Hören Sie den Podcast mit Prof. Dr. Peter Wollny, Direktor der Stiftung Bach-Archiv, über die Wiederentdeckung der Musik von Johann Sebastian Bach durch Felix Mendelssohn-Bartholdy und Gustav Mahler. Auch auf iTunes und Spotify.
Als der Thomaskantor Johann Kuhnau 1722 starb, waren sich über den Nachfolger schnell alle einig. Die Spatzen pfiffen es vom Dach der Thomasschule, so beschreibt es heute der Intendant des Bachfestes Leipzig Michael Maul, dass es eigentlich nur einen rechtmäßigen neuen Leiter der Kirchenmusik in den Leipziger Hauptkirchen geben könne. Der ersehnte Kandidat hatte immerhin 1702 während seiner Studienzeit das Collegium Musicum mit 40 Amateurmusikern gegründet, das nach dem Weggang seines Gründers zu einem der wichtigsten Orchester Leipzigs wurde. Außerdem hatte der Ideal-Kandidat schon als Leipziger Jura-Student vom Bürgermeister den Auftrag bekommen, zwei Kantaten pro Monat für die Thomaskirche zu komponieren. Mittlerweile war er als Komponist in seiner folgenden Karriere zu Weltruhm gelangt. Wer sonst sollte also eines der renommiertesten Ämter der musikalischen Welt in Leipzig, der damals wichtigsten Metropole Deutschlands, nach Goethe „Klein-Paris“ genannt, bekommen? Eine glorreiche Amtszeit war quasi vorbestimmt.
Der Wunschkandidat kannte die Herren im Rat der Stadt gut und dort den Disput über Kirchenmusik, den Streit zwischen den traditionellen und den fortschrittlichen Vertretern. So machte er für seine Bewerbungskantate als Thomaskantor aus der sonst üblicherweise hochdramatischen Jüngste-Gericht-Heimsuchung ein überraschend melancholisches Stück mit Tiefgang und sensiblen Passagen. „Ich muß auf den Bergen weinen und heulen“ – an diesem Festtag, dem 10. Sonntag nach Trinitatis, wird die enge Verbindung der Christen und Juden angesichts der Zerstörung Israels traditionell bekräftigt. Man erinnert sich, auch als Warnung ins Heute, an die zweimalige Zerstörung des Tempels auf dem Tempelberg. „Jerusalem, der Wollust stoltzer Sitz, wo aller Güter Ueberfluß,/wo Salomonis Pracht und Witz auf güldnen Löwen schön gethronet,/wird durch die Drachen itzt bewohnet“, singt die Tenorstimme.
Die Aufführung der außergewöhnlichen Interpretation durch den designierten Thomaskantor wird ein voller Erfolg gewesen sein, ein Triumph. Lebhaft kann man sich das vorstellen, wenn man die gerade erschienene, allererste Einspielung überhaupt dieser Kantate durch die „capella jenensis“, das junge Barockorchester aus Thüringen, gemeinsam mit dem Vokalensemble „Elbgut“ anhört. Denn erst jüngst hat die Forschung diese Kantate aus allen überlieferten Kantaten als die wahrscheinlichste für das Leipziger Probevorspiel identifiziert. Die Leipziger sahen sich jedenfalls bestätigt in ihrer klaren Einschätzung, der Vertrag mit dem neuen Kantor wurde unterschrieben.
Wie wäre die Musikgeschichte wohl verlaufen, hätte Georg Philipp Telemann sein Amt damals wirklich angetreten? Denn sein Arbeitgeber, die Stadt Hamburg, legte einige Hundert Taler obendrauf auf das Salär seines Musikdirektors Telemann und stellte eine große Dienstwohnung zur Verfügung. Das verfing und Telemann blieb lieber in Hamburg, wurde bald auch Leiter der Oper und setzte seine Tätigkeit als äußerst produktiver Komponist und Musikverleger fort.
So kam es in Leipzig zur Chance für den zweiten Mann. Das jedoch auch erst, nachdem noch drei weitere Kandidaten auf der Liste beim Vorspiel nicht überzeugt hatten. Am 15. Januar 1723 stimmte der Rat zuversichtlich für den Nächsten, einen Hofkapellmeister und ehemaligen Thomasschüler, passenderweise in Komposition ausgebildet von Johann Kuhnau, dem beliebten, eben verstorbenen Kantor. Die Zusage an die Nr. 2 wurde sogar noch vor dessen offiziellem Vorspiel der Bewerbungskantate „Lobet den Herrn alle Heiden“ erteilt. Trotzdem führte auch noch der dritte Kandidat auf der Liste, kurz danach, am 7. Februar 1723, seine Kantaten „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“ und „Du wahrer Gott und Davids Sohn“ in der Thomaskirche auf. Sicher wusste dieser abgeschlagene Komponist damals nicht, dass er auf verlorener Position stand, längst der Zuschlag an den Konkurrenten erfolgt war.
Doch es war wie verhext: Auch die Nr. 2, Kapellmeister Christoph Graupner aus Darmstadt, konnte seiner Unterschrift nicht Folge leisten, denn er wurde von seinem Dienstherrn nicht freigegeben. Wieder kam also der Wunschkandidat nicht in die Kantorei, übernahm nicht den Latein- und Musikunterricht an der 1212 gegründeten ehemaligen Klosterschule. Die Ratsherren waren blamiert, mussten sich erneut treffen zur Beratung: Was sollte zählen, ein Ruf als Musiker oder sollte doch der Lehrerberuf im Mittelpunkt stehen? Wieder brandete der alte Streit der Fraktionen auf. Es setzte sich die Kapellmeister-Fraktion durch: Am 22. April 1723 wurde Kandidat Nr. 3, ein gewisser Johann Sebastian Bach, einstimmig gewählt. Der regierende Bürgermeister Gottfried Lange hatte zuvor ein langes Votum für ihn gesprochen, das er mit den Worten beschloss: „Wann Bach erwehelt würde, so könnte man Telemann, wegen seiner Conduite, vergeßen.“ So kam es zur wahrscheinlich folgenreichsten Besetzung der Musikgeschichte. Dazu, dass Johann Sebastian Bach (1685 – 1750), ein unstudierter Autodidakt, Komponist und Kapellmeister aus Köthen, der Kandidat am Ende einer langen Liste, den Ruf auf eines der wichtigsten Ämter der Kirchenmusik bekam. Bach führte in den folgenden 27 Jahren nicht nur die Kirchenmusik in neue Sphären, von Leipzig aus steigerten sich sein Ruhm und sein musikalischer Einfluss – wenn auch erst 100 Jahre posthum mit voller Wucht – und verbreiteten sich bis heute in alle Welt.
Mit drei ineinandergreifenden und aufeinanderfolgenden, u. a. von der Kulturstiftung der Länder unterstützen Sonderausstellungen blickt das Bach-Museum zum Jubiläumsjahr „300 Jahre Bach in Leipzig“ jetzt auf diesen nervenaufreibenden Auswahlprozess im Jahr 1723 zum Thomaskantor. Wie politisch brisant eine künstlerische Entscheidung sein kann, zeigt sich in Leipzig bis heute: Erst vor kurzem wurde die Stelle des Thomaskantors nach aufwändigen Auswahlverfahren und unter großem öffentlichen Interesse wieder neu besetzt. Einige Jahre zuvor, bei der Wahl 2015, konnte sich die Findungskommission für keinen der vier Kandidaten entscheiden. Das Findungsverfahren wurde eingestellt. 2016 wurde dann Gotthold Schwarz, lange mit den Thomanern verbunden, zum ordentlichen Thomaskantor mit befristetem Vertrag gewählt. Mit Andreas Reize kam 2021 schließlich überraschend ein katholischer Schweizer als Thomaskantor nach Leipzig. Einige ältere Thomanerschüler verfassten gar eine Petition gegen die Wahl Reizes, bezweifelten seine didaktische Eignung. Mittlerweile scheinen die Wogen aber geglättet. Und – war es etwa die Magie des Amtes? – Kantor Reize konvertierte in Leipzig sogar zum evangelischen Glauben.
Johann Sebastian Bach führte in Leipzig nichts Geringeres im Schilde, als die Kirchenmusik in eine neue Zeit zu leiten. Als Thomaskantor war er zudem gleichzeitig städtischer Musikdirektor und für Festmusiken etwa zu Ratswahlen zuständig. Bach übernahm nach sechs Jahren schließlich auch die Leitung des Collegium Musicum, des von Telemann einst gegründeten Studentenensembles, das für weltliche Musik zur Verfügung stand. Ab 1729 gab Bach mit ihnen regelmäßig Konzerte im Zimmermannischen Kaffeehaus. Den Kern seines Orchesters für die kirchlichen Aufführungen bildeten die „Stadtpfeifer“, acht städtische Musiker, die weitere Musikerkollegen um sich scharten. Vakante Positionen besetzte Bach auch mit Schülern und Studenten.
Zum Amtsantritt entschied sich Bach, fast ausschließlich eigene Kompositionen aufzuführen, was ihn vor allem in den ersten Jahren zu einer geradezu übermenschlichen Kompositionsdisziplin zwang, um jeden Sonntag eigens geschriebene Kantaten abzuliefern. Auch in die Verpflichtung von Textdichterinnen und -dichtern für die Librettos seiner Werke steckte Bach viel Engagement. Immerhin konnte er als Thomaskantor die gedruckten Fassungen der Textbücher auf eigene Rechnung an die Besucherinnen und Besucher der Gottesdienste verkaufen und mit dem Erlös u. a. dringend benötigte Gastmusiker entlohnen.
In der Leipziger Ausstellung „Bühne frei für Johann Sebastian Bach“ können sich die Besucher nun ein besonders audiophiles Besuchserlebnis verschaffen. Sogenannte immersive binaurale Hörspiele, „Hands-on“-Stationen, Medienanwendungen, Spiele und Rätsel machen aus dem Museumsbesuch ein multidimensionales Erlebnis mit Interaktionsgarantie. „Unsere Ausstellung entschlüsselt Bachs komplexe Werke auf leicht verständliche Weise und lädt dazu ein, tief in seinen musikalischen Kosmos einzutauchen. In unseren 3D-Hörspielen können Sie Bach zudem in seinem Alltag begegnen. Begleiten Sie ihn bei seiner Antrittsmusik in der Nikolaikirche und mischen Sie sich unter die tuschelnden Gottesdienstbesucher. Erleben Sie, wie Bach seine Matthäus-Passion in der Thomaskirche probt und Sänger und Musiker zugleich auf zwei Emporen dirigiert. Treffen Sie einen seiner Thomaner und lassen sich die tiefe Dramatik des Eingangschores vor Augen und Ohren führen“, beschreibt Kuratorin Henrike Rucker vom Bach-Archiv Leipzig den Ansatz der Sonderausstellung. Workshops lassen u. a. Bachs Einflüsse bis in die aktuelle Pop-Musik lebendig werden oder geben Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit, eigene Kompositionen zu erfinden.
Natürlich fehlen aber auch klassische Ausstellungselemente wie Handschriften von Bachs Kompositionen oder Gegenstände aus seinem persönlichen Besitz nicht in der Ausstellung. Die wichtigsten Meilensteine in der Entwicklung Johann Sebastian Bachs zum prägenden Komponisten seiner Zeit sind im kleinen Kabinett und in der enorm vielseitigen und zum Mitmachen anregenden Dauerausstellung nachvollziehbar: Von den Kantaten, die Bach jeden Sonntag in den verschiedenen Kirchen aufzuführen hatte über die h-moll-Messe bis hin zur Matthäus-Passion. „Sie ist ein zentraler Höhepunkt seines Gesamtschaffens und darüber hinaus eines der größten Kunstwerke der Menschheit, von universellem und zeitlosem Charakter“, sagt Henrike Rucker.
Wie gelang es Bach in dieser Komposition, die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi in einer dreistündigen Inszenierung zu einem noch nie dagewesenen Spektakel der Passionsmusik zu machen? Zwei Chöre, zwei Orchester, zwei Orgeln und zahlreiche Solisten – damit wird der ehrgeizige Thomaskantor das Leipziger Publikum im Vespergottesdienst am Karfreitag am 11. April 1727 nachgerade überwältigt haben. Für seine Matthäus-Passion griff Bach dabei beherzt auf das gesamte Reservoir weltlicher und geistlicher Musikelemente zurück. In Leipzig geht man auf die Fährte dieser revolutionären musikalischen Tour de Force und erlebt, wie Bach mit seinem Oratorium alle großen Themen des menschlichen Lebens berührt – Schuld, Leid, Schmerz, Verrat, Reue, Vergebung oder Erlösung. Eine Höchstleistung abfordernde Komposition, die deshalb danach auch für viele Jahrzehnte als unspielbar galt. Erst als Felix Mendelssohn Bartholdy 1829 eine gekürzte Version erstellte, wurde sie wieder aufgeführt. Gleichzeitig begann damit die Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs.
Johannes Fellmann ist Redakteur von Arsprototo.
Bühne frei für Johann Sebastian Bach.
Sonderausstellung zum 300-jährigen Jubiläum von Bachs Amtsantritt in Leipzig:
1. Akt: Kirchenmusik zu Ehren Gottes,
bis 9. Juli 2023
2. Akt: Auf der Suche nach Vollkommenheit,
22. Juli 2023 bis 5. November 2023
3. Akt: Bachs Musik wird zum Modell,
16. November 2023 bis 24. März 2024
Bach-Museum Leipzig
Thomaskirchhof 15 – 16, 04109 Leipzig
www.bachmuseumleipzig.de