Letzte Seite eines fast vergessenen Ortes
Das Kloster Lorsch ist untergegangen – und lebt doch fort in den weitverstreuten Schätzen seiner ehemaligen Bibliothek von Hermann Schefers. Acht Jahrhunderte war es Heimat der Benediktiner, dann der Zisterzienser und der Prämonstratenser gewesen – im Zuge der Reformation 1557 ging das Kloster Lorsch schließlich unter. Nach einigen Jahrzehnten der wirtschaftlichen Nutzung wurden auch die alten Gemäuer zum Abbruch freigegeben. Nur drei klosterzeitliche Bauwerke sind übriggeblieben: ein Großteil der Mauer, weil das einstige Klosterareal dem jeweiligen Landesherrn gehörte und gegenüber der aufstrebenden und raumgreifenden Gemeinde Lorsch einer gewissen Abgrenzung bedurfte, ein Teil der Kirche, weil sie als gut durchlüfteter Speicher wertvolle Dienste zu leisten versprach, und erhalten blieb vor allem die berühmte Tor- oder Königshalle, die, zur Kapelle umfunktioniert, Teil einer barocken Domäne wurde. Zu dieser gehörten auch eine große Scheune, schön angelegte Pflanzgärten, eine Zuckerbäckerei, das Haus des Silberdieners, Remisen und, im Zentrum der Anlage, das um 1730 vollendete Kurfürstliche Haus, das dem Mainzer Erzbischof als gelegentlich aufgesuchtes Domizil diente. Aus dem ehemals abgeschlossenen Klostergelände wurde seit dem 19. Jahrhundert öffentlicher Raum, teilweise überbaut, und schließlich eine Art Stadtpark.
Seit dem frühen 19. Jahrhundert sind sich die Fachleute einig über die herausragende Bedeutung der karolingischen Torhalle für die europäische Bau- und Kunstgeschichte, strittig bleiben das genaue Alter und die Funktion. Und da sind wir schon bei einer der Lorscher Besonderheiten: Fast nichts ist hier wirklich sicher. Die heutige Archäologie spürt historischen Grabungen nach und korrigiert deren Fehler. Aber mit jeder beantworteten Frage entstehen zehn neue. So wird das Wissen um das Unwissen ein wesentliches Element des künftigen Umgangs mit diesem besonderen Geschichtsort bleiben, dessen Aura durch die aktuelle Umgestaltung wieder zum Leben erweckt werden soll.
Auch die Zehntscheune des späten 16. Jahrhunderts wurde aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und darf wieder das sein, was sie schon einmal war: ein Ort des Einfahrens von reichen Erträgen. Nur dass es hier nicht mehr um Gerste und Roggen geht, sondern um die Erträge von Archäologie und Bauforschung. Rund 1.600 Quadratmeter Schau- und Depotfläche werden künftig die Zeugnisse der materiellen Kultur eines Klosters präsentieren: Da geht es um Speisereste und Ofenkacheln ebenso wie um Bauzier und, gerade in der Frühzeit des Klosters, um Relikte und Spuren dieses ehemaligen Zentrums der Hochkultur. Hier wurde Glas produziert, Edelmetall verarbeitet, Bein und Elfenbein geschnitzt. Das Kloster war nicht nur ein Ort des Betens, sondern auch ein Ort hochspezialisierten Handwerks für allerhöchste Ansprüche in Liturgie und Repräsentation.
Über Jahrhunderte war das Kloster Lorsch die landschaftsprägende historische Kraft in den heutigen Regionen Rhein-Main und Rhein-Neckar. Die Präsenz der Abtei entlang des Rheins, von der Schweiz bis in die Nordsee, ist beeindruckend: Weit über tausend Städte und Gemeinden in sechs europäischen Staaten verdanken ihre urkundlichen Ersterwähnungen Lorscher Aufzeichnungen, die im Zusammenhang mit der Organisation einer riesigen Grundherrschaft stehen. Das Urkundenbuch des Klosters zeichnet aber auch die Geschichte des Klosters auf: Seit der Gründung durch das mächtige Geschlecht der Rupertiner besuchten etwa zwanzig Könige und Kaiser das von Karl dem Großen zum Königskloster erhobene Lorsch. 1052 kommt sogar ein Papst: Leo IX., der in der Grabkirche der ostfränkischen Karolinger einen Altar weiht. Ins 11. Jahrhundert fällt auch die bauliche Neufassung der Abtei – stünde sie noch heute, dann würde Lorsch in einem Atemzug mit Speyer, Worms und Mainz genannt werden dürfen, als eines der herausragenden und wirkmächtigsten Beispiele salischer Sakralarchitektur.
Eine entscheidende Komponente des reichen kulturellen Erbes dieses fast verlorenen Ortes, der 1991 mit der Würde eines Weltkulturdenkmals geehrt wurde, existiert noch immer: Die ehemalige Lorscher Klosterbibliothek ist an über fünfzig Standorten in über einem Dutzend Ländern auf zwei Kontinenten verteilt. Die Handschriften, die wir heute Lorsch noch zuordnen können, sind dort entstanden oder hatten in der Bibliothek des Nazariusklosters ihre Heimat. Rund dreihundert Handschriftenbände Lorscher Provenienz kennen wir noch, die meisten aus dem ersten Jahrtausend, darunter einige noch antike Stücke, die zum Kostbarsten der Buchgeschichte zählen: ein Vergil aus der Zeit um 500, ein Livius, ein Augustinus oder auch ein kleiner Stapel abgeschabter antiker Texte, die mit biblischen Texten überschrieben wurden. Trotz des wissenschaftlichen Schwerpunkts in der Kirchenväterliteratur enthielt die Lorscher Bibliothek auch weltliche Schriften von beinahe enzyklopädischem Anspruch: Von der Medizin bis zur Rechtskunde, von der zeitgenössischen Rätselliteratur bis zu den Standardwerken der sieben freien Künste umfasste die Sammlung Werke der lateinischen Klassiker ebenso wie die zeitgenössischer Autoren.
Im Vorwort des um 795 entstandenen Lorscher Arzneibuches finden wir die umfangreichste Stellungnahme zu der Frage, ob man sich mit einer heidnischen Wissenschaft wie der Heilkunde beschäftigen dürfe oder nicht. Die Antwort: Man darf. Man muss sogar. Die Begründung hierfür ist eine theologische, sie erlaubt aber auch tiefe Einblicke in Argumentationen der karolingischen Bildungsreform, die sich über Zentren wie Lorsch über große geographische Räume Beachtung zu verschaffen wusste. Ihr Ziel war das Eindringen in die Tiefen der Weisheiten der Heiligen Schrift, des Buches der Bücher, der Bibel. Die Bücherschätze der Abtei Lorsch sind, soweit bekannt, alle in öffentlichem Besitz. Ein einziges Stück, nur eine einzelne Buchseite, gelangte aus einer großen Privatsammlung jüngst wieder auf den Kunstmarkt. Es gelang, dieses einzelne Blatt zu erwerben und als einziges Fragment der einstigen Bibliothek nach Lorsch zurückzuholen. Es handelt sich um eine Pergamentseite aus einer großformatigen Bibelhandschrift, die ein Stück aus dem alttestamentarischen Buch Tobias enthält. Keine Prachthandschrift, aber ein schönes Beispiel für eine gepflegte karolingische Minuskel und eines der wenigen Beispiele biblischer Texte aus Lorsch. Das mag verwundern angesichts der Tatsache, dass das Studium der Heiligen Schrift zu den Geboten klösterlichen Lebens gehörte. Sicherlich war das der Fall, doch bei der Auflösung des Klosters, vielleicht auch erst später, als diese Bibliothek als katholische Kriegsbeute dem Papst in Rom überstellt wurde, mag es dazu gekommen sein, dass gerade biblische Handschriften und liturgische Codices ohne besonderen Buchschmuck ausgesondert und an Buchbinder veräußert wurden, die für das teure Pergament gute Preise zahlten. So gibt es Anlass zur Hoffnung, in Zukunft weitere Fragmente aus dem ehemaligen Lorscher Bestand zu finden. Auch wenn ganze Seiten wie diese stets eine Besonderheit bleiben werden.