Schatten der Avantgarde
Was haben Henri Rousseau, Bill Traylor und André Bauchant gemeinsam? Sie gehören zu jenen Autodidakten des frühen 20. Jahrhunderts, die den Meistern der klassischen Moderne in nichts nachstehen – und dennoch: Stigmatisiert durch das Label „Naive Kunst“ oder „Outsider Art“ gehören sie – ausgenommen Henri Rousseau – nicht zum Kanon der Avantgarde. In der Ausstellung im Museum Folkwang ist dies anders: Aus dem Schatten der Avantgarde befreien die Kuratoren Kasper König und Falk Wolf nun 13 internationale Positionen: André Bauchant, Erich Bödeker, William Edmondson, Louis Michel Eilshemius, Morris Hirshfield, Séraphine Louis, Nikifor, Martín Ramírez, Henri Rousseau, Miroslav Tichy, Bill Traylor, Adalbert Trillhaase und Alfred Wallis.
Mit künstlerischer Überzeugungskraft behaupten sich in der Ausstellung u. a. die großformatigen Blumenbilder von Séraphine Louis oder die Historienbilder André Bauchants an der Seite einzelner Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts aus der Sammlung des Hauses, darunter Paul Gauguins „Barbarische Erzählungen“ oder Paula Modersohn-Beckers „Selbstbildnis mit Kamelienzweig“.
Eine alternative Lesart der Moderne vorschlagen, künstlerische Parallelen offenlegen und ausgewählte Werke wiederentdecken – das ist das Ziel der Kuratoren. Gleichzeitig bestärken sie damit eine Tradition, die mit dem Gründer des Museums Karl Ernst Osthaus angefangen hat: Dieser berücksichtigte – neben etablierten Werken – dezidiert auch außereuropäische Kunst, Werbegraphik sowie naturkundliche Objekte. Eine Schlüsselfigur der Ausstellung, Henri Rousseau, gehört als Einziger der Autodidakten fest zum Kanon der etablierten Moderne. Warum eigentlich? So wie Rousseau von der Pariser Avantgarde für seine Dschungelbilder und Porträts als Prototyp der Naiven Kunst zelebriert wurde, so genoss auch der Autodidakt André Bauchant prominente Unterstützung von Amédée Ozenfant und Le Corbusier – doch gehört Bauchant trotzdem nicht zum Diskurs der Moderne. Die Ausstellung fragt deshalb: In welchem Verhältnis stehen Autodidakten und professionelle Künstler? Muss der Stellenwert der nicht-akademischen Künstler nicht neu bestimmt werden?
Wie aktuell diese Fragen sind, zeigt sich anhand ausgewählter Werke der zeitgenössischen Kunst, die die Ausstellung zusätzlich bereichern. Der Amerikaner Mike Kelley bezieht sich mit seinen Filz-Bannern auf die Tradition von Handarbeitskunst und beleuchtet somit die Aneignungsstrategien der nicht-akademischen Künstler, während Hanne Darboven in ihrer vielteiligen Installation „Hommage à Picasso“ u. a. die Rolle des Künstlers in der Moderne reflektiert. Die von der Kulturstiftung der Länder gemeinsam mit der Kulturstiftung des Bundes geförderte Ausstellung bricht den Kanon der etablierten Moderne auf und eröffnet so einen ungewohnten Blick auf das frühe 20. Jahrhundert jenseits des Etablierten und Kanonisierten.