Das Pathos der Freiheit

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Herr Hinrichsen, als Beethoven fünf Jahre alt war, wurde die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet. Als er 19 Jahre alt war, begann die Französische Revolution. Man kann sagen: Beethoven ist Zeitzeuge im Zeitalter der Ideen und der Werte der Aufklärung.

Ja, das ist eine Zeitgenossenschaft, die Beethoven natürlich mit vielen seiner heute berühmten Zeitgenossen wie ­Hölderlin, Hegel und anderen teilt. Und ich halte es für nicht belanglos. Es sind eben die universalen Menschenrechte, also die, die wir in der westlichen Welt zumindest für universal halten, die damals deklariert wurden. Und das hat der junge Beethoven mitbekommen und das wird sicherlich Folgen gehabt haben für seinen gesamten geistigen Habitus.

Bevor wir zu Beethoven kommen, wollen wir noch über eine dritte Revolution sprechen, die, das ist eine zentrale These in Ihrem 2019 erschienenen Buch, Beethoven stark beeinflusst hat: Als eine „Revolution der Denkungsart“, hat Immanuel Kant seine Philosophie selber bezeichnet. Was war denn daran so revolutionär?

Kants Philosophie wird eigentlich bis heute in Philosophiegeschichten als die Revolution der neuzeitlichen Philosophie empfunden, und schon die Zeitgenossen haben von einer Revolution der Denkart gesprochen. Im Grunde wird hier ein ganzes traditionelles schulphilosophisches System der Metaphysik zu Grabe getragen. Hier wird die Basis gelegt für unser gesamtes neuzeitliches modernes Weltbild, das in diesem Sinne ganz ohne Metaphysik auskommt. Das spaltet sich nun auf in Erkenntnistheorie, in Moralphilosophie, in Naturphilosophie. Das im Einzelnen darzulegen würde sicherlich einige Stunden dauern. Die Grundlage all’ dessen ist wahrscheinlich zunächst die destruktive Leistung der Kritik der reinen Vernunft, die – für die Zeitgenossen spektakulär – alle traditionellen Gottesbeweise ad acta gelegt hat, das ist ein mittlerer Skandal gewesen, und die menschliche Erkenntnisfähigkeit, die Vernunftfähigkeit, das meint nämlich der Titel „Kritik der reinen Vernunft“ eigentlich, streng begrenzt hat auf das Erfahrbare. Ins Übersinnliche kann der Mensch nicht hineinschauen. Mit der Erkenntnis leben wir heute. Die Erfahrung oder die Erkenntnis, die der Mensch machen kann oder die menschliche Vernunft machen kann, ist ganz strikt auf die erfahrbare, uns umgebende Welt beschränkt. Und die wiederum richtet sich aber nun, das ist eine weitere Pointe der Kant’schen Erkenntnistheorie, nach den apriorischen Bedingungen unseres Verstandes oder unserer Vernunft. Unser Verstand prägt dem, was wir erkennen, die Formen auf. Man könnte sagen: Wir erkennen die Welt so, wie sie uns erscheint, nicht, wie sie ist.

Wenn wir also – weil wir nicht anders können – die Natur so anschauen, als sei in der Natur alles durch Ursache und Wirkung, also Kausalität determiniert, dann dürfte es in der Natur keinen freien Willen geben. Kant stellt daher die Frage, wie freier Wille, wie Freiheit möglich ist, und beantwortet sie so: Der Mensch kann seinen Willen bestimmen aus einer Sphäre, die eben nicht Teil der Natur ist: aus der Vernunft!

Ja, das ist im Grunde von Anfang an das Anliegen auch schon der Destruktivität der Kritik der reinen Vernunft, nämlich konstruktiv das Feld zu bestellen, auf dem dann doch eine wissenschaftliche Metaphysik möglich ist, so nennt Kant sie durchaus. Das ist dann sozusagen die wissenschaftliche Freiheitslehre. Es geht dann eigentlich um Moralphilosophie und um das Menschenbild der Aufklärung. Der Mensch ist in seinem Handeln frei. Das zu beweisen, ist eine sehr komplizierte Sache, für die Kant Jahre gebraucht hat. Das geht dann über mehrere Schriften bis zur Kritik der praktischen Vernunft und den Folgeschriften. Aber: Machbar und denkbar ist das nach Kant überhaupt nur unter der Voraussetzung, dass es neben der unserer Erfahrung zugänglichen Natur, die wir ja logisch strukturieren durch unseren Erkenntnisapparat, noch einen weiteren Bereich des Übersinnlichen gibt, in den wir nicht hineinschauen können, aus dem unsere Freiheit kommt. Das muss so sein, weil sie aus der Natur nicht kommen kann. D. h. Menschen sind einerseits Naturwesen, auf der anderen Seite aber eben auch Vernunftwesen, und mit diesem Teil ihres Wesens sind sie in der Lage, sich frei zu verhalten, frei, also moralisch zu handeln, heißt das für Kant. „Frei“ heißt eigentlich immer vernunftstrukturiert und moralisch, und ich nehme an, dass der Gedanke auch für Beethoven ein Faszinosum gewesen ist: also der Selbstgesetzgebung, der moralischen Selbstbestimmung aus der vernünftigen Freiheit heraus. Der kategorische Imperativ ist ja übrigens nicht etwas, wie oft missverstanden wird, was Kant erst formuliert oder vorschreibt, sondern die Pointe seiner Philosophie ist, dass der kategorische Imperativ, also so zu handeln, dass die Maxime des eigenen Handelns auch allgemeines Gesetz sein könnte, für alle vernünftigen Wesen gelten muss. Das ist etwas, was sich in jedem Vernunftwesen vorfindet.

Kant versucht in der Kritik der Urteilskraft diese beiden Maximen, die den Willen bestimmen können, nämlich die der Freiheit und die der Natur miteinander zu versöhnen. Wie funktioniert das?

Das ist auch wieder schwierig, das in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Die Idee der Kritik der Urteilskraft ist ja eigentlich, neben den beiden Vermögen des Verstandes und der Vernunft noch ein weiteres zu entdecken oder auszubuchstabieren, nämlich das der reflektierenden Urteilskraft. Reflektierende Urteilskraft heißt: Besonderes zu beobachten und dazu das Allgemeine überhaupt erst finden zu können. Während wir vorher das Allgemeine kennen, also eine gewisse Gesetzmäßigkeit und das Besondere darunter subsumieren, können wir zum Beispiel in der Erfahrung schöner Kunst oder schöner Natur das ­Besondere sehen, ohne es unter ein allgemeines Gesetz bringen zu können. Das heißt Anwendung der reflektierenden Urteilskraft, ein „freies Spiel“ – sagt Kant – von Einbildungskraft und Verstand. Und daraus können wir möglicherweise so etwas wie eine Hoffnung gewinnen, dass wir innerhalb der Natur, die eben nach Naturgesetzen abläuft, vermittelt mit unserer vernunftbestimmten, vernunftbasierten Freiheit, die irgendwo im Übersinnlichen wurzelt, in der uns umgebenden Welt zurechtkommen und sinnvoll handeln können. Wir müssen also so tun, als ob das möglich wäre. „Als ob“ ist, glaube ich, einer der wichtigsten Begriffe der Kritik der Urteilskraft. Es ist nicht gewiss, sondern das ist gewissermaßen eine Basis der Hoffnung.

Aus der Perspektive der reflektierenden Urteilskraft entwickelt Kant auch zwei Begriffe, die für die Behandlung – gleich wollen wir über die Musik von Beethoven sprechen – wichtig sind: nämlich das Schöne und das Erhabene.

„Schön“ und „Erhaben“ gibt es im ästhetischen und auch im moralphilosophischen Diskurs des 18. Jahrhunderts schon seit längerem. Was Kant macht, ist, dass er auch hier eine Revolution anstellt, indem er diese beiden Begriffe ­völlig neu definiert. Wenn wir die Erfahrung des Schönen machen, die sich eben nicht begrifflich bestimmen lässt, dann befinden sich zwei Gemütskräfte, unsere Einbildungskraft und unser Verstand, in schöner Balance. Das ist ein angenehmes Gefühl, das ist ein Wohlgefallen, das wir dort empfinden. Wir haben auch kein Interesse an den Gegenständen. Sie lassen uns frei, wir verhalten uns frei ihnen ­gegenüber, d. h. die menschlichen Gemütskräfte befinden sich in einer schönen Harmonie.

Immanuel Kant (1724 – 1804) „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. […] Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“. — Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft, 1788 © Bildarchiv Ostpreußen
Wenn wir das Erhabene – wiederum an der Natur exemplifiziert bei Kant – sehen, zum Beispiel einen stürmischen Ozean, der uns zu vernichten droht oder einen überhängenden Felsen im Hoch­gebirge – das sind Beispiele, die Kant nutzt –, dann sind das unangenehme Eindrücke, die absolut zu keiner Harmonie der Empfindungen und der Gemütskräfte führen, sondern Widerstand hervorrufen. Und diesen Widerstand im Subjekt zu entdecken, das ist das, was Kant „das Erhabene“ nennt. Denn das, was das Subjekt, so wie es Kant sieht, dagegen aufbietet, ist eben sein moralisches Vermögen, seine Fähigkeit, aus der Vernunft heraus dem physisch Überwältigenden ein übersinnliches Freiheitsvermögen entgegenstellen zu können, d. h. der Mensch entdeckt sich eigentlich als Moralwesen im Anblick der erhabenen furchterregenden Natur, das ist also so ein zweischrittiges Verfahren. Und das zusammenzubringen, das Schöne und Erhabene in einer Ästhetik, das ist eine Herausforderung, der sich dann später Schiller gestellt hat, die er wahrscheinlich nicht bewältigt hat. Und das sind zwei Dinge, die auch in ­Beethovens Musik meiner Meinung nach eine Rolle spielen, durchaus getrennt voneinander mit dem Versuch, sie auch zu vermitteln. Das sind ja erst einmal sehr schwierige, vor allem nicht nur ästhetische, sondern auch moralphilosophische Kategorien bei Kant.

Schiller hat ja den kategorischen Imperativ mutmaßlich missverstanden. Er hat den vermeintlichen Rigorismus des kategorischen Imperativs kritisiert, dass wir nämlich immer vernünftig und aus Pflicht handeln müssen und dabei Neigungen keine Rolle spielen dürfen, weil Handlungen sonst nicht moralisch sind. Und er hat gesagt: Wir brauchen eine Harmonie zwischen Pflicht und Neigung. Für diese Harmonie nutzt Schiller den Begriff der „schönen Seele“, in der Pflicht und Neigungen in Harmonie sind. Und die wird dann sichtbar in der „Anmut“, ein weiterer Begriff von Schiller. Schönheit ist nach Schiller „Freiheit in der Erscheinung“, das bedeutet natürlich, dass die Sphäre der Vernunft in der Sphäre der Natur sichtbar wird.

Und das geht natürlich nach kantischen strengen Voraussetzungen gar nicht. In der Erscheinungswelt, das ist ja die der erscheinenden Natur, die nach Naturgesetzen rigoros beispielsweise nach den Gesetzen der Kausalität funktioniert, kann es Freiheit nicht geben. Das ergibt sich logisch und zwingend aus dem vorher Gesagten. Aber Schiller ist so raffiniert, zu behaupten, dass das Schöne und auch das Schöne der Kunst so etwas wie Freiheit im Erscheinenden doch imaginieren lassen. Das ist ein sehr intelligenter und kluger Gedanke, der nicht ganz, glaube ich, mit Kant´schen Prämissen zusammenzubringen ist. Aber er ist sehr typisch für Schiller.

Für Schiller ist Kants Rigorismus zunächst ein Skandalon, dem man sich allerdings nicht entziehen kann. Schillers ästhetische Bemühungen sind natürlich irgendwo auch moralphilosophisch und auch anthropologisch motiviert, um Kant mit seinem eigenen Menschenbild, sagen wir mal: in eine Harmonie zu bringen. Und die ästhetische Erziehung, die ­Schiller sich später ausdenkt in den berühmten gleichnamigen Briefen, läuft ja darauf hinaus, die beiden Seiten des Menschen, also die vernünftige und die sinnliche so in eine Harmonie zu bringen, dass damit gleichzeitig auch ein politisches Problem gelöst ist, das Schiller mit Schrecken beobachtet hat, nämlich die in den Terror übergehende Phase der Menschheitsbeglückung der Französischen Revolution. Einem ästhetisch gebildeten und insofern moralischen Menschen hätte so etwas nicht passieren können. Da hätte es dann keinen Robespierre gegeben.

Und deswegen stellt Schiller sich die Frage: Wie können wir den Menschen zur Moralität erziehen? In seinem Werk „Die Bühne als moralische Anstalt“ entwickelt Schiller die Vorstellungen von einem Theater als einem Spiegel der Gesellschaft und der Schaubühne als einem Mittel zum Zweck der moralischen Erziehung.

Ja, und zwar insofern, als man dort ästhetische Erfahrungen macht. Man kriegt nicht einfach Moral gepredigt von der Bühne, sondern man macht eine ästhetische Erfahrung auch des Schönen und auch des Erhabenen, die einen zu einem Wesen macht, das sich moralisch und politisch anständig verhalten kann, so wird Schiller das gesehen haben. ­Wobei es da mehrere Phasen gibt, aber so könnte man es – glaube ich – auf einen Begriff bringen. Und das könnte uns übrigens auch zu Beethoven führen, weil Beethoven, der ein notorischer Schiller-Fan gewesen ist, sein­ ganzes Leben lang vermutlich dort auch Spuren für sein Selbstverständnis ent­deckt hat. Also als moralisch-ästhetischer Erzieher, vor allem ästhetischer Erzieher, wird sich der Künstler Beethoven spätestens seit seinen späten Zehnerjahren, nach dem Ende der Pubertät, möglicherweise auch begriffen haben. Das ist eine ganz neue gesellschaftliche, wenn man so will, sogar politische Rolle des Künstlers.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Beet­hovens Kunst besteht in der musikalischen Versinnbildlichung prak­tischer Vernunftideen“. Welche Zeugnisse gibt es dafür, dass und in welcher Weise Beethoven diese Vernunftideen von Kant und Schiller zur Kenntnis genommen hat?

Die gibt es über ein ganzes Leben in Spurenelementen verteilt, würde ich sagen. Also wenn wir bei Beethovens Jugend beginnen, dann sehen wir ihn in dem kleinen Kurfürstentum Bonn aufwachsen, regiert durch einen sehr aufgeklärten, sehr jungen Fürsten, den jüngsten Bruder des Aufklärers Josef II. Die unter dem Kurfürsten neu gegründete Bonner Universität ist auch ein Ort der frühen Kant-­Rezeption gewesen. Das liegt daran, dass junge Intellektuelle durch den Kurfürsten zum Beispiel nach Jena geschickt wurden, wo Schiller ja wirkte und Karl Leonhard Reinhold, das sind frühe Kant-Adepten und Kant-Popularisatoren. Die kamen nach Bonn zurück noch kurz vor ­Beethovens Abreise. Er wird mit denen Kontakt gehabt haben.

Einer der uns namentlich bekannt ist, ist Bartholomäus Fischenich, ein ­junger Jurist, der bei Schiller studiert hat und auch bei Reinhold in Jena. Und über diese Bonner Intellektuellenkreise, in denen Beethoven sich bewegt hat, wird er von diesem neuen Gedankengut sicherlich Kenntnis erhalten haben. Schon um diese Zeit gibt es viele Freunde ­Beethovens und auch Beethoven selbst, die in Stamm­bücher für Befreundete und Bekannte zum Beispiel Schillerverse aus Don Carlos eintragen. Das ist sehr gut dokumentiert. Schiller ist für Beethoven ein ganz wichtiges frühes Lektüreerlebnis. Man könnte mindestens sagen, dass er Kant über Schiller aus zweiter Hand in sich aufgesogen hat, zunächst einmal als Jugendlicher. So viel zur Bonner Zeit.

Der von Ihnen genannte Fischenich war sozusagen ein Konstipendiat von Schiller. Fischenich hatte in Jena studiert, dort Schillers Frau kennengelernt und ihr dann später geschrieben, dass er einen Beethoven kenne, der die Ode an die Freude von Schiller vertonen will.

Fischenich schreibt kurz nach ­Beethovens Abreise nach Wien, die ja dann ein dauerhafter Aufenthalt werden sollte, an Schillers Frau, dass hier in Bonn ein junger Komponist, der sehr vielversprechend sei und viel Sinn fürs Große und Erhabene habe, sich anschickt, tatsächlich die Ode an die Freude zu vertonen, und zwar in allen Strophen. Das hat Beethoven bekanntlich erst Jahrzehnte später gemacht. Es zeigt aber, das ­Fischenich schon Kenntnis davon hatte, sagen wir mal: von Beethovens Begeisterung für dieses Gedicht oder für ­Schiller überhaupt. Und Fischenich war mit ­Schiller so vertraut, dass es eine nachfolgende Korrespondenz gab – mit Schiller selbst und mit Schillers Frau –, und es ist fast nicht denkbar, dass Beethoven wiederum nicht durch Fischenich – neben dem es noch andere gab – Kenntnis erhalten haben sollte von dem, was in Jena um diese Zeit diskutiert wurde. Und zu diesen Diskussionsgegenständen gehörte natürlich in aller erster Linie die neue Kant’sche Moralphilosophie.

Hinzu kommt ein Brief, den ­Beethoven im September 1795 an seinen Freund Heinrich von Struve schickt und den das Beethoven-Haus mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder erworben hat, der zuvor unbekannt war. Darin schreibt Beethoven, dass er seinen Freund bedauert, in dem kalten Land – in Russland – zu sein, wo die Menschen noch so sehr unter ihrer Würde behandelt werden. Aus der gemeinsamen Bonner Zeit weiß Beethoven, dass diese Verhältnisse Struves Ansichten offenkundig widersprechen. Und Beethoven fragt sich, „wann der Zeitpunkt kommt, wo es nur Menschen geben wird“, zweifelt aber daran, dass dieser glückliche Zeitpunkt in naher Zukunft an allen Orten der Welt eintreten wird. So schreibt er: „[…] das werden wir nicht ­sehen, da werden wohl noch JahrHunderte vorübergehen.“

Dieser Brief ist eine kleine Sensation auch für die Beethoven-Biografik, weil es ein Dokument von Beethovens eigener Hand bisher in dieser Eindeutigkeit so nicht gegeben hat. Und da steht nichts Geringeres drin, als dass Beethoven mit dem Begriff der Menschenwürde von der Pike auf, könnte man sagen, vertraut ist. Er macht aus seiner eigenen Gesinnung und aus der unterstellten seines Freundes Struve, den er von Bonn her kennt, keinen Hehl. Und er zeigt auch einen bemerkenswerten Realismus in dem, was Sie zum Schluss zitiert haben. Das ist deswegen so wichtig zu sagen, weil ­Beethoven heute so oft dafür kritisiert wird, dass zum Beispiel die neunte Sinfonie, die Ode an die Freude, so einen naiven Optimismus ausstrahle, als sei im Grunde alles schon erledigt und als stehe das Glück für die Menschheit unmittelbar bevor. Hier steht es wirklich schon in dem Brief des jungen Beethoven drin: Es werden noch Jahrhunderte vergehen, bis es wirklich einmal allen Menschen gegönnt sein wird, in Menschenwürde zu leben. Man kann dieses Dokument sicherlich induktiv verlängern bis in die späten Jahre Beethovens hinein. Diese Meinung wird er schwerlich geändert haben angesichts der Zeitläufte.

Wie zeigt sich denn die Nähe ­Beethovens zu Kant und Schiller in seiner Musik?

Ein Beispiel, das man schon beim jungen Beethoven im Kontext der gebildeten Wiener Salongeselligkeit schön heranziehen kann, ist seine Klaviersonate Opus 13, die zu den ganz wenigen gehört, denen er selbst einen Titel gegeben hat. Das wirft auch Fragen auf, warum das so ist. Ich spreche jetzt nicht von Titeln wie „Mondscheinsonate“ und „­Appassionata“, das ist alles später dazugekommen und zum Teil hochgradig unsinnig. Diese Sonate Opus 13 hat er selbst als „Sonate pathétique“ bezeichnet. Und dieses Pathetische der Sonate pathétique ist meiner Meinung nach im Grunde adäquat nur zu verstehen, wenn man es auf die Tragödientheorie von Schiller bezieht, mit der – so nehme ich an – ­Beethoven in Grundzügen vertraut war. Sei es durch eigene Lektüre, sei es, dass es Salongespräch war unter den gebildeten Wiener Adligen. Das bedeutet – und da gibt es einschlägige Aufsätze von ­Schiller, die einige Jahre alt sind um diese Zeit, über das Pathetische, über das Erhabene, über das Tragische –, dass das Pathetische, also das Leiden Erregende, genau das Erhabene von Kant ist. Also moralphilosophisch gesehen das, das einen zunächst einmal zu überwältigen droht, das aber dann einen Widerstand hervorruft – so wie ich es vorhin gesagt habe – angesichts des Natur­erhabenen, indem das Subjekt seine Moralität und seine in der Vernunft begründete Moralität als Freiheit entdeckt. Dieses Werk kann eben – man sollte sich das vor diesem Hintergrund einmal anhören in Gänze – dieses niederschmetternd pathetische Leiden Erregende einerseits sehr stark vermitteln, es ist überwältigend und in dieser Hinsicht auch ergreifend erschütternd. Es kann andererseits genau die Erfahrung des Widerstands gegen dieses Pathetische, also dieses Standhaltenkönnen in eine schöne Form, eben in eine Kunstform überführen. Das heißt, diese Sonate zeigt im Grunde vor, wie die Erfahrung des pathetisch Erhabenen in einer schönen Kunstform denkbar, möglich, eben erfahrbar ist. Und ich kann mir gut vorstellen, dass so etwas dann auch Anlass war, die Aufführung dieser Sonate in einem dieser Wiener Salons so zu diskutieren, schon allein ausgelöst durch den Fragen aufwerfenden Titel.

Sie nennen in Ihrem Buch die Klaviersonaten von Beethoven „­Salonmusik“, meinen damit aber keineswegs gefällige Hintergrundmusik. Ich habe das so verstanden, als seien sie so etwas wie Impulsreferate als Auftakt zu einer anschließenden Diskussion mit einem musikalisch höchst gebildeten Publikum.

Genauso ist es. Der Ausdruck „Impulsreferat“ ist gar nicht schlecht. Wobei „Referat“ natürlich nicht ganz passt, es sind ja Kunstwerke und keine Referate, die können nichts diskursiv entwickeln, sondern sie können etwas vorführen, über das dann allerdings tatsächlich geredet werden muss. Das setze ich voraus. Der Begriff „Salonmusik“ in meinem Buch ist tatsächlich als Provokation gemeint, denn wir assoziieren mit Salonmusik natürlich eher das Gefällige, das ich nicht meine und das Beethoven auch nicht meint. Andererseits ist es Musik für den Salon. Und den Salon muss man sich vorstellen als eine Diskursveranstaltung unter Hochgebildeten. Diese Adligen, die Beethoven gewissermaßen beschäftigten und unterhielten als einen Star in ihren Salons, wussten was sie an ihm hatten. Und sie waren nicht nur musikalisch, sondern auch philosophisch, literarisch und sprachlich hochgebildet. Sie hatten ja auch alle Zeit der Welt, sich diese Bildung anzuschaffen. Und die jungen Leute – zum Teil kaum älter als Beethoven selber, so vermute ich, obwohl wir es nicht beweisen können, da wir leider über diese Salongeselligkeit herzlich wenig wissen – werden diese anspruchsvolle Beethoven’sche Musik in ihren Salons nicht einfach als Tafelmusik oder als Unterhaltungsmusik so an sich vorbeigespült haben. Dazu ist sie ja überhaupt nicht geeignet, sondern sie erfordert konzentriertes Zuhören. Das wird ihr auch zuteil geworden sein und möglicherweise mit Wiederholung: ein zweites Spiel und ein Gespräch und vielleicht ein drittes Mal spielen. Und insofern sind sie nach meiner Meinung Teil dieser hochgebildeten Salondiskursivität.

Wenn Beethoven diese Sonaten um die Zeit, als Opus 13 entstanden ist, auf den Musikalienmarkt bringt und sie dann eine öffentliche Rezension erfahren – genau um diese Zeit beginnt das öffentliche Musik-Rezensionswesen in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitschrift –, dann zeigt sich sehr deutlich, dass bei den Rezensenten, die irgendwo weit weg in Leipzig sitzen und diese Musik nur aus Noten kennen und sich selber vorspielen müssen, dass die dadurch relativ verstört sind. Der Ausdruck „bizarr“ kommt oft vor, das wird so ein Topos der Beethoven-Kritik. Während Beethoven wahrscheinlich den Leuten, mit denen er im Salon darüber reden konnte und die auch positiv neugierig waren, seine Musik viel besser verständlich machen konnte. Es ist ein sehr aufregendes Phänomen, dass mit zunehmender Entfernung von Beethoven seine Kompositionen desto mehr Irritation erzeugt zu haben scheinen.

Sie gehen in Ihrem Buch auf eine ­beachtliche Zahl an Musikwerken im Detail ein, darunter auch die Missa solemnis, deren von Beethoven kor­rigierte Stichvorlage das Beethoven-Haus mit Förderung der Kulturstiftung der Länder 2005 erworben hat. Das war keine Salonmusik, sondern nach Auskunft von Beethoven sel­ber sein bedeutendstes Werk. Hier sprechen Sie über die Religiosität ­Beethovens.

Es ist für viele Intellektuelle dieser Zeit, einschließlich Kant selbst und auch Schiller, eine Frage, wie nach dem Einsturz der Metaphysik, der Schulmeta­physik, den Kants Kritik der reinen Vernunft bewirkt hat, überhaupt mit den traditionellen oder mit den tradierten Glaubensinhalten umzugehen sei. Die Kant’sche Lösung, der sich vermutlich auch, soweit man das den Schriften entnehmen kann, Schiller anschließt und wie ich vermute auch Beethoven, teilweise jedenfalls tendenziell, besteht eben darin, aus der selbstbestimmten Moral und aus dem festen Bewusstsein des kategorischen Imperativs, den Kant ein „Faktum der Vernunft“ nennt, so etwas wie eine Schlussfolgerung zu ziehen, diese zielt dann nicht mehr auf einen Gottesbeweis ab, denn diese traditionellen Gottes­beweise hat Kant ja schon in der Kritik der reinen Vernunft zerstört, sondern auf ein moralisches Gottespostulat. Kant selbst spricht ja dann auch von seiner Moraltheologie: Wenn der Mensch moralisch handeln kann, also autonom, aus seiner eigenen Vernunft heraus, dann ist er eigentlich auch gehalten, sich so zu benehmen oder so zu handeln in der ihn umgebenden Welt, als ob daraus ein Sinn, auch ein Endzweck des Verhaltens ableitbar sein könnte. Das läuft natürlich in der Fluchtlinie auf eine vernünftige Welturheber-Gottheit hinaus. Das heißt, dieses Gottespostulat ist moralisch begründet. Bei Kant ist es tatsächlich so, dass nicht mehr die Theologie die Moral begründete, sondern es ist genau umgekehrt: Die autonome Moralität des Menschen begründet als Postulat so etwas wie Religion oder Religiosität.

Ich glaube, dass man diese Art von Religiosität auch Beethoven unterstellen kann. Es gibt nicht nur in der Bonner Zeit, sondern auch später immer noch ganz viele Indizien einer Beschäftigung mit dieser Philosophie, also mit Schiller und Goethe sowieso, aber auch mit Kant. Beethoven hat in seinen mittleren Jahren aus Schriften Kants in seinem Tagebuch exzerpiert. Das ist ein Beweis, dass er wirklich ein Buch von Kant in der Hand gehalten hat, allerdings ein Frühwerk, die allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, aber immerhin. Und in einem späten Konversationsheft findet sich von Beethovens Hand eingetragen der berühmte Beschluss aus der späten Kritik der praktischen Vernunft: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Dann schreibt er darunter „Kant“ mit drei Ausrufezeichen. Das ist um 1820, also zu einer Zeit, als er ungefähr am Credo der Missa solemnis sitzt. Das finde ich nicht ganz zufällig.

Die fünfte und die sechste Sinfonie Beethovens interpretieren Sie als komplementär, als zusammenge­hörig. Nicht nur, weil beide gleichzeitig entwickelt und gemeinsam uraufgeführt wurden. Die fünfte Sinfonie, so entwickeln Sie es in Ihrem Buch, thematisiert das Reich der Freiheit und die sechste, die Pastorale, das Reich der Natur.

Zunächst einmal hat mich der Gedanke fasziniert, dass in der Rezeption dieser beiden Sinfonien völlig getrennte Wege eingeschlagen worden sind. Jeder Hörer, jede Hörerin wird mir bestätigen können, dass man im Konzert so gut wie nie die Fünfte mit der Sechsten gepaart findet. Die Fünfte ist scheinbar eine Sinfonie, die mit der Sechsten so gut wie gar nichts zu tun hat, während beide für Beethoven, eindeutig wie selten in seinem Œuvre, ein Paar bilden. Er hat sie zusammen entworfen, er hat sie zusammen uraufgeführt, was danach übrigens nie wieder geschehen ist. Und sie verweisen insofern aufeinander, als würden sie die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft mit ihrem Bild des Naturschönen miteinander vermitteln wollen und sich sozusagen gegenseitig ein Licht aufstecken.

Die fünfte Sinfonie inszeniert den Durchbruch zu selbstbestimmtem, autonomem, vernünftigem Handeln und feiert das auch. Also es ist wirklich eigentlich eine Feier des sittlich autonomen Menschen gegen alle Widrigkeiten. Das ist glaube ich deutlich zu hören. Und die sechste Sinfonie ist nicht einfach nur ein idyllisches Naturbild à la Rousseau, das ist meiner Meinung nach ein ­Missverständnis. Die sechste Sinfonie, in der auch das Erhabene vorkommt, also das Angst erregende Gewitter, mit dem eben pathetisch erhabenen Widerstand dagegen und der Mündung in eine fast religiöse Andacht im Finale, also in einer Art von Gebet.

Die sechste Sinfonie zeichnet ein Naturbild in später Kant’scher Manier. Das Bild einer Natur, in der sinnvolles menschliches Handeln möglich ist, und zwar so, dass mit den eisernen weiterhin ablaufenden Naturgesetzen – Kausalität ist das richtige Stichwort – trotzdem die aus dem übersinnlichen Bereich begründete vernünftige moralische Freiheit des Menschen ein sinnvolles Betätigungsfeld findet. Das heißt, dieses Versöhn­liche, das die sechste Sinfonie hat, ist im Grunde erst dann richtig als Lösung zu begreifen, wenn man die Komplementarität der sechsten Sinfonie zu dieser aufregenden und auch erschütternden und begeisternden fünften Sinfonie wahrnimmt. Das ist die Idee.

Was denken Sie, haben Beethoven und seine Zeit, haben Kant, Schiller und Beethoven uns heute noch zu sagen?

Unser Gespräch hat möglicherweise den Eindruck erweckt, als würde Beethoven ein fanatischer Kant-Leser gewesen sein. Das ist überhaupt nicht vorauszusetzen. Beethoven war ja kein Philosoph. Er hat nicht einmal studiert. Er war ein autodidaktisch gebildeter Intellektueller seiner Zeit. Und wir müssten eigentlich rekonstruieren, was er von Kant verstanden haben kann oder was ihn fasziniert haben dürfte, sowie viele seiner Generationsgenossen auch. Und da gibt es so eine Art von – sagen wir mal – holzschnittartig zugespitztem Kant-Verständnis, das vor allem darauf fokussiert, dass man diese Idee der Autonomie, der moralischen Selbstbestimmung, dieses neue Menschenbild in den Vordergrund stellt. Das ist etwas, was Schiller übrigens auch an seinen Freund Körner geschrieben hat: Es ist gewiss von keinem sterblichen Menschen kein größeres Wort gesprochen worden als dieses Kant’sche „Bestimme Dich aus Dir selbst!“. Das ist das, was auch Schiller bei Kant entnommen hat.

Man kann auch noch den berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ von ­Immanuel Kant dazu nehmen mit dem berühmten Satz „Wage es. Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Dieser Appell zur moralischen und vernünftigen Selbstbestimmung, der genügt fast. Wenn man verstanden hat, dass die Moral nicht theonom, nicht ­heterenom, sondern autonom begründet ist in der Vernunft des Menschen – das ist ­die Grundlage eines völlig neuen, revolutionären, modernen Menschenbildes –, das genügt fast schon, um zu dieser Zeit als Kantianer angesprochen werden zu können. In diesem Sinne meine ich das auch. Mehr muss ­Beethoven davon nicht verstanden haben.

Und wenn wir uns heute mit seiner Musik beschäftigen, dann müssen wir daran auch nicht unbedingt denken. Aber ich glaube das, was die Musik sagt, das, womit sie uns überwältigt, das, womit sie ihren Appell-Charakter hat, den ja jeder wahrnimmt, der sich offenen Ohres und offenen Herzens mit Beethovens Musik beschäftigt, das kommt genau aus diesem Hintergrund, den Kant und Beethoven gemeinsam haben und Schiller und viele andere auch noch. Und das ist ein Appell, den manche Zeitgenossen naiv-utopisch finden, wie ich auch aus vielen Diskussionen weiß. Dagegen würde ich sagen, dass diese Appelle von Beethovens ­Musik, selbst das „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ und: „Es wird noch Jahrhunderte dauern, bis alle Menschen in Würde leben können, wir müssen daran arbeiten“, dass all diese Appelle nichts an Aktualität verloren haben.

Herr Hinrichsen, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

Das Gespräch mit Prof. Hinrichsen führte Hans-Georg Moek, Leiter Kommunikation der Kulturstiftung der Länder.