Nachruhm durch Nachlass

Was ist eigentlich ein Nachlass? Und wann etabliert sich der schriftstellerische Nachlass als die heute gängige kulturelle Institution? In der uns bekannten Form ist mit der Institution „Nachlass“ nämlich viel mehr gemeint als die für sich genommen banale Tatsache, dass Schriftsteller und Gelehrte der Welt, die sie verlassen, auch große (gebundene und ungebundene) Papierberge hinterlassen. Wollte man mit dem Nachlassbegriff schon jede beliebige Papiermenge bezeichnen, die jahrzehntelanges schriftstelle­risches Wirken unvermeidlich zurücklässt, so hätte es wohl dort schon immer Nachlass gegeben, wo mit Papier intellektuell gearbeitet wird; bereits in der frühen Neuzeit konnte man immer wieder die Klagen von Familienmitgliedern von Dichtern und Gelehrten vernehmen, die angesichts der ihnen hinterlassenen Papiermengen nicht so recht glücklich werden wollten.

Eine Präzisierung dessen, was es mit dem spezifisch modernen Nachlass auf sich hat, lässt sich auf diesem Wege allerdings nicht erzielen. Wie entsteht also aus einem mit Papierresten überschwemmten Arbeits- oder Wohnzimmer die moderne Institution namens „Nachlass“? Eine Institution, die an der Universität sowie in Archiven und Bibliotheken fest verankert ist, die ganz eigene Arbeitsformen und Untersuchungsverfahren im Hinblick auf Literatur hervorbringt und die zunehmend eine politische und poetische Bezugsgröße für das Selbstverständnis und die Schreibverfahren von Schriftstellern wird? Die also mit der historischen Herausbildung eines Nachlassbewusstseins einhergeht?

Ein Nachlassbewusstsein lässt sich erstmals bei einem der berühmtesten Lyriker und Literaturmäzene des 18. Jahrhunderts erkennen: bei Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Sein Testament von 1782 im Historischen Archiv Halberstadt gibt präzise Anweisungen zum Umgang mit dem Nachlass. Gleim möchte den gesamten Nachlass in eine Familienstiftung überführen. Seine unpublizierten Briefe und Handschriften sollen in einer Werkausgabe veröffentlicht werden. Anders als alle anderen Schriftsteller seiner Epoche hält Gleim jedoch fest, dass die Handschriften auch über die Druckpublikation der Werkausgabe hinaus für die Nachwelt erhalten werden sollen.

Dass der Wert der Handschriften nicht in ihrer Funktion als Druckvorlage aufgeht, macht auch der zweite Anhang des Testaments von Gleim deutlich, den dieser im Jahr 1797 verfasst. Dort hebt er erneut die materielle Sicherung des Nachlasses hervor, wenn er auf den Ankauf eines feuerfesten Hauses als Aufbe­wahrungsort für sein handschriftliches Archiv drängt. Gleim hat dabei vor allem seinen Briefwechsel vor Augen, dessen literaturhistorische Bedeutsamkeit für ihn nicht nur im Inhalt, sondern auch, gerade weil es sich um biographisches Material handelt, in dessen handschriftlicher Erscheinung liegt. Für Gleim ist die Handschriftlichkeit Ausdruck der Einzigartigkeit, die jedes Dokument in seiner Korrespondenz, sei es von seiner oder einer anderen Hand, auszeichnet. Der handschriftliche Nachlass wird hier also zu einem auratisierten Archiv von Literatur mit dem Status der Einzigartigkeit, zu einem Literaturarchiv, das per se nicht in Druckschriften konvertiert werden kann. Mit einem Wort: Der Nachlass wird zu einem Archiv moderner Manuskripte.

Parallel zum modernen Nachlasswesen bildet sich um 1800 im Umgang mit einer breiten handschriftlichen Überlieferung ein ganz neuer Begriff der Handschrift heraus: das von Autorhand verfasste moderne Manuskript. Während der Begriff des Autographs oder der Handschrift noch im 18. Jahrhundert auch solche Schriften umfasst, die nicht von der Hand des Autors geschrieben worden sind (und Ausdrücke wie „eigenhändige Handschrift“ deshalb keine Tautologien darstellen), verengen sich diese Ausdrücke zunehmend auf die von der Hand des Autors verfassten Schriften. Mit der Herausbildung des modernen Manuskripts entsteht eine ganz eigene Form von individueller und einzigartiger Handschriftlichkeit. Und diese Form von Handschriftlichkeit ist es auch, die für weite Teile eines Nachlasses charakteristisch ist, der gerade nicht im gedruckten Werk aufgehen kann, sondern in Abgrenzung zur Werkausgabe eine schriftförmige Gegen- oder Unterwelt aufbaut, die schon aufgrund ihrer materiellen Eigenheiten grundsätzlich nie vollständig in eine gedruckte Nachlassausgabe transponiert werden kann.

Die Herausbildung der modernen Dichterhandschrift weist verschiedene Komponenten auf: einerseits eine allgemeine Aufwertung des Autographischen als einzigartig, individuell, intim und authentisch und andererseits das Interesse für Relikte des Dichters im Rahmen eines Andenkenkults, dessen Übergänge zum Starkult der Autogrammjäger noch untersucht werden müsste. Diese doppelte Aufwertung geht einher mit der Entstehung der modernen Autographenkunde und der Herausbildung eines Autographenhandels, wobei die neuen drucktechnischen Möglichkeiten wie die Lithographie es erlauben, Autographe nicht nur als Originale, sondern auch als reproduzierte Handschriftlichkeit zirkulieren zu lassen. Hinzu kommt im rezeptiven Umgang mit Literatur ein verstärktes Interesse sowohl für die Prozesse der Entstehung des Werks als auch für die Entwicklung der Persönlichkeit des Dichters. Die Manuskripte, die diesbezüglich Aufschlüsse erlauben, finden sich meist im literarischen Nachlassarchiv.

Während Schriftsteller wie Gleim ihre Vorstellungen vom Umgang mit ihren Nachlasspapieren zwar testamentarisch verfügten, deren Umsetzung dann aber ihren Nachlassverwaltern überließen, kümmern sich heutige Autoren häufig bereits zu Lebzeiten um den Verbleib und die Verwendung ihrer postumen Papiere. Sie schließen mit diesem Vorlassverhalten an den späten Goethe an, der erstmals ein derart selbstreflexives und strategisches Verhältnis zu seinem eigenen Vorlass etabliert hat. Weil Goethe mit seiner Ausgabe letzter Hand eine Gesamtausgabe plant und zum Druck befördert, die postum um Nachlassbände vervollständigt werden soll, und weil er bereits zu Lebzeiten mit der Planung und Erstellung eines eigenen Schriftstellerarchivs beginnt, das seine Handschriften der Nachwelt überliefern soll.

Goethe leistet aber noch mehr: Neben der minutiösen Planung der Nachlassausgabe und des Nachlassarchivs stellt er intensive Reflexionen über den eigenen Nachlass an (unter anderem 1823 in einem wegweisenden Aufsatz „Archiv des Dichters und Schriftstellers“) und zieht für die Realisierung seiner Vorgaben die Expertise von Philologen und Archivaren heran. Darüber hinaus entwickelt Goethe bereits die später maßgebliche Vorstellung vom Dichternachlass als eines nationalen kulturellen Erbes und nimmt die hohe Wertschätzung des Autographischen vorweg, die im 19. Jahrhundert aus Dichterhandschriften auratische Objekte machen wird. Schließlich flankiert Goethe seine Nachlasspolitik mit der Publikation von bio­graphischem Material (darunter die Herausgabe des Briefwechsels mit Schiller) und einer Autobiographie („Dichtung und Wahrheit“). Der schriftliche Nachlass wird spätestens hier zum nationalliterarischen Denkmal des Dichters und das dem Schriftsteller gewidmete Literaturarchiv schon einige Dekaden später zum Pantheon dieser postumen Papiere.

Es bedarf dann mehrerer Jahrzehnte, bis sich Goethes Nachlassverständnis mit allgemeiner Verbindlichkeit durchsetzt. Entscheidend für die Entstehung des modernen Nachlasswesens ist dabei eine inhaltliche Schwerpunktverschiebung innerhalb der Germanistik: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt man, nicht mehr nur mittelalterliche Textdenkmäler als Forschungsobjekte ernstzunehmen, sondern auch die neuere Literatur. Die sich bald in Professuren und Lehrstühlen einrichtende Neugermanistik versteht sich dabei zunächst vor allem als Goethe-Philologie, und ihr besonderes Interesse gilt von Beginn an dem Nachlass des Olympiers. Angesichts dieser entscheidenden Stellung des Nachlasses für die Vorhaben, die Verfahren, ja auch für den Aufbau und die Einrichtung einer ganzen wissenschaftlichen Disziplin kann es kaum verwundern, dass schon bald die Forderung nach der professionellen Bewahrung, Erschließung und Erforschung von literarischen Nachlässen laut wird. Und dass Schriftsteller, die wie Goethe bereits zu Lebzeiten ein Gegenstand erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit und intensiver philologischer Beobachtung sind, ihre unvollendeten und unveröffentlichten Papiere nun als wertvolles kulturelles Erbe und zukünftiges Quellen­reservoir germanistischer Forschung begreifen. Schriftsteller versuchen fortan ihren Nachruhm sicherzu­stellen, indem sie ihren papiernen Nachlass vorab für die philologische Forschung präparieren.

Ein eindrückliches Beispiel hierfür liefert Thomas Mann, der schon seit den dreißiger Jahren ein vielbeachteter Untersuchungsgegenstand der Neuphilologie gewesen ist – und diese Wahrnehmung durch die Germanistik selbst wiederum beobachtete und in seinem Sinne zu beeinflussen versuchte. Es konnte ihn deshalb auch nicht überraschen, dass die Bibliothek der Universität Yale, die bereits Manuskripte von ihm verwahrte und sich wie einige andere Universitätsbibliotheken der Vereinigten Staaten schon sehr früh um den Erwerb der Vorlässe eminenter Schriftsteller bemühte, Anfang der fünfziger Jahre großes Interesse an weiteren Handschriften artikulierte.

Thomas Mann wird, wie er in seinem Tagebuch Mitte Dezember 1950 notiert, darüber unterrichtet, „daß Yale die Verhandlungen über den Preis der nun aufgelassenen Sammlung, und was hinzukommt, eröffnen möchte“. Sofort macht sich die Familie Mann an die Sichtung des Materials: „Ausräumung der Manuskript Massen und beginnende Lese und Kata­logisierung durch K. und Erika im mit Papier überschwemmten Wohnzimmer. Mein ‚Nachlaß‘. Kurios. Erstaunlich, was ich alles nur in den amerikanischen Jahren neben dem Werk zusammengeschrieben.“

Der Tagebucheintrag macht deutlich, dass Mann die unpublizierten „Manuskript Massen“ des Nachlasses klar von dem publizierten „Werk“ geschieden wissen will und dass „Nachlass“ für Mann bereits ein gebräuchlicher, wenn auch mit distanzierenden Anführungszeichen gebrauchter Begriff ist – wobei die Anführungszeichen hier vermutlich auch deshalb Verwendung finden, weil über den Nachlass schon zu Lebzeiten des Dichters verhandelt wird. Der Nachlass ist bereits hier zu einem Vorlass geworden.

Diese Tendenz hat sich in den Dekaden seit Manns beiläufiger Tagebuchnotiz deutlich verstärkt: Im deutschsprachigen Raum spielt in jüngerer Zeit der Vorlass beim Erwerb der späteren Schriftstellernachlässe durch Bibliotheken und Literaturarchive eine immer wichtigere Rolle. Auch jüngere Schriftsteller, die noch weit vom Ende ihrer schriftstellerischen Laufbahn entfernt sind, beginnen deshalb, über den eigenen Vorlass nachzudenken. Man mag sich dann an die im Sport-, Musik- und Filmbusiness weitverbreiteten Autobiographien von Mittzwanzigern erinnert fühlen oder sich wie der langjährige und aufmerksame Beobachter des deutschen Literaturbetriebs Hans Bender in einem „Junger Dichter“ betitelten Vierzeiler darüber mokieren: „Er schreibt nicht nur, / er gibt schon den Vorlaß / nach Marbach. / Der wird ein Klassiker!“ Bemüht ironische Distanzierungsgesten dieser Art unterstreichen nur, dass die postumen Papiere in der verwickelten Beziehungsgeschichte von Autoren und Philologen längst zu einem zentralen Bezugsobjekt geworden sind.

Wie verändert sich aber unser Verhältnis zur Literatur, wenn Schriftsteller damit anfangen, eine systematische Selbstarchivierung zu betreiben? Søren Kierkegaard hat sich diese Frage bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestellt. In seinem 1843 veröffentlichten „Entweder – Oder“ ist deshalb von einer ebenso rätselhaften wie reizvollen neuen Kunst die Rede: Der „Kunst, nachgelassene Papiere zu schreiben“. Man könnte heute leicht den Eindruck erhalten, immer mehr Schriftsteller übten sich in genau dieser Kunst. Wie ist es aber zu verstehen, dass Schriftsteller, die durch erfolgreiche Publikationen aufgefallen sind, den Archivaren schon in der Mitte des Lebens ihre Schriften für einen künftigen Nachlass übergeben? Darf man darin die neue, von Kierkegaard einst angeregte Kunst „nachgelassene Papiere zu schreiben“ erkennen?

Vermutlich nicht. In Kierkegaards „Entweder – Oder“, das selbst auf der Fiktion der Herausgabe zweier Nachlässe basiert, fordert eine der enigmatischen Erzählerfiguren mit der Kunst „nachgelassene Papiere zu schreiben“ eine ganz neue Schreibhaltung, die jeder schriftstellerischen Verfügungsgewalt über das Geschriebene entsagt, indem sie es nicht dabei belässt, bloß die Vorfassungen und Varianten der eigenen Publikationen für den Nachlass aufzubewahren, sondern das gesamte Œuvre einer postumen Publikation vorbehält – und es damit der Gegenwart vollständig entzieht.

Die erhöhte Aufmerksamkeit, die der Institution des Nachlasses in der Moderne zugefallen ist, hat nicht dazu geführt, dass diese werkkritische Entsagungspoetik postumer Publikation sich durchgesetzt hätte. Ganz im Gegenteil: Im Rahmen einer Verstaatlichung und Verwissenschaftlichung der Dichterverehrung sind postume Papiere, um einen Neologismus des Literaturwissenschaftlers Gérard Genette zu benutzen, für viele Autoren heute längst zu einem wichtigen Aspekt bereits zu Lebzeiten erfolgender Werkpolitik geworden. Der Wunsch, frühzeitig kulturelle Vorsorge im Medium des literarischen Vorlasses zu betreiben, erklärt sich also nicht nur aus dem Bedürfnis, die eigene Altersvorsorge aus dem Verkauf des Vorlasses zu bestreiten, sondern muss als eine Geste verstanden werden, die auf eine Ausweitung der aktuellen Verfügungsgewalt des Schriftstellers über das eigene veröffentlichte Werk hinaus auf alle seine Schriftstücke zielt. Das Bedürfnis nach Werkherrschaft erstreckt sich nun auch auf die unpublizierten „postumen“ Papiere. Damit ist nicht, wie Kierkegaards „Entweder – Oder“ forderte, das gesamte literarische Werk ins postume Archiv verlagert worden, sondern umgekehrt das vormals postume Archiv mitten in die Gegenwart poetischer Produktivität gerückt worden. Dass neuerdings literarische Manuskripte schon vor ihrer Drucklegung das Marbacher Archiv erreichen, weiß dessen Leiter Ulrich von Bülow ebenso zu berichten wie den Umstand, dass manche Autoren ihre literarischen Arbeiten schon wenige Tage nach der Abfassung an die Archivare am Neckar schicken: Bei elektronischen Texten tendiere der Abstand zwischen Niederschrift und Archivierung sogar „potentiell gegen null“. Werden die Autoren demnächst also direkt auf einem Marbacher Server dichten und ihre Arbeiten dann augenblicklich auf einer Archiv-Cloud abspeichern? Ein Blick in Kierkegaards Heimatstadt reicht bereits aus, um diese Frage zu beantworten. Die Königliche Bibliothek zu Kopenhagen hat nämlich mit MyArchive ein Programm kreiert, das es nunmehr Schriftstellern erlaubt, ihre aktuelle Mailkorrespondenz als Vorlass auf einem Server der dänischen Nationalbibliothek selbst zu archivieren. Die nächsten Schritte lassen sich antizipieren: Sobald das papierne Pantheon durch eine digitale „Wolke“ abgelöst wird, die die gesamte aktuelle literarische Produktion eines Schriftstellers unmittelbar abspiegelt, wird dies den Nachlass gänzlich überflüssig machen: weil damit das moderne Prinzip „Nachlass“ die gesamte literarische Gegenwart vollständig unterworfen haben wird.

Das poetische Paradigma der Zukunft wird nicht, wie Kierkegaard dachte, das postume Werk sein, sondern, wie seine Landsleute zeigen, der permanent aktualisierte Selbstarchivierungs-Server. Wer heute an einem literarischen Lebenswerk arbeitet, schreibt meist auch schon an dem eigenen digitalen Nachlass zu Lebzeiten.