Mittendrin dabei
Der Podcast mit Klaus Lederer:
Herr Lederer, wie würden Sie den Begriff „Outreach“ mit wenigen Worten definieren?
Es geht darum, dass man Menschen, die aus verschiedensten Gründen Kultureinrichtungen fernbleiben und die ausgeschlossen sein könnten, versucht, zu erreichen und zu beteiligen. Und dass man dafür explizite Programme entwickelt, also spezielle Formate gegen soziale Ausgrenzung und Benachteiligung, und es geht um eine Veränderung der Organisationskultur in den Einrichtungen. Also letztlich darum, dass sich die Inhalte, der Kanon, die Programme der Kultureinrichtungen ändern.
Kann man sagen, das Verständnis von Outreach spiegelt ein sich veränderndes Verständnis von der Rolle der Kultur, der Kulturpolitik und auch der Kultureinrichtungen?
In gewisser Weise, ja. Aber das ist natürlich ein Reflex auf gesellschaftliche Veränderungen. Outreach muss gestärkt werden als Reaktion darauf, dass die gesellschaftliche Vielfalt zugenommen hat. Und darauf müssen Museen und Gedenkstätten reagieren. Sie müssen ein Angebot entwickeln. Sie müssen versuchen, diese Vielfalt auch zum Gegenstand ihrer eigenen inneren Prozesse zu machen. Bei der Bildung und Vermittlung von Museen und Gedenkstätten finden solche Entwicklungen schon länger statt. Aber jetzt geht es auch darum, alle Mitarbeitenden in den Museen und Gedenkstätten mit einzubeziehen. Und damit setzt Outreach genau dort an, wo bisher eine Lücke war. Das wirkt nämlich auf alle musealen Bereiche. Es geht dann eben auch ums Sammeln, ums Forschen, ums Bewahren, ums Vermitteln und nicht nur um den engeren Bereich der pädagogischen Vermittlungsarbeit.
Das jüngste Berliner Projekt, das vor wenigen Monaten zu Ende ging, hieß „Outreach-Kurator*innen“. Was ist da genau passiert?
Wir haben 2018 mit den großen landesgeförderten Museen und den großen Berliner Gedenkstätten begonnen und dieses Projekt im Haushalt damals auf zwei Jahre befristet. Und jetzt mit dem Haushaltsjahr 2020 haben wir auch die kleineren landesgeförderten Museen dazugenommen und an 16 vom Land Berlin geförderten Museen und Gedenkstätten unbefristete Stellen geschaffen, die Bestandteil des regulären Budgets dieser Einrichtungen sind. Dadurch ist es möglich, für Personalkontinuität zu sorgen, die Projekte, die da aufgesetzt werden, mit einer längeren Laufzeit zu versehen, feste Partner zu gewinnen, den partizipativen Aspekt auszubauen und dann auch wechselnde Schwerpunkte zu entwickeln.
Zwischen den Outreach-Kurator*innen, auch zwischen den Einrichtungen, ist ein Netzwerk entstanden. Aber auch innerhalb einer Einrichtung gewinnt die Notwendigkeit der Selbstbefragung der Einrichtung dadurch einen höheren Stellenwert, dass es jemanden gibt, der sich mit dem Befördern, mit dem Spiegeln, mit dem Hineinbringen solcher Aspekte in die Einrichtung auseinandersetzt. Wir merken das auch an einem Schub an Debatte und Neugier auf Neues in den Einrichtungen. Das ist richtig spürbar.
Wir verzeichnen, dass es inzwischen ein starkes Bewusstsein für das Thema gibt. Sowohl seitens der Leitungen, aber auch aller Mitarbeitenden in den Einrichtungen. Die haben natürlich jetzt Lockdown-bedingt ein paar Einschränkungen zu bewältigen. Aber selbst da versuchen sie, mit Online-Workshops zur Sensibilisierung der Kolleginnen und Kollegen beizutragen und Themen wie Diversität, Inklusion, Diskriminierung oder Vielfalt zu thematisieren.
Es sind jetzt auch Kooperationen zwischen den Häusern entstanden. Man hat neue Kooperationspartner in den Bezirken und in den Nachbarschaften gewonnen, egal, ob das Schulen sind, Kitas, Jugendklubs oder Theater. Das Ganze knüpft an zwei Strecken an, die wir in der Kulturverwaltung in den vergangenen Jahren entwickelt haben. So haben wir schon im Dezember 2016 das Projektbüro für Diversitätsentwicklung etabliert, gleich nach meinem Start in der Kulturverwaltung. Und wir haben in der Zwischenzeit auch ein Institut für kulturelle Teilhabeforschung entwickelt, das Nutzungs- und Nicht-Nutzungsdaten erhebt, also der Frage nachgeht: Warum gehen Menschen nicht in Kultureinrichtungen? Und in diesem Netzwerk kann man jetzt auch strategisch und konzeptionell die Selbstveränderung der Einrichtungen als dauerhaften Prozess betreiben. Ich finde, das ist ziemlich klasse, und die Rückmeldungen aus den Einrichtungen sind eigentlich durchweg positiv.
Man könnte sagen, Outreach bedeutet auch das Verändern der eigenen Haltung. Was sind denn die Schritte, deren Umsetzung Outreach-Kuratorinnen und -Kuratoren in ihren Einrichtungen angehen müssen?
Es ist wichtig, dass man abteilungsübergreifend plant, evaluiert und gestaltet und die Einrichtungen verstehen: Wir brauchen nicht nur eine neue Form des Marketings, sondern es geht letztlich darum, die Einrichtung zu einem Ort der Beteiligung und der Partizipation umzubauen. Und dazu braucht es dann eben auch inhaltliche Veränderungen.
Wichtig ist das Feedback, das Einbeziehen von Gesellschaft in die museumsinternen Prozesse, aber auch, sich offen zu zeigen für Impulse, für Kritik und Anregungen. Außerdem muss man sich befragen: Bilden wir eigentlich in unserer Sprache das ab, was in unserer Gesellschaft existiert? Haben wir Angebote für Menschen, die beispielsweise aufgrund von Behinderung bestimmte Zugangsbarrieren nicht einfach überwinden können? Wie erreicht man es, auch die Einrichtungen selbst als Orte des Diskurses, als Orte des kollaborierenden Entwickelns von Inhalten und auch von Formaten zu betrachten?
Wie funktioniert das denn konkret? Haben Sie vielleicht ein, zwei Beispiele?
Eine Einrichtung, die mit diesen Prozessen schon vorher sehr weit war, ist die Berlinische Galerie. Wir hatten zum Beispiel im Jahr 2019 das Programm „Standortwechsel“, wo die Berlinische Galerie zusammen mit „Jugend im Museum“ bisher wenig wahrgenommene Stimmen im Museumsraum zusammengeholt hat. Da wurde sozusagen eine Residenz für Berliner Kollektive entwickelt, die künstlerisch tätig sind, aber nicht ohne weiteres Zugang haben, und mit Künstlerinnen und Künstlern, die schon lange mit benachteiligten Gruppen arbeiten. Die Berlinische Galerie hat über ein Jahr hinweg diese Menschen eingeladen, einmal wöchentlich ins Museum zu kommen, dort zu arbeiten und eine für alle Menschen offene Werkstatt anzulegen. Durch das Hereinholen Dritter wird der eigene Standort nicht nur im geographischen Sinne, sondern auch in inhaltlicher Weise erweitert und überdacht. Die erste Gruppe, die eingeladen wurde, war die Kunstwerkstatt Kreuzberg der Lebenshilfe, eine sogenannte Behindertenwerkstatt. Die Gruppe war 2019 einmal pro Woche im Atelier Bunter Jakob und hat in den Ausstellungen Einblicke organisiert, hat Tanzperformances gemacht, hat sozusagen auch zur Kritik und zum Reflektieren künstlerischer Methoden eingeladen. Daraus sind dann auch neue Kunstwerke entstanden.
Und am Ende hat die Berlinische Galerie eine Ausstellung mit dem Titel „207m2. Raum für Aktion und Kooperation“ gemacht, die das Ergebnis dieser Arbeit zeigte. Dort konnten dann auch das Stammpublikum und natürlich die Kolleginnen und Kollegen aus der Einrichtung selbst einen Eindruck von diesen Arbeiten gewinnen. So wurden einfach ein paar der Selbstverständlichkeiten und Konventionen hinterfragt, die normalerweise in einem Kunstmuseum gelten, und das hat richtig Leben in den Museumsalltag gebracht.
Nun hat die Berlinische Galerie mit Thomas Köhler eine Hausspitze, die sehr offen ist für solche Prozesse. Das ist sicherlich nicht in allen Einrichtungen so. Solche Change-Prozesse können auch zu Frustrationen führen, bei den Outreach-Kuratorinnen und -Kuratoren, weil es nicht so schnell geht wie gewünscht, aber auch bei den Kolleginnen und Kollegen, die plötzlich die gewohnte Routine hinter sich lassen sollen.
Natürlich braucht das Verändern von Strukturen Zeit. Ich sehe aber die feste Etablierung unserer Outreach-Kolleginnen und -kollegen in den Einrichtungen als eine Möglichkeit, solche Prozesse zu unterstützen, zu begleiten und auch zu beschleunigen. Trotzdem ist das nicht konfliktfrei, aber das gehört dazu. Die Einrichtungen sollen ja nicht Tempel des Wissens sein, in denen von oben nach unten durchgestellt wird, was jetzt Gegenstand der Arbeit ist, sondern soetwas muss natürlich im Netzwerk miteinander entwickelt werden.
Der Prozess selbst ist dabei extrem wichtig. Die Berlinische Galerie hat irgendwann ganz selbstverständlich begonnen, in jeder ihrer Ausstellungen Tastmodelle für blinde und sehbehinderte Menschen zu etablieren. Das ist inzwischen ein fester Bestandteil des Ganzen. Im Brücke-Museum haben sich durch dieses Outreach-Programm Kooperationen mit zwei Jugendzentren und einer sogenannten Behindertenwerkstatt, der LebensWerkGemeinschaft, entwickelt. Da wird jetzt ein Programm geplant, im Museum wird ein Pavillon gebaut, wo die Forstgruppe der LebensWerkGemeinschaft mitbaut und sich mit ihrer Expertise einbringt. Und damit erreicht man auf eine sehr unprätentiöse, sehr schöne und lebensnahe Weise, dass in den Einrichtungen selbst eine Sensibilisierung wächst in Bezug auf Ausgrenzungen, Inklusion und Exklusion, Diskriminierungsvorgänge, Rassismus und auch Sprache. Es geht darum, die Einrichtungen selbst in die Lage zu versetzen, solche Prozesse als Gewinn, als einen Schritt zur Weiterentwicklung zu betrachten. Ich habe das Gefühl, es gelingt.
Gehen wir mal davon aus, dass es gelingt: Wie werden die Kultureinrichtungen, wie wird die Kulturlandschaft dann in 10 oder 20 Jahren aussehen?
Man darf ja mal ein bisschen träumen. Ich hoffe, dass sie tatsächlich nicht oder nicht erst oder nicht ausschließlich Orte der kulturellen Bildung für ein spezifisches Publikum sind, das durch Sozialisation oder soziale Verhältnisse eine bildungsbürgerliche Affinität hat, sondern dass sie tatsächlich als Orte begriffen werden, an die viele Menschen gerne gehen, weil man dort auch etwas über seine Gesellschaft, über sich selbst, über die Gegenwart, über gesellschaftliche Prozesse lernt, auch Krisen zu meistern. Wir sind mitten in einer Pandemie und vor uns steht der Klimawandel als eine ganz massive, existentielle Menschheitsherausforderung. Ich glaube, dass uns die Geschichte, dass uns die Museen, das Sammlungsgut in den Einrichtungen eine Menge darüber verraten können. Und wir müssen dafür sorgen, dass das inhaltliche Angebot der Häuser auch ein Angebot ist, das wirklich viele unterschiedliche Menschen, also auch viele Teile der Bevölkerung, auf spezifische und geeignete Art und Weise anspricht. Und wenn das gelingt, dann haben wir, glaube ich, etwas wirklich Schönes erreicht.
Herr Lederer, herzlichen Dank für das Gespräch.