekten der angewandten Kunst zu schaffen. Für den Fabrikanten Herbert Esche in Chemnitz entstand 1902/03 eine monumentale Villa, das erste bedeutende Architek­tur­ensemble aus van de Veldes Zeit in Deutschland. 1904/11 erfolgte der Neubau der Kunstschule in Weimar. Für sich und seine Familie entwarf er in Weimar „Haus Hohe Pappeln“, das zweite persön­liche Wohnhaus. Ein weiteres Großprojekt war das opulente „Haus Hohenhof“, 1908, für den Kunstsammler Karl Ernst Osthaus in Hagen, einer der großen Mäzene und Bewunderer van de Veldes.

Henry van de Velde und seine Familie vor der Südseite von Haus Hohe Pappeln in Weimar-Ehringsdorf, 1912; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Klassik Stiftung Weimar, Werkverzeichnis Henry van de Velde / Foto: Louis Held
Henry van de Velde und seine Familie vor der Südseite von Haus Hohe Pappeln in Weimar-Ehringsdorf, 1912; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Klassik Stiftung Weimar, Werkverzeichnis Henry van de Velde / Foto: Louis Held

Auch ein spezielles Gebiet der angewandten Kunst, die Buchkunst, übte große Faszination auf van de Velde aus. Die Affinität zur Gestaltung von Druckwerken lässt sich bereits zu Beginn seiner Laufbahn erkennen. In Zusammenarbeit mit Harry Graf Kessler entstanden aus Verehrung für Friedrich Nietzsche bedeutende bibliophile Kostbarkeiten von den Schriften des 1900 in geistiger Umnachtung gestorbenen Philosophen. Der Umbau des Weimarer Nietzsche-Wohnhauses als auratische Erinnerungsstätte und Archiv ließ van de Veldes Einfühlung in das Werk des epochalen „Dichters und Denkers“ sichtbar werden.

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Haupttitel, Insel Verlag Leipzig, 1908; Typographie von Henry van de Velde; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Insel Verlag, Leipzig
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Haupttitel, Insel Verlag Leipzig, 1908; Typographie von Henry van de Velde; © VG Bild-Kunst, Bonn 2018 / Insel Verlag, Leipzig

Während die Werkstätten der Kunstgewerbeschule mit einer Fülle von Aufträgen und Entwürfen für Porzellan, Keramik, Textilien, Tapeten, Silberarbeiten und Beleuchtungskörpern berühmt wurden, war van de Veldes gesellschaftliche Stellung in Weimar hingegen nicht mehr unangefochten. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde der Belgier dann explizit zum „feindlichen Ausländer“ erklärt. 1915, nach bereits längeren Querelen, erfolgte seine Entlassung aus den Großherzoglichen Diensten, aber erst 1917 konnte van de Velde durch Unterstützung von Freunden ins schweizerische Exil gehen.

Nach  dem  für  Deutschland  verlorenen  Ersten Weltkrieg und den damit verbundenen sozialen Umwälzungen fand 1919 die Vereinigung von Kunstge­werbeschule und Kunstschule als „Staatliches Bauhaus“ statt. Die Leitung übernahm der Architekt Walter Gropius, den van de Velde 1915 als seinen Nachfolger empfohlen hatte. Den folgenden internationalen Siegeszug des „Bauhauses“ konnte van de Velde nun nicht mehr für sich und seine Arbeit in Anspruch nehmen.

Nach seinem Weggang aus Deutschland, nach Aufenthalten in der Schweiz und den Niederlanden, wo er mit modernen architektonischen Arbeiten hervorgetreten war, gründete van de Velde 1927 in Brüssel eine neue Kunstschule  – „La Cambre“ – als belgisches Pendant zum Bauhaus. Puristisches Design und eine sachliche Architektur bestimmten die Spätphase dieses univer­salen Künstlers.

Noch im Alter von fast 90 Jahren begann er seine Autobiographie, die unter dem Titel „Geschichte ­meines Lebens“ 1962 auf Deutsch erschien.

Henry van de Velde, um 1914, fotografiert von Louis Held; © Klassik Stiftung Weimar, Werkverzeichnis Henry van de Velde / Foto: Louis Held
Henry van de Velde, um 1914, fotografiert von Louis Held; © Klassik Stiftung Weimar, Werkverzeichnis Henry van de Velde / Foto: Louis Held

Henry van de Veldes gewaltiges Œuvre weist eine visionäre Gestaltungskraft auf, die sich immer wieder an die Spitze neuer wegweisender Entwicklungen stellte. Sein Werk ist gekennzeichnet durch die Überwindung von Traditionen, das Ignorieren von Grenzen, welche die Kunst und das Kunstgewerbe betrafen, und er wurde damit zum wesentlichen Begründer des modernen Designs und der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts. Das leidenschaftliche Streben nach Schönheit, das der Ästhetisierung des Menschen im Sinne einer moralischen Erhebung dienen sollte, ist dem Frühwerk eigen, die Synthese von Kunst und Leben blieb aber auch weiterhin eine wesentliche raison d’être van de Veldes.