Momente der Moderne
Berlin-Hype und Berlin-Hass lagen schon immer dicht beieinander. Als Max Beckmann im Krisenjahr 1922 die Reichshauptstadt besuchte, war er nicht amüsiert. Für die Vorbereitung seiner Graphikmappe „Berliner Reise“ ging der damals im vergleichsweise beschaulichen Frankfurt am Main lebende Künstler studienhalber für zwei Monate nach Berlin. In seiner 1924 verfassten „Autobiographie“ heißt es lapidar: „Beckmann ist Berliner und lebt in Frankfurt a. M.“ In seinen Tagebüchern wetterte der Misanthrop Beckmann gegen Berlin, „dieses corrumpierte und temperamentlose Nest“.
Die zehn großformatigen Umdrucklithographien der „Berliner Reise“ nebst originaler Mappe, die nun mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder für die Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, erworben werden konnten, sprechen eine andere Sprache. Faszination und Abscheu vor dem Großstadtleben halten sich die Waage. Von Temperamentlosigkeit keine Spur. Die „Berliner Reise“, seinerzeit in 100 Exemplaren vom Berliner Kunsthändler und Verleger J. B. Neumann herausgegeben und mittlerweile zur absoluten Kunstmarkt-Rarität geworden, ist nur ein Teil des von der Kulturstiftung der Länder unterstützten Ankaufs. Die Berlinische Galerie erwarb zudem Otto Dix’ großartige Federzeichnung „So sah ich als Soldat aus“ von 1924. Das ebenfalls im Verbund der Berliner Landesmuseen etablierte Brücke-Museum kann sich über drei außergewöhnlich großformatige Zeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner freuen: „Große Frau im schwarzen Kleid“ (1908, Kohle), „Großes liegendes Mädchen im Wald“ (1910, Kohle) sowie „Liegendes Mädchen am Ofen“ (1908/09, Pastell). Alle Blätter stammen aus den Beständen der legendären Galerie von Karl und Josef Nierendorf – Karl Nierendorf hatte 1924 J. B. Neumanns Berliner Graphisches Kabinett übernommen. Die für Berlin ausgewählten Arbeiten – gewissermaßen eine Quintessenz aus 90 Jahren Galeriearbeit – wurden von Josef Nierendorfs Stiefsohn Florian Karsch veräußert.
Die Auswahl der Arbeiten ist das Ergebnis eines längeren Sichtungs- und Verhandlungsprozesses, in dem einige Ankaufswünsche der Museen auch unerfüllt bleiben mussten. Gleichwohl: Annelie Lütgens, seit zwei Jahren Leiterin der Graphischen Sammlung der Berlinischen Galerie, sieht man die Freude an, mit der sie das beinahe druckfrisch erhaltene 34. Exemplar der „Berliner Reise“ präsentiert. Für die Berlinische Galerie ist es ein Glücksfall, waren doch Druckgraphiken Beckmanns bislang so gut wie gar nicht vertreten in den ansonsten reichen Beständen ihrer Sammlung. Dafür zwei Fragmente des großen Gemäldes „Straße“ von 1914, das Beckmann 1928 voller Unzufriedenheit auseinander schnitt, eines davon mit einem Selbstbildnis.
Zwei Selbstporträts hat der passionierte Skeptiker und Selbstzweifler Beckmann auch in die „Berliner Reise“ aufgenommen: Auf der Illustration des Mappenumschlags geht der Künstler mit dem Handkoffer hausieren, hinten rechts sind die Titel der Einzelblätter auf einer Litfaßsäule angeschlagen. Auf dem zweiten Selbstporträt der Mappe blickt Beckmann, die Zigarrenspitze steil im Mund, trotzig vom Zeichentisch auf, gefangen in einem klaustrophobischen Spiegelkabinett.
Das drückend Enge ist allen Blättern der „Berliner Reise“ gemeinsam, ganz gleich, ob sich darauf die linke Berliner Intelligenz im Foyer von Max Reinhardts Großem Schauspielhaus beäugt oder ob sich Kriegsgewinnler mit ihren aufgeputzten Damen beim Nackttanz langweilen. Beckmanns Berlin-Blick sprießt im Akt des zeichnerischen Sehens giftig-mäandernd wie eine Sumpfblüte, es sind Beobachtungssplitter, die sich zum Kaleidoskop einer desillusioniert heruntergekommenen Gesellschaft verdichten. Traurig-schönes Großstadt-Weltleben, Theater fast, so munter wie gnadenlos, virtuos eingezwängt in spätexpressionistisches Rahmenwerk.
Da war Otto Dix, ein anderer großer Einzelgänger der deutschen Zwischenkriegskunst, ein ganz anderes Temperament. Auf seiner Zeichnung „So sah ich als Soldat aus“ präsentiert er sich, das Maschinengewehr im Arm und die Selbstgedrehte im Mund, als cooler Typ: ein abgebrühter Frontsoldat, das Einschussloch im Helm wie einen Orden vor sich hertragend, dem nichts mehr wirklich etwas anhaben kann. Dix, den die Nazis 1933 wegen „Wehrkraftzersetzung“ von seiner Dresdner Professorenstelle jagten, war eben nicht nur ein scharfer Beobachter der Weltkriegsgräuel – sondern, wie die Karl Nierendorf gewidmete Federzeichnung zeigt, auch ein begnadeter Mythenproduzent seiner selbst.
Wie etliche seiner Künstlerkollegen hatte sich Dix zu Kriegsbeginn freiwillig gemeldet, bald jedoch die Sinnlosigkeit des Gemetzels nicht nur erkannt, sondern künstlerisch adäquat umzusetzen vermocht. Seine Innenansichten aus dem Schützengraben trugen ihm scharfe Angriffe der ewig Gestrigen ein. In zahlreichen Werken, gipfelnd im 1929 bis 1932 gemalten Triptychon „Der Krieg“ (Gemäldegalerie Neue Meister Dresden), demonstrierte Dix seine im Krieg gewonnene pazifistische Grundhaltung. „So sah ich als Soldat aus“ untermauert diese in Stahlgewittern ertrotzte conditio humana, indem das Blatt auch die individuelle Verstrickung des Künstlers anspricht.
Dix zeichnete sein Konterfei offensichtlich auf das Vorsatzpapier eines Probedrucks seiner Graphikmappe „Der Krieg“, 50 drastisch anklagende Radierungen, die wiederum Karl Nierendorf 1924 verlegte. Der exakte Widmungstext für den engagierten Kunsthändler lautet: „Diese II. Probe der Kriegsmappe widme ich Karl Nierendorf im Juni 1924“. Eine Vergewisserung auch gegenüber dem eigenen Kunsthändler, der den künstlerisch-weltanschaulichen Offenbarungseid seines Künstlers zu vertreten hatte.
Um Bekenntnisse eher privater Natur geht es in den drei großformatigen Zeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner, die als Ankauf für das Brücke-Museum gesichert werden konnten. Zwei der drei Blätter, „Große Frau in schwarzem Kleid“ und „Liegendes Mädchen am Ofen“, sind derzeit zu bewundern in der Ausstellung „Meisterstücke. Die schönsten Neuerwerbungen des Brücke-Museums“ (bis 6. Oktober 2013), mit der sich die Museumsdirektorin Magdalena M. Moeller in den Ruhestand verabschiedet. Selbst in dieser erlesenen Nachbarschaft, die die Ankäufe der letzten 25 Jahre rekapituliert, fallen die neu erworbenen Blätter auf: aufgrund ihrer Größe und ihrer herausragenden Qualität.
Die Jahre zwischen 1908 und 1910, denen alle drei Arbeiten entstammen, waren für Ernst Ludwig Kirchner und die anderen „Brücke“-Künstler von entscheidender Bedeutung. Mit den sogenannten Viertelstundenakten, dem spontanen, schnellen Arbeiten vor dem Modell im Atelier oder in der Natur, hatten die einstigen Architekturstudenten der Dresdner TH ein Werkzeug etabliert, das ihre Abkehr von den akademischen Standards von Sorgfalt und Abbildlichkeit produktiv ummünzte. Mit Fränzi Fehrmann (1900 –1950) und anderen standen ein paar noch sehr junge Modelle zur Verfügung, die am Leben und Schaffen der Maler teilhatten und mit ihren kindlich-androgynen Körpern dem eckigen, harten Kollektivstil der „Brücke“ entsprachen, der sich gegen 1910 in Auseinandersetzung mit der Kunst Ozeaniens herausgebildet hat.
Von seinem Vater Ernst Kirchner, der als Chemiker in der Papierindustrie tätig war, bekam Kirchner als Warenmuster benutzte übergroße Papierbögen. Die darauf entstandenen etwa 15 Zeichnungen, die Kirchner-Experten als eigene Werkgruppe betrachten, tauchen auf dem Kunstmarkt nur äußerst selten auf. Blätter wie „Große Frau in schwarzem Kleid“ und „Großes liegendes Mädchen im Wald“ (jeweils ca. 70 mal 90 Zentimeter) gelten nicht nur durch ihr herausgehobenes Format als eigenständige, den Gemälden gleichwertige Werke des Künstlers. Kirchner selbst erkannte die herausragende Qualität seiner Arbeiten, äußerte er doch anlässlich seiner großen Einzelausstellung in der Kunsthalle Bern gegenüber deren Direktor Max Huggler: „Das Sehen der großen Zeichnungen in der Ausstellung machte mir große Lust, wieder so große zu machen.“
„Große Frau in schwarzem Kleid“, 1933 in Bern ausgestellt, hat Kirchner damals aus der Erinnerung auf 1904 vordatiert. Die in kraftvollen Schwüngen der Zeichenkohle modellierte Frau mit Hut, die sich lässig auf die Armlehne eines Sofas oder Kanapees stützt, ist vermutlich Kirchners Dresdner Freundin Doris Große, genannt Dodo. Die überzeugende Spannung zwischen Linie und Fläche, die selbstverständlich wirkende Reduktion auf das Wesentliche und, bei der Pastellkreidezeichnung „Liegendes Mädchen am Ofen“, der dezidiert nicht naturalistische Einsatz der Farbe – all das zeigt Kirchners souveränen Umgang mit dem großen Vorbild Henri Matisse. Im Januar 1909 besuchte der Dresdner in Paul Cassirers Berliner Galerie eine Matisse-Ausstellung: ein tief beglückendes Schockerlebnis. Zeitlich wie inhaltlich umreißen die drei Zeichnungen für das Brücke-Museum diese Phase der Neuorientierung. Und bestens ergänzen sie die 1999 mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder für das Museum erworbenen Kirchner-Zeichnungen der Sammlung Karlheinz Gabler.
„Der beste Prüfstein für die künstlerische Arbeit des Bildenden ist die Zeichnung, die Skizze. In ihrer unmittelbaren Ekstase erfassen sie die reinsten und feinsten Gefühle des Schaffenden an der Fläche in fertigen Hieroglyphen“, vertraut Kirchner 1919 im expressiven Überschwang dem Tagebuch an. Die Bekräftigung des Sehens beim Zeichnen ist ein intimer Akt. Ein großzügiges Genie wie Ernst Ludwig Kirchner lässt sich dabei mit Gewinn für den Betrachter bereitwillig in die Karten schauen.