Helden der Bühne und Schönheiten der Nacht
Reisen erweitert bekanntlich den Horizont, und für manchen Kunstsammler liegt der Ursprung seiner Leidenschaft in der Begegnung mit dem bisher Unbekannten. Im Fall des Juristen Otto Riese (1894–1977) wurde eine achtmonatige Reise, die er 1928 in erster Linie zum Studium der Rechtsanwendung in den Ländern Asiens unternahm, zum Schlüsselerlebnis. Auf dem Weg nach Japan lernte er offenbar den neu bestellten deutschen Botschafter in Tokio kennen, der ihm Adressen von vertrauenswürdigen Kunsthändlern aushändigte und ihm den Erwerb japanischer Holzschnitte ans Herz legte. Dr. Ernst Arthur Voretzsch (1886–1965) war einer der großen Asiatika-Sammler seiner Zeit; sein Nachlass befindet sich heute im Museum für Angewandte Kunst Frankfurt. Anlässlich eines Ausflugs zu den heißen Quellen von Hakone ergab sich ein Besuch bei dem damals schon betagten Kunsthändler Shiba. Nachdem Riese einige Blätter durchgesehen hatte, interessierte er sich besonders für ein Werk Torii Kiyonagas. Shiba ließ ihn gleich wissen, dass dieses Blatt leider unverkäuflich sei, da er selbst es für seine Sammlung behalten wolle. Später allerdings nannte er ihm doch einen Preis, der aber so hoch war, dass ein Kauf für Riese nicht in Frage kam. Enttäuscht verließ er den Laden, doch am nächsten Morgen ließ Shiba ihn abermals rufen, jedoch nur um ihm diverse andere Holzschnitte zu zeigen. Riese beharrte weiterhin darauf, nur an Kiyonagas Blatt interessiert zu sein. Kurz vor seiner Abreise ließ ihn schließlich der Händler noch einmal kommen und beschied ihm, er habe nachgedacht, beeindruckt von der Beharrlichkeit des jungen Sammlers. Riese selbst solle einen Preis nennen, und er werde diesen akzeptieren, da er glaube, dass Riese eher würdig sei, dieses Blatt zu besitzen als er oder irgendein reicherer Kunde. Tatsächlich war dieses Werk der erste Holzschnitt, den Riese kaufte, und seine Qualität hält heute noch mühelos das Niveau der Sammlung, die zu den besten ihrer Art weltweit gehört.
![Torii Kiyonaga, Junger Herr in Begleitung von drei Damen, 1785, 38 × 25,5 cm; Museum für Angewandte Kunst Frankfurt am Main. Aus „Modische Schönheiten der Osthauptstadt“. Das erlesene, perfekt gedruckte Blatt zeigt einen jungen Herrn von Rang und zwei vornehme Damen unter einem Schirm, den eine Dienerin hält. Die ältere der Damen, vielleicht die Mutter, führt den Jungen an der Hand. Dieses wertvolle Blatt bildet den Grundstein der Sammlung Riese, denn es ist der allererste Druck, den Otto Riese 1928 während einer Studienreise in Japan erwerben konnte](https://www.kulturstiftung.de/wp-content/uploads/2015/07/KSL_APT_4_2012_079.jpg)
Durch dieses sehr persönliche Erlebnis war Riese endgültig den japanischen Farbholzschnitten, den ukiyoe, verfallen. Doch erst viele Jahre später, vor allem in den 1960er und 70er Jahren, entfaltete seine Sammelleidenschaft ihren Höhepunkt. Was Riese auszeichnet, ist sein rigoroses Qualitätsbewusstsein. Wir finden unter den 180 Blättern seiner Sammlung nicht nur alle großen Namen des ukiyoe, sondern innerhalb des Œuvres dieser Meister richtet sich der Blick stets auf herausragende Werke, die darüber hinaus auch fast durchwegs von guter bis exzellenter Druckqualität sind und in bestmöglichem Erhaltungszustand. „Ein Blatt von überragender Qualität gibt eine größere Befriedigung als alle mittelmäßigen Blätter zusammen“, so Riese im Jahr 1967.
Was aber hat es mit dem japanischen ukiyoe-Holzschnitt auf sich, und was löste bereits vor weit über hundert Jahren eine weltweite Begeisterung für diese Drucke aus? Ukiyoe (wörtlich „die Bilder der Fließenden Welt“) waren ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Blockdruck festgehaltene Momentaufnahmen aus dem Alltag, Schauspieler- und Kurtisanenporträts, Genredarstellungen aus den Vergnügungsvierteln der Städte oder auch Ansichten berühmter Orte, vornehmlich entlang der großen Handelsstraßen. Sie wurden zunächst mit einem einzigen Holzblock in Schwarzdruck erstellt und anschließend oftmals von Hand mit wenigen Farben koloriert. Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten Künstler wie Suzuki Harunobu (1725–1770) erstmals farbige Mehrplattendrucke, womit sich der Siegeszug dieser Populärkunst beschleunigte. Die Blätter wurden unter Aufsicht eines Verlegers in Werkstätten erstellt. Die uns bekannten Namen sind die der Zeichner, deren auf dünnem Papier erstellte Entwürfe rückseitig auf Holzplatten aufgeklebt wurden – als Orientierung für den Plattenschneider. Der Drucker schuf jeweils so viele Abzüge, wie sich verkaufen ließen. So variieren die Auflagen von wenigen Dutzend Exemplaren bis hin zu Tausenden von Blättern, wobei im letzteren Fall die Druckstöcke zuweilen überarbeitet oder ausgetauscht werden mussten. Der Preis für einen Holzschnitt überstieg in der Regel kaum den eines einfachen Nudelgerichts – nach heutiger Währung vielleicht vier bis acht Euro. Entsprechend war das ukiyoe eine Kunst für ein breites bürgerliches Publikum, eine Gesellschaftsschicht, die in den gut 250 Friedensjahren der Edo-Zeit (1603–1868) zunehmend zu Wohlstand kam und allmählich zur kulturell und gesellschaftlich bestimmenden Klasse wurde. Die Drucke fungierten als Souvenirs oder einfache Sammelgegenstände, Erinnerungen an Reisen, Theater- oder Bordellbesuche, die vermutlich auch als bescheidene Geschenke ausgetauscht wurden.
Nachdem sich Japan Mitte des 19. Jahrhunderts dem internationalen Handel öffnete, gelangten derartige Holzschnitte auch in den Westen – zunächst angeblich als scheinbar minderwertiges Einwickelpapier für Tee und andere Exportgüter. Zusammen mit einer Flut oftmals sehr manierierten Kunstgewerbes, das insbesondere auf den Weltausstellungen in den europäischen Metropolen immer größeres Aufsehen erregte, standen die ukiyoe-Holzschnitte im Zentrum einer wahren Japanmode, die sich im späten 19. Jahrhundert weltweit ausbreitete. Erheblichen Einfluss erlangten die japanischen Holzschnitte damals auch auf die westliche Kunst – die Liste der ukiyoe-begeisterten Künstler und Kunstsammler liest sich wie ein Who’s who der Kunstwelt der Jahrhundertwende zwischen Boston, Paris und Berlin. Von großer Bedeutung für den Transfer der Drucke von Ost nach West waren in diesem Zusammenhang Persönlichkeiten wie der in Nagasaki aufgewachsene Hayashi Tadamasa (1853–1906), der 1878 nach Paris ging und dort rasch zum einflussreichsten Händler für japanische Kunst wurde. Auch manche Blätter der Sammlung Riese waren bereits durch seine Hände gegangen.
Zu den reizvollsten Werken der Sammlung Riese gehören die großfigurigen Schauspieler- und Kurtisanenporträts aus der Klassikergeneration des ukiyoe, namentlich Utamaro und Sharaku. Ein anderer markanter Schwerpunkt liegt auf den großen Meistern der Landschaftsdarstellung im japanischen Holzschnitt, allen voran Katsushika Hokusai (1760–1849), von dem die Sammlung neben der „Großen Welle“, dem international bekanntesten Motiv der japanischen Kunst überhaupt, auch so außerordentliche Meisterwerke wie den „Wasserfall bei Ono“ enthält. Noch nachhaltiger muss Otto Rieses Begeisterung für den großen Atmosphäriker und Lyriker unter den Landschaftern, Andô Hiroshige (1797–1858) gewesen sein, dessen Werk mit über 40 herausragenden Blättern vertreten ist. Aber auch in dieser späteren Phase des ukiyoe finden sich dramatische figürliche Szenen wie etwa Kuniyoshis „Skelettgespenst“, dessen surreale Qualität bereits deutlich auf die zweifellos stark vom edo-zeitlichen Holzschnitt inspirierte Welt des zeitgenössischen japanischen Manga verweist.
Bereits im frühen 20. Jahrhundert setzt in Europa eine systematische Erforschung des ukiyoe-Holzschnitts ein. So publizierte z.B. Julius Kurth 1905 eine fast 400 Seiten starke Monographie über Utamaro (um 1753–1806) und fünf Jahre später eine umfassende Studie über Sharaku (tätig um 1794/95). Es war die Zeit, in der die ersten großen, systematischen Sammlungen aufgebaut wurden. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass der 1894 geborene und in einem großbürgerlichen Haus in Frankfurt aufgewachsene Otto Riese bereits als Jugendlicher von dieser nun zunehmend auch wissenschaftlich untermauerten Japan-Begeisterung infiziert wurde. Sein 1913 in Lausanne begonnenes Jurastudium schloss Riese aufgrund der Kriegswirren erst 1921 mit einer Dissertation ab. Völkerrecht und internationales Recht wurden schon in seinen jungen Berufsjahren am Reichsjustizministerium zu einem Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Zu seinen besonderen Leistungen gehört ein viel beachtetes Werk zum internationalen Luftrecht. Seine Unzufriedenheit mit der politischen Entwicklung in Deutschland ließ ihn bereits vor Hitlers Machtergreifung 1932 in die Schweiz emigrieren, wo er einen Ruf seiner früheren Alma Mater, der Universität Lausanne, annahm. Erst in der Nachkriegszeit war er wieder bereit, für Deutschland tätig zu werden – so wurde er 1951 Senatspräsident am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Wenig später ging er jedoch bereits wieder ins Ausland, als deutscher Richter am Europäischen Gerichtshof der Montanunion und späteren EWG in Luxemburg. In den 1960er Jahren gründete er das Institut für Rechtsvergleichung der Universität Lausanne, dem er bis 1972 als Direktor vorstand.
Noch zu Lebzeiten Rieses war seine Sammlung im Jahre 1967 im Rahmen der „Japanischen Tage“ in Ingelheim zu sehen, und dann genau dreißig Jahre später 1997 am Museum für Ostasiatische Kunst in Köln, dem die Erben die Sammlung für rund zehn Jahre als Leihgabe zur Verfügung gestellt hatten. Unter dem launigen Titel „Helden der Bühne und Schönheiten der Nacht“ stellte das Museum für Angewandte Kunst Frankfurt 2009 die japanischen Farbholzschnitte der Sammlung Otto Riese der Frankfurter Öffentlichkeit vor. Die Ausstellung zeigte, begleitet von einem repräsentativen Katalog, die 180 Blätter im Zusammenspiel mit knapp 60 frühen ukiyoe-Holzschnitten der Sammlung Johann Georg Geyger (1921–2004), die das Museum bereits vor rund zehn Jahren erworben hatte. Diese Schau machte deutlich, dass beide Sammlungen sich nahezu perfekt ergänzen, als hätte sie eine einzige Sammlerpersönlichkeit zusammengestellt: Hier die „primitiven“ ersten hundert Jahre dieser japanischen Populärkunst ab etwa 1650, dort ein geradezu enzyklopädischer Überblick über die gesamte Geschichte und die bedeutendsten Themen und Künstler der ukiyoe, deren Genealogie gewissermaßen nahtlos an die Sammlung Geyger anschließt.
Einen Überblick über das Lebenswerk der beiden Sammlerpersönlichkeiten, nunmehr das Herzstück der Frankfurter ukiyoe-Bestände, kann man sich nach dem geglückten Ankauf der Sammlung Riese über die Museums-Website und über www.ukipedia.de verschaffen. Was Otto Rieses Holzschnitte betrifft, bietet diese vom Museum erstellte digitale Datenbank auch erstmals eine vollständige Publikation eines umfangreichen, vormals unpublizierten Katalogs des amerikanischen ukiyoe-Kenners Roger Keyes, der zusammen mit der deutschen Expertin Rose Hempel bereits in den 1960er und 70er Jahren Otto Riese als Berater zur Seite gestanden hatte. Denn natürlich erfolgte die Präsentation von 2009 nicht ohne Hintergedanken. Es sollte gezeigt werden, dass ein Erwerb der Sammlung für das Museum eine großartige Erweiterung dieses faszinierenden Gebietes innerhalb der asiatischen Bestände des Museums ermöglichen würde. Und erfreulicherweise ließen sich zahlreiche Mäzene und Freunde des Museums von diesem Gedanken überzeugen. Mit dem 2012 erfolgten Ankauf, der mit tatkräftiger Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, des Kunstgewerbevereins in Frankfurt e.V. und vieler weiterer Geldgeber möglich wurde, verfügt das Frankfurter Museum nunmehr zwar nicht über die zahlenmäßig größte, gleichwohl aber über eine der qualitätvollsten ukiyoe-Sammlungen Europas.