Moderne Linie

Der in Belgien geborene Künstler, Architekt und Designer Henry van de Velde (1863–1957) reformierte mit seiner an Funktionalität orientierten Ästhetik den Formengeschmack seiner Zeit: Ganz dem Credo „die Linie ist eine Kraft“ verpflichtet, nimmt sein Œuvre dabei nicht nur die Prinzipien des Bauhauses vorweg, sondern demonstriert anschaulich den Übergang vom Jugendstil zur künstlerischen Moderne. Beispielhaft steht hierfür die 1903 entworfene silberne Obstschale, deren Korpus van de Velde zu einer einzigen fließenden Linie reduzierte. Die Neuerwerbung des MAKK steht in der Tradition der sogenannten Jardinière, einer Schale für dekorative Blumenensembles oder opulente Obstarrangements. Das schlichte, aber gerade dank seiner eleganten Rundungen anspruchsvolle Design setzte der Weimarer Hofjuwelier und Silberschmied Theodor Müller (1838–1908) meisterlich für van de Velde um. Bei genauerer Betrachtung offenbart das schlichtgehaltene, in der Länge 35,5 cm messende Silberstück raffinierte Details: Neben geschwungenen Einkerbungen an den Konturen und organisch eingearbeiteten Griffmulden an den beiden Schmalseiten fasst der bootsförmige Körper außerdem einen teilversilberten Messingeinsatz, der sich mit leichtem Druck lösen und wieder einfügen lässt.

Henry van de Velde, Silber-Jardinière, 35,5 cm x 21,5 cm x 8,5 cm, MAKK Köln; © VG Bild-Kunst, Bonn 2017/ Foto: Jan Rothstein
Henry van de Velde, Silber-Jardinière, 35,5 cm x 21,5 cm x 8,5 cm, MAKK Köln; © VG Bild-Kunst, Bonn 2017/ Foto: Jan Rothstein

Während van de Velde seine Karriere ursprünglich als Maler begonnen hatte, widmete er sich ab 1892 der angewandten Kunst. Der gebürtige Antwerpener zog 1902 nach Weimar, wo er dem dortigen Großherzog Wilhelm Ernst (1868–1937) als künstlerischer Berater diente. Ein Auftrag der Beamtenschaft zur Hochzeit des Großherzogs war schließlich für van de Veldes Durchbruch verantwortlich: Das vielteilige, von van de Velde entworfene Silbergeschenk zur Vermählung des Großherzogs mit Prinzessin Caroline von Reuß enthielt u. a. die Besteckserie „Modell I“ – ein Entwurf, der in Produktion zu einem ungeahnten Erfolg werden sollte. Förderer van de Veldes waren neben dem Großherzog in Weimar wohlhabende Freunde in Berlin, darunter die berühmten Sammler Harry Graf Kessler und Karl Ernst Osthaus. Dank seiner revolutionären Ideen u. a. für Möbel, Geschirr, aber auch Taschen, Dekorelemente, Wohnraumgestaltung und Architektur avancierte Henry van de Velde schließlich zum Erneuerer der angewandten Kunst; seine moderne, dem Funktionalismus verpflichtete Gestaltung entwickelte europaweite Strahlkraft. Den Ansatz einer vom Zweck bestimmten Form propagierte van de Velde ab 1907 sodann auch im von ihm mitbegründeten Deutschen Werkbund, einem Verein an der Schnittstelle von Kunst, Industrie und Handwerk zur „Veredelung der gewerblichen Arbeit“, und als Gründer und Direktor der Kunstgewerbeschule in Weimar – dem Vorläufer des späteren Staatlichen Bauhauses.

Teil des großherzoglichen Hochzeitsgeschenks waren seinerzeit bereits silberne Jardinièren van de Veldes, deren Gestaltung jedoch noch stark der floralen Formensprache des Art Nouveau folgte. Verschiedene Quellen dokumentieren zudem, dass vormals zwei weitere, von moderner Linie geprägte Jardienièren existierten: Diese 1905 entstandenen Stücke für Kunden van de Veldes haben sich jedoch nicht erhalten. Als einzige ihrer Art überdauerte die Obstschale von 1903: Das nun durch das MAKK erworbene, wertvolle Silberobjekt war über die Jahre hinweg im Familienbesitz bzw. im Privatbesitz des letzten Eigentümers des Wohnhauses van de Veldes, der Villa Bloemenwerf bei Brüssel.

Durch den Ankaufsetat der Stadt Köln und mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder gelingt es dem MAKK nun, das silberne Unikat für seine Historische Schausammlung zu erwerben und den eigenen Van-de-Velde-Bestand zu erweitern. Bevor sie dort jedoch dauerhaft zu sehen ist, können Besucher die Jardinière bis Januar 2018 in der Jugendstilabteilung des MAKK und anschließend bis Mai 2019 im Rahmen einer Sonderausstellung im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund bestaunen.