Kosmischer Kommunismus
In strahlenden Farben bricht das Licht durch die imposanten Rosenfenster der Kathedrale in Chartres. Mittels Bleiruten zusammengehalten, offenbaren die in Zahl und Geometrie exakt aufeinander abgestimmten, funkelnden Scheiben seit Jahrhunderten zahlreichen Gläubigen und Besuchern das eindrucksvolle Können mittelalterlicher Meisterglaser. Als Otto Freundlich 1914 sein Atelier für mehrere Wochen im Nordturm der berühmten französischen Kathedrale einrichtete, entdeckte er in den gotischen Fenstern eine Welt, die alles vereint: die angewandte und autonome Kunst, Individuum und Kosmos, Inneres und Äußeres, Abstraktion und Linie, Farbe und Licht, Sinnliches und Übersinnliches. Der 36-jährige Künstler mit jüdischen Vorfahren sah in den illuminierten Meisterwerken die Begrenzungen einer plastischen, von den Konturen der Gegenstände her konzipierten Kunst überwunden. Ihre Verwandlung von Licht und Ornament bestätigte all seine früher gefassten Ideen vom Universalen.
1878 im heute polnischen Stolp, Pommern, geboren, begann sich Otto Freundlich nach einem Studium der Kunstgeschichte in München und Berlin mit seinen Arbeiten immer stärker der Abstraktion zuzuwenden. Von der gotischen Kunst in den Bann gezogen, griff der Künstler neben der Malerei und Bildhauerei traditionelle Techniken wie das Mosaik und die Glasmalerei auf. Zwischen Paris, Hamburg, München, Berlin und Köln verbanden Freundlich persönliche Bekanntschaften, teilweise auch enge Freundschaften mit den führenden Künstlern seiner Zeit. Er war als Mitglied der Berliner Künstlervereinigung Novembergruppe aktiv, stand im Austausch mit der Gruppe Progressiver Künstler in Köln ebenso wie mit der französischen Gruppe Abstraction-Création. Leidenschaftlich setzte sich Freundlich mit den Kunstströmungen der internationalen Avantgarde auseinander, erörterte Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zu den Ideen und Formsprachen seiner Kollegen und hielt seine Gedanken in kunsttheoretisch-philosophischen Schriften fest. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zerbrachen jedoch die vielseitigen Kontakte des seit 1924 in Paris lebenden Künstlers. Als „entartet“ verfemt, wurden seine Werke aus den deutschen Museen entfernt, teilweise zerstört. Viele von ihnen gelten bis heute als verschollen. So auch seine Plastik „Großer Kopf“, die – seit 1930 in der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg – beschlagnahmt, in der Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ 1937 vorgeführt und auf dem Titelblatt des Begleitheftes 1938 abgebildet wurde. Als Jude verfolgt, konnte sich Freundlich in ein Pyrenäen-Dorf flüchten, wurde dort jedoch denunziert und 1943 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Ob er dort gleich nach seiner Ankunft ermordet wurde oder bereits auf der Zugfahrt verstarb, ließ sich nicht klären.
Bis heute prägt die Ausgrenzung und Auslöschung von Werk und Künstler die verschleppte und noch immer unzureichende Aufarbeitung von Freundlichs Œuvre. Dem will das Museum Ludwig nun entgegenwirken und präsentiert mit rund 80 Arbeiten die erste Retrospektive seit 1978. Die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Ausstellung stellt Freundlichs Gemälde, Gouachen und Skulpturen neben seine weniger bekannten Mosaike und Glasarbeiten und ergänzt diese durch historische Fotografien seiner verlorengegangenen Werke.
Otto Freundlich begriff Abstraktion als Ausdruck einer radikalen Neuerung, die weit über die Kunst hinausging: Geleitet von der Idee eines „Kosmischen Kommunismus“ strebte er mit seinen Arbeiten die Entgrenzung an, die Überschreitung von Grenzen und Formen, die Erlösung des modernen Menschen als politisch-messianisches Projekt. In seiner Bündelung von politischen, künstlerischen und utopischen Zielen stand für den Künstler jedes Element in Verbindung und Spannung mit dem anderen, war stets alles auf das Ganze bezogen. Die Kölner Schau rückt Otto Freundlichs Werk in das Zentrum der kunstgeschichtlichen Entwicklung und ermöglicht so eine umfassende, längst überfällige Auseinandersetzung mit dem eindrucksvollen Gesamtwerk dieses Ausnahmekünstlers.