Schwarzweißfoto eines Musikers
ERWERBUNG BADEN-WÜRTTEMBERG

Lebensklang

Der Musikabenteurer Wolfgang Dauner und sein Nachlass gehören Stuttgart / Wolfgang Sandner

Irgendwann bei einem Auftritt in Frankfurt am Main, bis in die Siebzigerjahre noch das Mekka des Jazz in Deutschland, hat sich der Stuttgarter Wolfgang Dauner ans Klavier gesetzt und zu spielen begonnen. Nicht eine seiner eigenen exzentrischen Kompositionen, vielmehr „My Funny Valentine“ von Richard Rodgers, einen Klassiker aus dem Great American Songbook. Alle Jazzmusiker haben diesen wunderbaren Song gespielt, auch Bill Evans aus dem Quintett von Miles Davis, nach Dauners eigenem Zeugnis sein großes Vorbild. Die genial einfache Melodie, die in den ersten vier Takten nicht über den Umfang einer kleinen Terz hinauskommt, hat Dauner, der Ästhet auf seinem Instrument, genauso feinfühlig gespielt wie Bill Evans – als sei jeder Ton poliert worden, bevor er in die Klavierperlenkette eingefügt wurde. In der anschließenden Improvisation ist dann auch nicht hin und her gewuselt, kein Geschwindigkeitsrekord aufgestellt, kein Klavierbau zu Babel errichtet worden. Aber bei all den originellen Variationsformen war irgendwie spürbar, das ist nur die geschliffene Kante einer schier unbegrenzten Klangkunst.

Wolfgang Dauner, Ende Dezember 1935 in Stuttgart geboren und dort im Januar 2020 auch gestorben, ist vielleicht der Einzige unter der Handvoll wirklich großer, international und vor allem auch in Amerika angesehener Jazzmusiker aus Europa, der aus keiner musikalischen Richtung der Zeit von 1960 bis zu seinem Tod wegzudenken ist. Free Jazz? Hat er mit seinem legendären Trio als einer der Ersten in Deutschland mit aller Konsequenz zelebriert. Fusion-Music? Das „United Jazz and Rock Ensemble“ ist von ihm mit aus der Taufe gehoben worden. E-Avantgarde? Dauner wusste, was ein Ringmodulator ist und wie man mit graphischer Notation umgeht. Großes Orchester? In den Siebzigerjahren leitete er mit Hans Koller die „Free Sound & Super Brass Big Band“. Klassik? Auf einer seiner Solo-Aufnahmen spielte er Präludien von George Gershwin, Maurice Ravels „Tombeau de Couperin“ und eigene Kompositionen. Konzeptkunst? Eine Dauner-Platte Ende der Sechzigerjahre sollte Gerüche verströmen, sich so stark erhitzen, dass sie zähflüssig über den Plattenteller rinnt und sich schließlich nach dem ersten Abspielen automatisch selbst vernichten. Schließlich hat er auch das Terrain der musikalischen Kunst ganz allgemein verlassen und Beispiele seiner visuellen Begabung und seines Interesses an bildender Kunst, Computergrafik, an Tanz und Performance in vielen Beispielen demonstriert.

Zudem hat er Filmmusik geschrieben, eine Radio-Jazz-Group geleitet, ein hochmodernes Studio aufgebaut, eine Schallplattenfirma gegründet, Vorschulprogramme für das Fernsehen produziert, Werke für Sinfonieorchester und eine Oper geschrieben. Was auch immer man sich musikalisch vorstellen mag, Wolfgang Dauner hat es vermutlich gemacht, skizziert oder zumindest daran gedacht. In den frühen Sechzigerjahren, als er seine musikalische Karriere begann, glaubten Jazzmusiker erst frei zu sein, wenn sie alles Überkommene zertrümmerten. Gleichklingendes Chaos war sehr häufig das Ergebnis. Bei Wolfgang Dauner, selbst in dieser wilden Phase, hatte man stets das Gefühl, aus den Trümmern der Tradition wird etwas Neues entstehen. Frei sind eigentlich nur die, die alles können, aber nichts müssen. Wolfgang Dauner und seiner unglaub­lichen künstlerischen Produktivität verdanken wir diese Erkenntnis. Es ist nicht das Einzige, wofür man ihn preisen muss. Auf die Frage, wie er zur Musik kam, hat er einmal geantwortet: „Im Schlaf.“ Das mag kokett geklungen haben, war aber buchstäblich gemeint. Denn die Tante, die den Knaben in Stuttgart großzog, war Klavierlehrerin und gab in ihrer Wohnung Unterricht, während das Pflegekind seinen Mittagsschlaf hielt. Offenbar war das nur die Initialzündung, denn schon mit fünf hat er selbst aktiven Klavierunterricht bekommen, später an der Musikhochschule in Stuttgart zusätzlich Trompete und Komposition studiert. Dass das Geburtsdatum in jenen Vorkriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren eine viel größere Rolle als heute spielt, mag man am Werdegang vieler Jazzmusiker ablesen können. Während die noch in den Zwanzigerjahren geborenen Musiker wie Albert Mangelsdorff, Günter Boas oder Inge Brandenburg vielfach autodidaktisch oder beim Privatunterricht zur Musik fanden, gab es für die ein paar Jahre Jüngeren wie Wolfgang Dauner, Klaus Doldinger, Michael Naura schon eher die Möglichkeit eines Musikstudiums, wenn auch noch keine akademische Jazzausbildung wie für die glücklichen, nach dem Krieg geborenen Musiker, denen zahlreiche Jazzstudiengänge an deutschen und europäischen Musikakademien offen stehen, auch Eliteeinrichtungen wie das ­Berklee College of Music in Boston. Im Übrigen herrschte damals noch immer die Meinung vor, zur Absicherung müsse man einen „anständigen Beruf“ ergreifen, falls das mit dem „Hobby“ Jazzmusik nicht funktionieren sollte. So auch – mit einer kleinen Hilfe durch die besorgte Pflegemutter – bei Wolfgang Dauner, der bei der Druckmaschinenfabrik J. G. Mailänder in Stuttgart Bad Cannstadt von 1950 bis 1954 eine Lehre zum Maschinenschlosser absolvierte. Mit großen Erfolg, wie sein von der Industrie- und Handelskammer Stuttgart im März 1954 ausgestelltes Zeugnis ausweist; mit einem bemerkenswerten Nebeneffekt freilich für die spätere musikalische Laufbahn

Wer den umfangreichen Nachlass von Wolfgang Dauner durchforstet, der vor kurzem von seiner Witwe Randi Bubat auch mit Unterstützung durch die Kulturstiftung der Länder an die Württembergische Landesbibliothek übergeben wurde, kann unschwer in der akribischen Handschrift seiner zahlreich vorhandenen Autographe mit mehr als 1.200 Partiturseiten Rückschlüsse auf die Ausbildung zum Maschinenschlosser ziehen. Drei erhaltene Hefte aus der Lehrzeit zeigen präzise Arbeitsproben, etwa Konstruktion und Berechnung von Sechsecken, Kreisbogenanschlüssen, den gezeichneten Pythagoreischen Lehrsatz, Sechskanten, Pumpengestänge und Winkelheber, sorgfältig ausgeführte Berechnungen zur Herstellung von Werkzeugen. Die ziselierten Darstellungen des Handwerks wirken da wie Vorstufen und Probematerial zur schriftlichen Fixierung komplexer Partituren, etwa jener für die 1976 in Berlin urauf­geführte Oper „Der Urschrei“, den genre­übergreifenden „Psalmus spei“ für Chor und Jazzensemble oder den in ­zahlrei­chen Instrumentalfassungen vorliegenden „Trans-Tanz“. Aber auch auf diffizile Linienführungen der bild­künst­lerischen Zeichnungen Dauners lassen sich daraus Rückschlüsse ziehen.

Der Nachlass, der neben dem riesigen Komplex von handschriftlichen Partituren, weiteren Dokumenten und Hinterlassenschaften auch 900 Studiotonbänder und ein komplettes Tonstudio enthält, zeigt noch etwas anderes: Wolfgang Dauner gehörte zu einer Generation, die den Wechsel von der analogen zur digitalen Welt in einem Alter erlebte, in dem er bereits sein fünftes Lebensjahrzehnt überschritten hatte. Dennoch gehörte er zu jenen Künstlern, die die Herausforderungen völlig neuer Technologien nicht nur bewältigte. Er hat sie vielfach künstlerisch genutzt, wie man an seinem bildnerischen Werk, aber auch in seiner Musik und seiner Arbeitsweise erkennen kann. So liegen einige Werke gar nicht mehr in handschriftlicher Form vor, sind vielmehr am und mit dem Computer entstanden, etwa so gewichtige Werke wie „Second Prelude to Primal Scream“ oder „Sinfonia characteristica“.

Es gibt eine Reihe von Indizien, die den außergewöhnlichen Rang seiner Kunst bestätigen. Viele Komponisten gibt es nicht, die mit dem Jazz, aber auch mit populären Musikformen assoziiert werden, und von den Donaueschinger Musiktagen eingeladen wurden, ihr neuestes Projekt im Nukleus der zeitgenössischen Musik zu präsentieren. Noch vor wenigen Jahren hat das Brucknerorchester unter der Leitung von Dennis Russel Davies die Österreichische Erstaufführung von „Second Prelude to Primal Scream“ im Brucknerhaus Linz und im Wiener Musikvereinssaal geleitet; in einem Programm mit Bernd Alois Zimmermanns „Metamorphosen“ und den „Sketches of Spain“ von Miles Davis. Und es ist noch nicht so lange her, da hat der amerikanische Dirigent das Werk auch im Leipziger Gewandhaus vorgestellt – gemeinsam mit Werken von Rolf Liebermann, Mátyás Seiber und Johnny Dankworth. An Wertschätzung in den Kreisen der klassischen Musik hat es Wolfgang Dauner bis heute nicht gefehlt.

Mehr noch trifft das für den Jazz zu. Dauner gilt hier als eine der herausragenden Figuren in Deutschland seit den Sechzigerjahren, auf den auch die amerikanische Szene ihre Ohren ausgerichtet hat. So berief etwa das renommierte New Yorker Lincoln Center von Wynton Marsalis nicht zufällig Wolfgang Dauner im Jahr 2007 in die Jury seiner Hall of Fame des Jazz. In Europa wird Wolfgang Dauner in einem Atemzug mit dem Frankfurter Posaunisten Albert Mangelsdorff genannt, mit dem er oft gemeinsam auf der Bühne stand und mit dem er lange Jahre ein erfolgreiches Duo bildete. Mangelsdorff ist mit seiner hermetischen Kunst auf der Posaune eine singuläre Erscheinung im zeitgenössischen Jazz gewesen, ein Künstler, der mit seinem Werk in den ­realen und geistig-seelischen Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit in Deutschland kulturelle Neuorientierung ermöglichte. Wolfgang Dauner, sieben Jahre jünger, hat sich dieser Richtung angeschlossen und mit seinen vielfältigen Aktionen noch erweitert. Als Künstler hellwach in seiner Zeit, sorgte er mit seiner offenen Ästhetik und seinem Pioniergeist dafür, dass es nicht mehr so leicht erscheint, Grenzen zwischen den musikalischen Genres und künstlerischen Konzepten zu ziehen.

Aus Sicht Stuttgarts war die Übernahme des Nachlasses folgerichtig. Wolfgang Dauner war in einer Weise mit seiner Vaterstadt Stuttgart verbunden wie Albert Mangelsdorff mit der Stadt Frankfurt. Solche kulturelle Sesshaftigkeit ist durchaus nichts Selbstverständliches. Am Ende seines Lebens wurde Jacques Brel, einer der größten Interpreten des französischen Chansons, gefragt, was er in seiner Karriere am meisten bedauert habe. Die Antwort kam prompt: „Belgier zu sein.“ Ein vergleichbar sarkastisches Wort wäre Wolfgang Dauner, dem großen deutschen Jazzmusiker, nie über die Lippen gekommen. Er musste nicht mit allen sozialen Konditionen und politischen Entscheidungen hierzulande einverstanden sein, um sich so zu fühlen und zu präsentieren: international ausgerichtet, aber Stuttgarter durch und durch.

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